Von Gabriele Sodeur

Viele Schläuche und Kabel. Monitore, auf denen flimmernde Kurven zu sehen sind. Lämpchen, die in gleichmäßigem Rhythmus aufleuchten. Apparate, die Piepstöne von sich geben.  

Ursulas Atem klingt, verstärkt durch die Sauerstoffmaske, wie das Röcheln einer Kaffeemaschine.

„Ich zermartere mir das Hirn, wie das nur passieren konnte. Das hat sie bestimmt nicht extra gemacht. Doch nicht meine Frau! Das wollte sie bestimmt nicht!“ 

„Ich kann‘s mir auch nicht vorstellen, obwohl … die Spur des Wagens führte in der Kurve direkt geradeaus den Abhang hinunter in den Acker. Aber wahrscheinlich ist sie bei der Schneeglätte einfach zu schnell gefahren, sonst hätte sich das Auto nicht mehrmals überschlagen.“

Er legt seinem Schwager die Hand auf die Schulter und drückt unbeholfen dessen Arm. 

„Außerdem war sie nicht angeschnallt, wobei das sogar ihr Glück war, denn dann wäre sie womöglich noch im Auto verbrannt.“ 

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„Das hab ich nicht gewollt, das hab ich nicht gewollt“, Morsa* äfft Felicitas* nach, „du kannst doch dieser Urschel da nicht immer nur diese Worte in den Mund legen und sie schon wieder davonkommen lassen.“

„Da kann ich ja nur lachen, was kann ich dafür, dass ich immer schneller bin als du?“

„Dir wird dein schadenfröhliches Lachen schon noch vergehn, Felicitas, ein Mensch kann nicht immer nur Glück haben. Irgendwann ist auch mal Aus-Äpfel-Amen! Außerdem ist in diesem Fall hier überhaupt noch nix entschieden!“

„Hör mal, als sie zwei Jahre alt war, ist sie mit ihren winzigen Füßchen ihrem Vater auf den Fuß getreten und dafür wolltest du ihr damals schon die Höchststrafe verpassen. Ihr Vater hatte feste Wanderschuhe an, Größe 48. Der hat davon überhaupt nichts gespürt.

,Wollte nit, Papa‘, hatte Urselchen gesagt. Du kannst doch ein kleines Kind für so ein ,Vergehen ̛  (Felicitas macht dabei mit den Fingern Gänsefüßchen in die Luft) nicht mit dem Tode bestrafen, Morsa*.“

„Äh, d… a“, stottert die, „da gab es später schon noch schwerwiegendere Vorkomnisse.“                                                       

*

1959, Kindererholungsheim Sonnenwinkel. 

Treppenhaus, oberstes Stockwerk. Am Geländer die achtjährige Ursel. Sie schaut das Treppenauge  hinab und kann bis ganz unten sehen: da steht jemand. Von oben sieht sie nur eine Kurzhaarfrisur. Ein Bub aus dem ersten Stock. Wenn sie gut zielt, könnte sie dem auf den Kopf spucken. Er ist direkt unter ihr. Sie denkt an eine Zitrone, sammelt Spucke im Mund und „Platsch“. Sie hört bis oben hin, wie die Spucke auf dem Steinboden auftrifft und schon wirbelt der Kopf nach oben: es ist eine Tante! Tante Helga, die immer mit ihnen turnt. Tante Helga, die abends auf jedem Stockwerk immer so schön Gitarre spielt. Ursel dreht ihren Kopf weg, bleibt angewurzelt stehen. Sie hört, wie die Tante zwei Stufen auf einmal nimmt und die drei Etagen hochstürmt. Als sie oben ankommt, steht Ursel immer noch da, als hätte sie einen Stock verschluckt. Tante Helga hat nur einen Pferdeschwanz wegwippen sehen, weiß nicht, von wem.

„Geh und hol alle zusammen, die einen Pferdeschwanz haben.“ – Galgenfrist!                                                    

Ursel geht von Zimmer zu Zimmer und ruft alle zusammen, die einen Pferdeschwanz haben. 

Es sind fünf. 

„Wer von Euch wollte mir da eben auf den Kopf spucken?“ – Schweigen! Ursel steht ganz vorn. „Ich“, flüstert sie und senkt den Kopf. Alle anderen dürfen wieder auf ihr Zimmer gehen.

