Von Marianne Apfelstedt

Oh Mann, das war knapp! Es ist idiotisch wie ein kopfloses Huhn durch die Stadt zu rennen. Ich atme tief ein, bis hinunter zum Zwerchfell. Beim Ausatmen strömt die Luft, einem trägen Fluss gleich, durch die leicht geöffneten Lippen nach draußen. Nach weiteren konzentrierten Atemzügen merke ich, wie mein flatterndes Herz sich dem Atemrhythmus anpasst. Ich hasse Lügen. Wann habe ich mich bewusst gegen die Wahrheit entschieden? Jetzt stand ich, Felix Flooser, wie ein Häufchen Elend an die kalte Mauer gelehnt.

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„Hey du Zwerg, ist das ein Drache? Meiner ist selbst gebaut, hab ich mit Paps gebastelt. Du Mamasöhnchen hast nur einen gekauften“, Henry grinste mich fies an. Ich drehte ihm den Rücken zu und war dabei den Drachen zusammen zu falten, als ich einen Stoß bekam. Dooferweise knickten die Plastikstäbe ab und ich schürfte mir den Unterarm auf. Ich drehte mich um, lief einen Schritt, dabei verhedderte ich mich in Schnur und Schweif des Adlerdrachens. Die ganzen Jungs der Grundschule lachten, als mir die Lehrerin aufhalf. Um nicht loszuheulen, bohrte ich meine Fingernägel in die Handteller.

 

Im Gymnasium war ich der Streber, Einserschüler mit langen Armen und Beinen, die ein Eigenleben führten. Sport waren eine Ausnahme, da war ich das Schlußlicht. Ständig hatte ich blaue Flecken, weil ich stolperte oder mit den schlaksigen Gliedmaßen an Pulte und Türrahmen stieß. Da war ich eine echte Niete. Die großen Hände fingen keinen Ball und trotz der langen Beine war ich eine Schnecke. Ballspiele waren für mich der pure Horror. „Hey Brillenschlange! Bleib am besten weit weg vom Ball, dann gewinnen wir“, war ein typischer Spruch beim Handball, von unserem Sportass Henry. Bei nächster Gelegenheit schnappte ich mir den Ball, als ich zum Wurf ansetzte, stolperte ich über ein fremdes Bein. Als ich mich aufrappelte, explodierte ein stechender Schmerz im Knöchel. „Hab doch gesagt, halt dich vom Ball fern“, raunte mir Henry im Vorbeihumpeln zu.

 

Einige Tage später hatte mein Fahrrad am Hinterreifen einen Platten, schon der dritte in den letzten Wochen. Mühsam, mit dem Hinterrad in der Luft trat ich meinen Heimweg an. „Pech Fixmob, schon wieder nen Platten“, Henry stand feixend am Schultor. Ich krallte die Nägel in Sattel und Lenkstange, merkte, wie ich mich rot färbte, und schlich an ihm vorbei. Zu Hause rutschte mir eine Flasche Saft aus den Händen, eine der Glasscherben am Boden war besonders scharf. Beim Einsammeln schnitt ich mir in den Finger, ich wischte sie sauber und bewahrte sie in meiner Schultasche. Bei nächster Gelegenheit, als ich allein bei den Rädern war, steckte ich die Scherbe möglichst weit in den Hinterreifen von Henrys Rad.

 

In der Pubertät schmückten eine Zahnspange mit Außenbogen und jede Menge Hautunreinheiten mein Gesicht, was die Liste der Spitznamen erweiterte. „Klammeraffe lass mich mal vor dich in die Schlange, meine Kumpels warten, ein Streusel hat es ja nicht eilig“, Stefan drängte sich vor mich in die Essenschlange, als ich ihm auswich, trat ich meinem Hintermann auf den Fuß. Es war Henry, der sich prompt mit einer Kopfnuss bedankte.

