Felicitas Jacobs

Stifte glitten lautlos über die Seiten von Collegeblöcken, nur beim Umblättern raschelte Papier. Hin und wieder vernahm Friederike das leise Klacken von abgestellten Trinkgefäßen auf den Seminartischen. Sie selber hatte ihre Thermoskanne zu Hause stehen lassen. Wie dumm. Dabei war sie extra dreißig Minuten früher war sie vor Ort gewesen und hatte auf den Beginn der Klausur gewartet, die jetzt hier stattfand, der Grund für ihre schlaflose Nacht. Die Klausur des wichtigsten, letzten Semesters vor den finalen Prüfungen.          

Sie schob einmal mehr die üblichen Utensilien auf dem Tisch in eine Ordnung:

Federmäppchen rechts, Taschentücher daneben. Ein Schal hing über der Stuhllehne und wärmte ihren Rücken, der Rucksack stand rechts unten. Ihre Haare hatte sie so straff hochgebunden, dass kein Härchen sie stören würde. Gelegentlich hörte sie von den Anderen Husten, Räuspern, Nase putzen. Fast alle hatten Süßigkeiten an ihrem Platz, Gummibärchen, Kekse, Energieriegel.

Und kleine Schornsteinfeger aus Schokolade. Sascha hatte jedem einen kleinen Schornsteinfeger auf den Platz gestellt. Sascha, der Nette. Sascha, der auch diese Prüfung wie alle bisherigen erfolgreich bestehen würde. Sie sah, wie er schrieb und dabei mit der Zunge die Lippen streifte, als lese er seine eigenen Zeilen ohne Unterlass. Wie konnte man nur so viel und pausenlos schreiben? Friederike hatte ihm den Schornsteinfeger lächelnd zurückgegeben.

„Laktoseintoleranz, bin gegen Milchpulver allergisch“, flüsterte sie. „Ach stimmt, das hatte ich vergessen,“ raunte er und zwinkerte ihr zu.

Sie musterte ihn. Woher wusste er von ihrer Allergie? Hatte sie das schon einmal erwähnt?  

Sie hob den Kopf. Draußen flog der Winter an großen Fenstern vorbei, trieb dunkelgrau schillernde Wolkenberge vor sich her. Sie senkte den Kopf über ihren Block, den sie extra neu gekauft hatte. Frisches, unverbrauchtes Papier ohne jeden Makel. Kein Kaffeefleck, kein Fettabdruck vom Butterbrot. Friederike ließ den Blick über die Gesichter der anderen schweifen.

Fast alle schrieben konzentriert und blickten zwischendurch in eine unbestimmte Ferne. Sie suchten dort Sätze und Worte, schrieben weiter, strichen durch, korrigierten und schauten wieder irgendwohin nach oben. Eine halbe Stunde war vergangen, und wie immer nach, dem anfänglichen Schwung entstand im Pulk der Schreibenden das erste zögernde Innehalten.

Friederike senkte den Kopf und starrte auf die Sätze, die sie bisher notiert hatte.

Die Sätze starrten zurück.

Es waren nur drei – eher ein Gerippe von Worten. Vielleicht sollte sie die Methode der Anderen probieren? Sie richtete den Blick in die Ferne, suchte dort nach Erinnerungen an all die vielen Texte, die sie gelesen hatte, an deren Titel, an eigene Ideen dazu – an irgendwas. Doch sie sah nur den Fernsehturm, dessen Spitze die dichte Wolkendecke anstupste.

Sie steckte sich ein Bonbon in den Mund, lutschte daran und spuckte es in ihr Taschentuch zurück. Fenchel, Mist. So war das also. Kaffeekanne vergessen. Falsche Bonbons eingepackt. Unverträgliche Schornsteinfeger. Das konnte nicht gutgehen.

Drei Sätze. Sie fuhr mit den Fingern über die dunkelblaue Tinte der Wörter. Es wurden einfach nicht mehr. Friederike wischte sich mit dem Handrücken Schweiß von der Stirn. Ein Semester hatte sie schon wiederholt, eine zweite Chance würde sie nicht bekommen.

Sie sah zur Uhr und erschrak.