Was Tante Helga zu ihr gesagt hat, ist nicht bekannt, aber an diesem Abend hat sie überall Gitarre gespielt, nur nicht im dritten Stock und alle Mädchen wussten, dass es Ursels Schuld war! 

Am nächsten Morgen haben sie im Waschraum einen Stuhl hingestellt, Ursel darauf gezerrt, und dann ist jedes der Mädchen an ihr vorbeigegangen und hat ihr eine Ohrfeige gegeben. Es waren elf!

Tapfer hat Ursel die Tränen runtergeschluckt.

„Das bringst du heute noch in Ordnung, sonst sitzt du morgen früh wieder hier auf dem Stuhl!“

Als Ursel nachmittags auf einem Spaziergang ist, pflückt sie für Tante Helga einen Blumenstrauß und bringt ihn ihr. „Es  tut mir leid, gestern das. Das hab ich nicht gewollt.“

An diesem Abend spielt Tante Helga wieder Gitarre, auch auf der dritten Etage: 

Lueget von Bergen und Tal…

*

„Na und? Ist die Ursel da gestorben?“

„Wäre ja noch schöner, wenn sie dafür mit dem Tod bestraft worden wäre. Für eine Achtjährige war das schon Strafe genug.“ 

„Ohrfeigen  …, zum Teufel, die waren doch nicht der Rede wert, die vergisst man …“

„Da liegst du aber sowas von daneben, die haben ganz schön weh getan und daran denkt man sein Leben lang“.

„Wenn man vorher nicht gestorben ist“, murmelt Morsa vor sich hin.  

*

1966, Zug.

„Jetzt zeig mir doch mal genau, wo Du wohnst, Uschi.“ 

Thomas, den Kopf schief gelegt, schaut die 15-Jährige mit einem spitzbübischen Lächeln an. Sie gefällt ihm, seine Zugbekanntschaft. Uschi ist mit ihrem Bruder zusammen mit diesem Jugendsonderzug aus England gekommen. So wie er. 

Sie haben sich vorhin im Abteil kennengelernt und nun stehen beide im Vorraum zwischen den Zugwaggons, wo an der Wand eine große Deutschlandkarte hängt. Uschi sucht auf der Karte nach ihrem Wohnort. 

„Das ist  vollkommen in der Pampa, ganz in der Nähe von der tschechischen Grenze.“ 

Sie will genauer hinschauen, bückt sich und lehnt sich dabei gegen die Zugtüre …

Die springt plötzlich mit einem Ruck auf und Uschi verliert den Halt. Bevor sie aber rückwärts aus dem Zug fallen kann, erwischt sie gerade noch einen Bügel und hält sich daran fest. Die Zugtüre fliegt nach hinten auf und schlägt gegen den Zug. 

Hinter Thomas stehen Leute, wie zu Salzsäulen erstarrt, und kriegen ihren Mund nicht mehr zu, geschweige denn die Zugtüre. Als einziger versucht Thomas das jetzt: mit einem Satz ist er bei Uschi und zieht sie von der Türöffnung weg, hält sich nun selbst an dem Bügel fest, beugt sich aus dem Zug hinaus und  bekommt nach einigen Versuchen den Türgriff zu fassen. Mit größter Anstrengung schafft er es, die Türe gegen den Druck des Fahrtwindes zu sich heranzuziehen und zu schließen. 

Ihm stehen Schweißperlen auf der Stirn, die langsam ihren Weg hinunter, die Schläfen entlang, in den Rollkragen seines Pullovers finden. 

Zurück im Abteil, fragt Uschis Bruder den leichenblassen Thomas, was ihm denn geschehen sei,  während Uschi neben ihm nicht aufhört zu wimmern:

„Das wollt ich nicht, das wollt ich doch nicht.“

Inzwischen legt Thomas einen gewissen Galgenhumor an den Tag:

„Versprich mir, dass du sowas nie wieder machst, Uschi! Jedenfalls nicht, wenn ich dabei bin.“ 

Das Versprechen hat sie gehalten. Sie sind sich in ihrem Leben nie wieder begegnet.   