 

Seit der Scheidung meiner Eltern lebte ich bei Oma Else, sie war mein einziger Lichtblick dieser Tage. „Komm rein mein Junge, heute gibt es Dampfnudeln, mit extra Vanillesoße“, strahlend drückte sie mich an ihre Kittelschürze und ihr Duft nach Lavendelseife und Mehlspeise mit flüssiger Butter verdrängte den Schulmief. Jetzt überragte ich meine Großmutter schon um einen ganzen Kopf, trotzdem wünschte ich mir ihre anpackende, kraftvolle Art. „Morgen gibt es Rhabarberkuchen zum Geburtstag, ich habe heute die ersten Stangen frisch vom Beet geerntet. Bringst du mir Sahne mit, wenn du zum Sportunterricht gehst?“ „Na klar. Du der neue Sportlehrer ist echt cool. Keine Ballspiele mehr, dafür heute wieder Zirkeltraining, schau mal ich bekomm schon Muskeln in den Armen“, stolz zeigte ich Oma meinen Bizeps. „Sag ich doch Felix, Spargel ade! Deine kreativen Mitschüler müssen sich wieder nen neuen Spitznamen ausdenken“, lachend schlenderten wir in die gemütliche Küche. In ihrer Nähe lachte ich über die verhassten Spitznamen.

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Diese unbeschwerte Zeit endete schneller als gedacht. Einige Wochen später wurde Oma kurzatmig, sie erkrankte an einer ausgeprägten Bronchitis. Die verordneten Antibiotika wirkten nicht, deshalb suchten wir einen Lungenspezialisten auf. Mit ihrem Hyundai fuhr ich sie in die Zusamklinik. Nach einem Untersuchungsmarathon mit Blutentname, Röntgen und letztendlich Computertomographie stand das Ergebnis fest. Omas rechter Lungenflügel war umringt von mehreren Bronchialkarzinomen. Meine lebensfrohe Großmutter wurde von Tag zu Tag stiller und blasser. Meist verbrachte sie den Tag auf dem Sofa mit Blick auf ihre Rosen. „Komm, wir setzen uns auf das Bänkchen im Garten“, sie schaute auf, vom Fotoalbum in ihrem Schoß und blinzelte. „Nein Felix ich werde mich lieber aufs Sofa legen, bin etwas müde“, sie legt den Kopf mit den aschgrauen Locken auf das Kissen. Als ich sie mit der weichen Häkeldecke zudeckte, war sie schon im Land der Träume.

 

Einige Wochen später, nachts wurden die Schmerzen unerträglich, ich hatte keine andere Wahl und fuhr sie ins Krankenhaus. Am nächsten Nachmittag besuchte ich sie. „Schau nicht so traurig Felix. Ich freue mich darauf, deinen Opa wieder zu sehen er wartet schon auf mich. Eins versprich mir, lass dich nicht unterkriegen. Nach der Schule suchst du dir eine passende Universität, ich habe alles geordnet, du bekommst das Häuschen. Mach mich stolz und studiere in München. Du wirst sehen, das Glück kommt zu dir.“ Ihre Hand lag in meiner, zart und klein. In der darauf folgenden Nacht schlief sie für immer ein. Die nächsten Monate bis zu den Abiturprüfungen verbrachte ich allein im Häuschen. Es gehörte jetzt mir. Jedes Mal wenn ich am Küchentisch saß, dachte ich, gleich kommt Oma mit einem Korb Karotten aus dem Garten herein. Bis mir wieder einfiel, dass sie nie mehr Gemüse ernten würde. Mir fehlte ihr Humor.

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Endlich hatte ich Glück, Omas Häuschen vermietete ich möbliert an eine Biologin. In München schrieb ich mich für einen Bachelorstudiengang Ingenieurwissenschaften an der Technischen Universität ein. Durch einen Aushang an der Uni fand ich ein winziges, bezahlbares Zimmer. Am Tag vor Semesterbeginn verpasste mir ein Frisör in der City einen aktuellen, Kurzhaarschnitt. Kordhosen und Hoodies tauschte ich gegen modische Jeans und Hemden. Seit einigen Wochen trug ich Kontaktlinsen, mit denen ich gut zurechtkam. Fertig war Felix der Student. Beim Blick in den Spiegel stellte ich fest, dass ich wie Phönix aus der Asche aufgetaucht war. An der Universität lebte ich mich schnell ein, die Vorlesungen und Tutorien strukturierten den Tagesablauf. Immer wenn ich auf meine Herkunft angesprochen wurde, wechselte ich das Thema. So legte ich mir mit der Zeit aus Halbwahrheiten und Lügen eine neue Vergangenheit zu. Aus Memmingen wurde Starnberg, aus Omas Häuschen eine Villa und liebevolle tote Eltern.

