Von Franck Sezelli

Wie ich mir’s gedacht habe: Da kommt Sébastien aus dem Haus, ein fieses Grinsen im Gesicht. Am liebsten würde ich ihm entgegengehen, mit der flachen Hand ausholen und ihm eine solche Ohrfeige verpassen, dass er sich wie ein Brummkreisel dreht. Woher habe ich nur solche Gedanken? Zuviel Bud Spencer gesehen? Für Gewalt habe ich doch eigentlich gar nichts übrig.

Es war aber nicht das erste Mal, dass Julia meinen Vorschlag ablehnte, einen kleinen gemütlichen Spaziergang am Rande des Waldes zu machen, der das Dörfchen umgibt. »Ach, warum gehst du nicht allein, wenn du soviel Lust zum Laufen hast? Wir waren doch erst gestern im Wald. Ich lese lieber noch ein bisschen.«

Von wegen Lesen! Nachdem ich das letzte Mal allein unterwegs war, weil sie keine Lust hatte, kam Sébastien auch aus dem Haus, als ich zurückkam. Er grüßte zwar höflich, aber diese Augen …  Wenn sein Blick mich hätte töten können, ich glaube, er hätte es getan.

Sébastien ist Schäfer, abwechselnd mit seinem Vater ist er draußen bei der Herde. Angeblich war er nur da, um meiner Frau ein paar Käse zu bringen. Julia hatte stark gerötete Wangen, als sie mir die brebis, die Schafskäse, zum Kosten gab. Die beiden kennen sich schon lange.  Früher war sie mit ihren Eltern hier, seit unserer Heirat sind auch wir jedes Jahr ein paar Wochen im kleinen Pyrenäendorf Bonac. Wenn ich allerdings viel zu arbeiten habe, fährt sie auch schon mal allein hierher.

In mir kocht es vor Wut. Ich muss mich beruhigen, sonst passiert noch etwas. Also drehe ich mich um und laufe los – rein in den dunklen Tannenwald. Überall Steine und Wurzeln, ich muss höllisch aufpassen, nicht zu stürzen. Missmutig stapfe ich immer weiter, es geht steil bergan, meine Lunge keucht.

Ich halte an, beuge mich nach unten, stütze meine Hände auf die Oberschenkel, atme heftig aus und spüre meine Schläfen pochen. Dann schaue ich mich um. Hier war ich, glaube ich, noch nie. Der steinige Weg, der sich durch die Tannenschlucht windet, kommt mir völlig unbekannt vor. Selbst die Felsspitzen, die ich oberhalb der Bäume erkennen kann, habe ich noch nie gesehen. Neben meinem Weg plätschert ein Gebirgsbach. Mein Handy zeigt mir, dass ich schon zwei Stunden gelaufen bin, einfach so – ohne Orientierung.

Da knackt es hinter mir im Unterholz. Ich fahre herum: Nichts. Oder doch, dieser Schatten, der hinter dem dicken Stamm trotz des schwachen Lichts auf dem Waldboden zu erkennen ist? Ist das ein Mann, der ein Gewehr geschultert hat? Sébastien, der mich verfolgt?  Mich beschleicht ein mulmiges Gefühl. Weiter …

Der Weg führt mich stetig bergan, immer neben dem Bach. Vielleicht kommt weiter oben eine Abzweigung, die mich wieder nach unten ins Tal führt, da muss ich nicht denselben Weg zurück nehmen. Ich schaue mich noch einmal um, aber meinen Verfolger von vorhin kann ich nicht entdecken. Vielleicht war es nur meine Einbildung. Trotzdem bin ich irgendwie unruhig. Wie der Kerl mich immer anglotzt. Julia schwärmt von seinen grauen Augen. Ich erkenne da nur Falschheit, mag ihn gar nicht. Ob Julia und er wirklich …? Rasende Eifersucht überkommt mich und drückt meinen Magen zusammen.