*

„Dumm von mir damals, diese Chance zu verpassen. Ich hätte es  in diesem Fall wirklich schaffen können, Uschi ihre Unvorsichtigkeit mit dem Leben bezahlen zu lassen. Oder vielleicht mit dem von Thomas? Das wäre auch eine schöne Strafe gewesen, auch für sie .“ 

„Ach Morsa, Uschi hatte eben Glück und mich! Ich war wieder mal schneller als du. Wie immer.“  

„Wie immer?“ Morsa schüttelt den Kopf : „Mors certa, hora incerta.“**                        

*

1970, Badezimmer.

Was gibt es Schöneres, als in der Wanne zu liegen, mit so viel Schaum darin, dass nur noch die Brustspitzen rausschauen und der Kopf ? Wenn der Schaumberg droht, in sich zusammenzufallen, lässt man wieder etwas Wasser nachlaufen und schon plustert er sich wieder auf. Ulla liebte das.

Aber heute hat sie keine Zeit für solche Kinkerlitzchen. Sie hat ein Rendezvous! Natürlich ist sie mal wieder spät dran und hat gerade erst ihre Haare gewaschen. 

Zu blöd“, denkt sie, „in einer Viertelstunde werd ich schon abgeholt, das schaff ich gar nicht mehr. Die Haare sind nie im Leben bis dahin trocken. Wo ist der Föhn? Ich fang jetzt schon mal an, sie zu trocknen, dann bin ich schneller fertig. Ah, da ist  ja der olle Föhn. Bereits in der Steckdose. So, Handtuch her, rubbeln, Föhn an. – Huch, kribbelt der aber in der Hand. Oje, diese Kribbelei hört ja gar nicht mehr auf. So als ob tausend Ameisen in meiner Hand eine wilde Party veranstalten. Ob ich den Föhn doch lieber wieder ausmache? Nicht, dass der mir noch kaputt geht. Das will ich auf gar keinen Fall …“ 

*  

„Der Föhn kaputt geht. Dass ich nicht lache! Das wäre ja wohl das geringste Übel gewesen.“ 

„Mein Gott, was hab ich da mit dem Föhn mitgezittert, damit der durchhält. Hatte die Ulla es doch tatsächlich noch nicht gerafft, dass man im Physikunterricht nicht nur für die Schule, sondern vor allem fürs Leben lernt.“

„Jetzt sei mal nicht so schulmeisterlich, Felicitas, fast wäre dadurch mein dreckiges Lachen, wie du es immer nennst, das letzte gewesen, was Ulla noch zu hören bekommen hätte, bevor sie …“ 

„Aber eben auch nur fast!“

„Ja, leider. Neunzehn und keine Ahnung von Physik haben, darauf steht eigentlich schon die Todesstrafe!“

**

Als die Polizisten zum Unfallort kamen, rannten sie sofort los, um eventuelle Insassen aus dem umgekippten Wagen zu retten, aber sie fanden niemanden mehr in dem Auto vor. Sie hörten beide nur sowas wie ein Lachen. Kurz darauf ist der Wagen explodiert.

„Zwei Polizisten haben das ausgesagt. Allerdings waren sie sich nicht einig, ob das ein fröhliches oder eher schadenfrohes Lachen gewesen ist. Ein Stück vom Auto entfernt fanden sie dann unsere Ursula, die regungslos …“

„Ach Schwager, erspar mir die Details.“ Ursulas Mann winkt müde ab: „Sie hatte immer so verrückte Ideen. Das war sicher dieser Lachsack, den sie kaufen wollte.“ 

„Lachsack? Was denn für ein Lachsack?“

*

Lachsack? Ursula sieht ihren Mann und Bruder ganz verschwommen durch den dichten Wimpernkranz ihrer schmal sich öffnenden Augen – aber es gab doch nirgends mehr einen … 

 

*    „Felicitas“ – lat., für Glück und Erfolg und  „Morsa“ – nach lat. mors, für die weibl. Personifikation des Todes

      (reißt die Menschen aus ihrer Lebensbahn, wie es ihr beliebt)                                                                                             

**   „Der Tod ist gewiss, die Stunde ungewiss“ (Matthias Claudius)

                                                                  

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