 

„Hi Felix. Hast du schon die Blonde da drüben gesehen. Wow, sieht die klasse aus, ist ein Erstsemester. Auf welchem Internat warst du nochmal?“

 

„Hab öfter gewechselt, weißt ja, wie das so ist. Sag mal, was ist am Samstag angesagt?“

 

„Komm doch mit, Marc und ich schauen runter zur Isar.“

 

„Alles klar, bis dann.“

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Das Buch Berufsziele für Ingenieure war unerwartet kurzweilig geschrieben, ich tauchte ein in die Welt der Wissenschaft und koppelte mich vom Hier und Jetzt ab. Irgendwann drangen Stimmen an mein Ohr, hatte ich meinen Namen gehört? Aufmerksam spitzte ich die Ohren.

 

„Hast du Felix angesprochen? Er hat so faszinierende grüne Augen und erst diese Grübchen.

 

„Na hör mal, er ist schlau und gutaussehend. Eine graue Maus wie mich, nicht doof, aber mit wenig Zeit zum Lernen, weil ich jobbe. Nur 1,60 und kein Modeltyp, bemerkt der doch gar nicht Kara.“

 

Ich grinste. Steffi war mir längst aufgefallen. Ihr herzliches Lachen und die grünen Augen sprachen mich an. Ich packte meine Utensilien zusammen, um zu den Mädchen hinter der Bücherreihe zu schlendern.

 

„Mir gefällt Marc besser. Sag mal, heißt Felix echt Flooser mit Nachnamen?“

 

„Ja, ich habe gehört, dass seine Eltern verunglückt sind und er der Alleinerbe ist. Hat die Schulzeit in verschiedenen Internaten verbracht, war ein Jahr in Kanada.“ Mit klopfendem Herzen stoppte ich mitten in der Bewegung, Steffi kannte nur meine Lügenmärchen.

 

„Mensch Steffi, mich erinnert er an einen Mitschüler auf dem Gymnasium, als wir für einige Monate in Memmingen gelebt haben. Der hieß Flooser, an den Vornamen erinnere ich mich nicht mehr, nur an den Spitznamen. Der Junge war groß mit langen dunklen Haaren, total unauffällig und wurde in der Schule Fixmob gerufen.“

 

„Kara, schau mal zu dem muskulösen Typ zwei Tische weiter, der glotzt dich die ganze Zeit an.“

 

„Oh Mann, was für ein Zufall! Der war in Memmingen auf dem Gymnasium. Das ist Henry Mattke ein arrogantes Sportass, jetzt sieht er aus wie ein Michelinmännchen“, grinste Kara. „Der hat vielen Schülern das Leben zur Hölle gemacht.“

 

Dieses eine Wort, Fixmob, löste eine ganze Flut an Erinnerungen aus. Ich wurde von einer Mörderwelle in die Vergangenheit katapultiert, rückwärts in die verdrängte Schulzeit. Zurück zu Felix ohne Freunde, Felix immer allein. Ich schaute vorsichtig um die Ecke des Regals zu den Tischen. Mir näher saß ein Muskelprotz mit blonden Haaren und der unverkennbaren Kartoffelnase, der Steffi und Kara nicht aus den Augen ließ. Wieso studierte ausgerechnet dieses Arschloch hier? Mein Daumennagel der linken Hand bohrte sich wie von selbst in meinen Handballen. Ich wollte nicht von Henry gesehen werden, mich nicht bohrenden Blicken aussetzen und seinem vernichtenden Mundwerk. Meine Beine setzten sich wie automatisiert in Bewegung. Weit und schnell, weg von der Blamage, bevor sie mich bemerkten. Ich flüchtete aus der Bücherei. Stürmte immer weiter, meine Beine flogen dahin, bis ich auf dem Gehweg wieder zu mir kam.

 

 

V 3