 

Was ist das? Eine große einladende Grotte, ich laufe die Felswände ab. Ein Gang führt ins Innere, breit genug für mich. Neugierig folge ich ihm, beleuchte mit dem Handy die Strecke vor mir. Es wird enger, der Höhlentunnel macht einen Knick, aber bleibt breit genug. Meine Schritte hallen ein wenig. Ich drehe mich herum, der Ausgang ist noch durch ein schwaches Licht zu erahnen. Als ich weitergehe, knallt mir etwas auf den Schädel. Mir wird schwarz vor Augen und ich gehe in die Knie. Ich fasse in meine Haare: zum Glück kein Blut. Aber eine dicke Beule wird das werden. Mist! Ich darf nicht nur vor meine Füßen leuchten, sondern muss auch darauf achten, dass mein Kopf die steinerne Decke nicht unsanft berührt. Vorsichtig taste ich mich weiter, die Felswände sind auf einmal nass. Ich bleibe stehen und lausche. Zuerst höre ich nur meinen Herzschlag, dann auf einmal etwas wie ein leises Pfeifen. Oder atmet da jemand? »Hallo, ist da jemand?« Ich wiederhole die Frage auf Französisch. Schließlich sind wir in Frankreich. Nur den Widerhall der eigenen Stimme höre ich. Dann aber ein Platschen, leise, aber deutlich. Das ist vor mir. Ich taste mich weiter. Auf einmal weiten sich die Wände und ich stehe am Rand einer tiefen Felsgrube in einer Höhlenkammer. Ich schaue nach oben. Von dort kommt etwas Licht. Es ist ein Spalt in der Decke dieser Felsenkammer. Ich bewege mich langsam ein Stück vorwärts, um näher heran zu kommen. Durch die schmale Öffnung kann man bis in den Himmel sehen. Ab und zu tanzen Tannenzweige vor dem Himmelsblau.

Am Rand des Lochs, an dem ich stehe, könnte man entlanglaufen, es sind breite Steine mit kleinen und größeren Lücken ringsum. Mir ist klar, dass ich aufpassen muss, die Steine sind glitschig. Aber auf der gegenüberliegenden Seite geht der Gang offenbar weiter.

Gerade als ich ein paar vorsichtige Schritte auf dem nassen Felsrand gemacht habe, schallt es dumpf hinter mir: »Allô, allô! Y a-t-il quelqu‘un là-dedans?« Ich verstehe, da ruft jemand, ob hier einer drin ist. Wer ist da am Höhleneingang? Habe ich es doch richtig gesehen, dass mich ein Mann im Wald verfolgt hat? Mit einem Gewehr … Vielleicht aber hat derjenige beobachtet, wie ich in die Höhle gegangen bin und will nur sicher gehen, dass mir hier drin nichts passiert. Aber es könnte auch Sébastien sein, der mir an den Kragen will. Ich bin ihm bei Julia im Wege. Oder sollte gar Julia ? Sie hat beim Abschied so seltsam gelächelt. Hat sie mir Sébastien hinterhergeschickt?

Ich halte den Atem an und reagiere nicht. Noch zwei Mal ruft jemand dasselbe am Höhleneingang, dann ist es still. Ich beruhige mich und rappele mich leise auf und bewege mich auf den schwarzen Spalt zu, bei dem der Gang möglicherweise weitergeht. War ich zu schnell? Jedenfalls stoße ich mir heftig an den linken Fuß, dass das ganze Bein vom Schmerz durchzuckt wird, und kann mich nicht mehr halten. Beim Versuch, mich im Fallen an den Seitenwänden abzustützen, verliere ich das Mobiltelefon aus der Hand. Im Schwung meines zu Boden stürzenden Körpers fliegt es nach vorn, knallt auf einen hervorstehenden Stein, springt kurz hoch und verschwindet. Ich höre noch ein leises »Plumps«, dann ist Ruhe.