Wie konnten bloß sechzig Minuten vergangen sein? Sie hatte noch eine halbe Stunde Zeit. Dreißig Minuten. Zeit, die eine Serien-Episode dauerte, ein Bad oder eine Massage. Ein Pizzateig im Ofen brauchte. Was noch brauchte dreißig Minuten. Musik? Nein, Musik dauerte länger. Musik hörte sie stundenlang und vergaß alles darüber. Dreißig Minuten. Sie hatte noch nie dreißig Minuten lang ohne Unterlass gelesen oder geschrieben. Zumindest konnte sie sich nicht daran erinnern.

Sie las erneut die Aufgabe. Beurteilen Sie. Erörtern Sie. Skizzieren Sie. Wenden Sie an. Konzeptionieren Sie. Entscheiden Sie. Schreiben Sie. SCHREIBEN! SIE!

Friederike entfuhr ein „Autsch“.  Sie zog schnell die Hand vom Mund, wo sie an ihrem Daumennagel gekaut hatte, der jetzt eingerissen war. Sie wickelte ein Taschentuch um das schnell schmerzende Nagelbett, schloss die Augen, zählte bis zehn. Dann riss sie die Seite mit den drei Sätzen aus dem Block, faltete sie zusammen und legte sie vor sich auf den Tisch. Saschas Rücken schob sich wie eine Schlange nach oben, er sah sie an und schüttelte fragend den Kopf. Wie kam es, dass er sie bemerkte? Er schrieb doch die ganze Zeit?

Friederike sah nach vorne zum Pult, an dem der Dozent in sein Tablet vertieft saß.

Ihr Blatt Papier mit drei Sätzen abzugeben bedeutete das sinnlose Ende von zwei Jahren, die sie in dieses Fachschulstudium gesteckt hatte. Irgendwo scharrte ein Stuhl, jemand öffnete eins der Fenster und schlich zurück. Sie hörte das leise Zischen einer Thermoskanne, deren Luft entwich, als der Deckel aufgeschraubt wurde. Plötzlich roch es nach Ingwer und Zitrone.

Und dann geschah alles wie von selbst.

Friederike stand auf, griff Mantel, Schal und Tasche. Sie verließ den Raum, ohne sich umzudrehen.

 

Eine Woche später

sah Friederike auf dem Weg zum Bus eine Anzeige am Fenster eines Back Shops: Aushilfe gesucht.

 

Ein Jahr später

arbeitete Friederike immer noch in diesem Back Shop, als Sascha plötzlich dastand und eine Brötchentüte vor ihre Kasse legte. Dazu packte er einen kleinen Schornsteinfeger aus Schokolade.

 

Zwei Jahre später

baute sie mit Sascha zusammen die Ikea Küche LINDHOLM in der 2-Zimmerwohnung ein, die sie in der Turmstraße in Moabit gefunden hatten.

 

Drei Jahre später

trat sie eine Lehrstelle zur Ausbildung als Friseurin an.

 

Vier Jahre später

wurde sie schwanger, unterbrach die Ausbildung und ging in Elternzeit, während Sascha die Leitung einer Kindertagesstätte übernahm und sie in eine größere Wohnung zogen, nur drei Straßen weiter.

 

Fünf Jahre später

fanden sie einen Kitaplatz für ihren Sohn. Friederike setzte ihre Ausbildung fort.

 

Sechs Jahre später

trennten sich Sascha und Friederike.

 

Sieben Jahre später

bewältigte sie im zweiten Anlauf die schriftliche Gesellen Prüfung als Friseurin

  • die praktische hatte sie schon beim ersten Mal mit Auszeichnung bestanden –

 und begann in dem angesagten Friseurladen Haarige Aussichten zu arbeiten.

 

Acht Jahre später

verliebte sie sich in einen Kunden, einen Spanier.

 

Neun Jahre später

zog sie mit ihm und ihrem kleinen Sohn nach Andalusien in eine mittelgroße Stadt.

 

Zehn Jahre später

eröffnete sie dort einen Friseursalon und wurde schwanger.

 

Zwanzig Jahre später….

Dreißig Jahre später….

Vierzig Jahre später…

Ein halbes Jahrhundert später…

 

Später.