Von Daniela Seitz

Die Spree im Gepäck fließt die Havel gemächlich dahin. Durchquert den Jungfernsee und nimmt keine Notiz von der in den Jungfernsee ragenden Terrasse südlich des Sacrower Schlosses. Dort erhebt sich ein Glockenturm und schaut herab auf das Schiff mit seinem überdachten Arkadengang. Sein halbrundes Fundament in der Havel lässt glauben, es liege nur vor Anker. Doch die Rundbogenfenster dieses Schiffes lassen das Licht herein: in das Kirchenschiff der Heilandskirche am Port von Sacrow.

Emsige Menschen bauen an ihr herum und setzen an den Glockenturm hohe Betonplatten an, machen den Campanile zum Bestandteil einer Mauer. Diese trennt das Schiff von dem Turm und niemand wagt sich mehr in das Niemandsland, welches vereinsamt Richtung West-Berlin schaut. Das Kirchenschiff wird verwüstet, um Gedanken an Gottesdienste im Keim zu ersticken: der freistehende Altartisch mutwillig zerstört. Eine Grenze, dank der Verwüstung dieser Ödnis nun auch nicht mehr durch das Schiff passierbar, vollkommen abgeriegelt.

„Sie verfällt nun schon seit zwanzig Jahren. Ohne Sanierung endet sie als Ruine!“, argumentieren Westberliner in langwierigen Verhandlungen zwischen Ost und West.

Sie sehnen sich nach dem unerreichbaren Dornröschenschloss, das in einen 100-jährigen Schlaf zu versinken scheint. Nach der architektonischen Perle, die dem Osten gehört, aber nur vom Westen zu sehen ist.

***

Der Mauerfall! Ein historischer Moment. Herbeigeführt durch eine mediale Fiktion, die die Bürgermassen mobilisierte. Eine Menschenlawine, die der Fiktion half, sichtbar, hörbar und spürbar zu werden. Doch die Kirche liegt weiterhin im Todesstreifen und wird kontrolliert.

Ein Grenzer stoppt mich, als ich mich dem Juwel meiner Jugend nähere. Es ist Anfang Dezember 1989. Sein Hund kläfft mich an. Macht klar, dass das Betreten immer noch verboten ist. Doch Weihnachten steht vor der Tür und in mir reift der Wunsch, die Christvesper mit allen dort zu feiern.

Ich kehre mit Verstärkung zurück.

„Bitte, es ist doch Weihnachten. Da können Sie doch bestimmt eine Ausnahme machen. Wir kümmern uns auch um alles selbst!“, sage ich zu einem Offizier der Grenztruppen.

Der Offizier schaut mich prüfend an. Scheint nicht überzeugt.

„Sie müssen gar nichts machen, außer uns hereinzulassen“, bettle ich fast.

„Aber nur, wenn sich jeder Besucher ausweisen kann!“, stimmt er schlussendlich zu.

Es ist der 13.12.1989. Noch zehn Tage bis Weihnachten. Wir laufen über einen Teil des geharkten Todesstreifens zwischen Mauer und Zaun, um zur Kirche zu gelangen. Der Grenzposten sagte zwar, es seien keine Minen da, aber allein das Wissen um die Bedeutung dieses Streifens, lässt niemanden kalt und uns die Strecke zügig zurücklegen. Der verwilderte Vorplatz ist schon eine Warnung. Und doch trifft es uns alle mitten ins Herz, als wir nach 28 Jahren endlich wieder eintreten.

„Schrecklich!“

„Überall fehlt der Putz an den Wänden!“

„Wo kriegen wir Ersatz für den Altar her?“

„Ach, ist das traurig“

„Das Freskengemälde hier hat überlebt!“

Von überall her höre ich die Ausrufe meiner Gruppe, die wie ich nicht auf dieses traurige Bild der Vernachlässigung und Misshandlung gefasst war. Doch in mir ist Wärme. Die Liebe zu diesem Haus Gottes. Die Gewissheit, dass die unmöglichen Begrenztheiten ein Ende haben und dieses Dornröschen hier wieder zum Leben erweckt werden kann.

„Wir werden es wieder behaglich machen!“, antworte ich.

                                                           ***

Die Glocken läuten zur Christvesper. Als wollten sie, wie die singenden Menschen, verkünden:

„Es ist für uns eine Zeit angekommen, die bringt uns eine große Freud….wandern wir, wandern wir durch die weite, weite Welt“

Familien laufen mit ihren Kindern durch den Todesstreifen. Drängen sich schon eine halbe Stunde vor dem Gottesdienst bis hinaus auf den Vorplatz, kommen in Booten vom anderen Ufer, um den Gottesdienst beizuwohnen. Stehen rundherum unter den überdachten Säulengang neben den festlich geschmückten Tannenbaum. Immer die Blicke der Soldaten auf den besetzten Wachposten im Nacken.

Der Gottesdienst beginnt. Kerzen werden entzündet.

„Hosianna hosianna dem Sohne Davids“, singt die Gemeinde, während meine Stimme immer wieder vor Rührung bricht und ich neu ansetzen muss.

Auch der Lesung des Evangeliums merkt man dieses besondere Weihnachten an:

„….So zog auch Josef von der Stadt Nazareth“, ein Schniefen unterbricht, „in Galiläa hinauf nach Judäa in die Stadt Davids, die Bethlehem heißt…“

„…Sie fürchten sich sehr, der Engel aber sagte zu ihnen: Fürchtet euch nicht, denn ich verkünde“, ein Schweigen mit Schnappatmung verrät den Kampf um Beherrschung, “ich verkünde euch“, eine Träne wird weggewischt, “ich verkünde euch eine große Freude, die dem ganzen Volk“, ein tiefer Schluchzer begleitet, „die dem ganzen Volk zu teil werden soll….“

Es ist der eindrucksvollste Gottesdienst, den ich erleben durfte. Das schönste Weihnachten, vielleicht sogar die herzerwärmenste Zeit, die ich gerade erlebe! Meine Frau lehnt ihren Kopf auf meine Schulter.

Ich nehme sie in den Arm. Ziehe sie ganz nah an mich heran. Will diesen Moment für immer einfangen. Ihn einmeißeln in die Mauern der Heilandkirche. Mein Herz läuft vor Freude über und ich mache mir Luft und rufe allen zu:

„Fröhliche Weihnachten!“

V2