Im schwachen Licht von oben erkenne ich, dass die Felssenke, in die mein Handy gefallen ist, höchstens zwei Meter tief ist. Vorsichtig lasse ich mich herunter. Meine Füße spüren den felsigen Boden am Grund des Loches, finden aber keinen Halt, ich knalle auf meinen Steiß und rutsche, rutsche … immer tiefer … Unter der Grubenwand gegenüber geht es weiter hinab. Es wird enger, ich werde langsamer, bis mein Kopf an etwas Hartes anschlägt. Ein stechender Schmerz, ich sehe Sterne, dann fühle ich nichts mehr …

Wo bin ich? Mein Schädel brummt, als hätte er einen Schlag abbekommen. Auf einmal wird mir bewusst: Ich habe einen Schlag bekommen! Mich durchläuft ein kalter Schauer, mein Magen krampft sich zusammen. Wie ein Blitz erhellt sich mir meine schreckliche Lage: Ich liege tief unten allein in einer Höhle. Meine Hand fährt vorsichtig zu meiner schmerzenden Schädeldecke über der Stirn. Dort klebt Blut … Ich bin verletzt, aber ich lebe … 

Von oben kommt kein Lichtschein. Offenbar ist es Nacht geworden, ich war wohl lange bewusstlos. Vielleicht habe ich eine Gehirnerschütterung? Ich schiebe mich irgendwie dorthin hoch, wo ich hinuntergerutscht bin. Aber ich kann nichts erkennen, nichts als Dunkelheit umgibt mich. 

 

In mir steigt eine fürchterliche Wut auf diesen Sébastien hoch … rasende Eifersucht … auch tiefe Traurigkeit vermischt mit Zorn, wenn ich an Julia denke. Warum nur? Wir waren doch glücklich!

 

Auf einmal erhellt ein greller Lichtblitz die Höhlenkammer. Dann ist alles wieder schwarz und ein lauter Donnerhall folgt, der von den Wänden der Höhle zurückgeworfen wird. Während das Echo noch ausklingt, folgt ein zweiter Blitz. 

Ein Gewitter … Plötzlich begleitet ein heftiges Rauschen das fast ununterbochene Donnergrollen. Die Blitze durchzucken immer wieder die sonstige Schwärze. Die Vorsprünge in den Felsen ringsum werfen dabei gespenstische Schatten. Das Rauschen wird heftiger, meine Füße werden nass. Das ist kein Blätterrauschen, das ist das Geräusch des Gewitterregens … Ein Wasserfall ergießt sich in die Höhle … Ich liege bis zur Taille im Wasser. Schnell versuche ich mich aufzurichten, dabei zuckt ein wahnsinniger Kopfschmerz durch meinen Schädel, mir wird schlecht und schwindlig. Ich kann mich nicht halten und falle in die steigende Flut und rutsche dabei wieder tiefer. Prustend komme ich wieder hoch, versuche, auf die Füße zu kommen, werde aber von einer Strömung gepackt und weggerissen. Mit Beinen und Armen im eiskalten Wasser strampelnd halte ich den Kopf oben. Der scheint mir bald zu platzen, so hämmert es unter der Schädeldecke. Beim nächsten Blitz sehe ich  einen Felsvorsprung nur noch wenige Zentimeter über meinem Kopf. Offenbar steigt das eindringende Wasser rasend schnell. Ich stoße beim Strampeln an einen spitzen Stein an der Decke, ein furchtbarer Schmerz, dann fühle ich nichts mehr … Auf dem Rücken liegend spüre ich den Felsen an der Stirn, ich atme tief ein und schlucke dabei Wasser …

Ich sinke, sehe blauen Himmel über mir, Schafe grasen friedlich auf der Weide, mir ist so gut, warme Wohligkeit umfängt mich …

 

Ein finster blickender Kerl im Schäfergewand beugt sich über mich, ein großes Messer in der Hand. »Habe ich dich endlich?«, raunt er böse. Sébastien, denke ich, jetzt ist es aus mit mir … Ich reiße die Augen auf, da steht kein Schäfer, sondern ein Mann in weißem Kittel, der mich freundlich anspricht. Ich verstehe nur »Docteur Bernard« und begreife. Hinter dem Doktor sehe ich Julia, die sich mit Tränen in den Augen auf mich wirft. »Ich habe eine solche Angst um dich gehabt, Tobias. Zwei Tage warst du weg, bis Sébastien dich endlich gefunden hat, halbtot in einer Höhle in den Bergen. Jetzt habe ich dich endlich wieder!«

 

 

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