Von Raina Bodyk

„Bitte erheben Sie sich. Im Namen des Volkes ergeht folgendes Urteil: Der Angeklagte wird gemäß § 211 StGB zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt.“

Durch das aufgeregte, lauter werdende Gemurmel im Saal tönt Georgs empörte Stimme: „Das ist nicht gerecht. Ich kann nichts dafür, dass ich so bin, wie ich bin. So wie ich aufgewachsen bin, konnte ich doch gar nicht anders werden! Mein Vater ist schuld.“

„Ruhe bitte. Die Verhandlung ist hiermit beendet.“ Der Richter klopft mit seinem Hammer ein letztes Mal entschlossen auf den Tisch.

 

Georg tobt. Wütend schleudert er seine wenigen Habseligkeiten durch die schäbige Zelle. „Wenigstens mildernde Umstände hätten sie mir geben müssen!“ Seinen Verteidiger hat er bereits rausgeworfen. „Ich muss Berufung einlegen, ich will nicht den Rest meines Lebens unter diesen Knastbrüdern verbringen. Ich bin nicht so wie die.“ In der Nacht kann er lange nicht einschlafen. In ihm kocht es noch immer.

 

***

 

Die Glocke der Gefängniskapelle schlägt Mitternacht.  Plötzlich steht eine hochgewachsene Frauengestalt in einem wallenden, römisch anmutenden Gewand vor ihm. In der Rechten hält sie eine altmodische Waage. Wie ist sie hier hereingekommen? „Wer bist du? Was willst du hier? Irgendwoher kenne ich dich doch.“

„Ich bin die Gerechtigkeit. Ich bin deine Empörung und dein Selbstmitleid satt. Dein Gefühl für Unrecht scheint mir nicht sehr ausgeprägt zu sein. Heute Nacht nun sollst du allein entscheiden, ob das Urteil, das dir so missfällt, korrekt ist oder nicht. Sieh nur, bisher neigt sich deine Waagschale weit nach unten. Du wirst beurteilen, ob es Gründe gibt, die die Schale leichter werden lassen.“

„Super. Dann bin ich ja bald hier raus. Schließlich hat mir das Leben nie eine Chance gegeben.“

„Jeder hat eine Wahl. Nur ist für den einen die richtige leichter zu treffen als für den anderen, das gebe ich zu. Du hast meistens die falsche Entscheidung getroffen. Komm mit.“

Georg sitzt in einem rasenden Zug, der zu seinem Entsetzen immer noch schneller und schneller wird. Die Landschaft braust vorbei. Endlich stoppt er an einem Friedhof mit unzähligen kleinen, grauen Grabsteinen. „Was soll das denn sein?“,

Die Gerechtigkeit erklärt es ihm: „Dies ist der Umkehrfriedhof, der Friedhof der verpassten Gelegenheiten. Jeder Mensch kommt an Scheidewege, wo er sich für einen Weg entscheiden muss. Hier liegen all die falschen Entscheidungen, die die Menschen auf ihrem Lebensweg getroffen haben, alle aufgegebenen Pläne und Wünsche, für die sie sich nicht genug eingesetzt haben. Du kennst doch dieses ‚Ach hätte ich doch…‘. Wenn es zu spät ist, würden sie zu gern umkehren. Du siehst, es sind unzählig viele Grabstellen.

Georg zuckt nur mit den Schultern. Was für einen Blödsinn erzählt die Gestalt da. Will sie ihn etwa damit beeindruckten?

Die Gerechtigkeit nimmt ihn an die Hand und führt in zu einem der Grabsteine. „Hier warst du sechs Jahre alt. Konzentriere dich auf den Stein.“

 

  Georg blickt in ein düsteres Zimmer, das Resignation und Mutlosigkeit atmet. Ein     
  Mann prügelt auf seine Frau ein. Ein kleiner Junge verbirgt sich ängstlich hinter    
  dem Vorhang, nur seine Schuhe blitzen hervor. Als die Schläge kräftiger und
  gezielter auf die Frau niederprasseln, stürzt der Sechsjährige hervor und wirft sich
  mit aller Kraft auf den Mann. „Papa! Aufhören, aufhören. So hör doch endlich auf.
  Lass Mama in Ruh! Du tust ihr weh!“

 

Georg schluchzt. Dieser Abend ist ganz fest in sein Gedächtnis eingebrannt.

 

  Sein Vater schleudert ihn als Strafe für die Einmischung in den Ehestreit mit einer
  gewaltigen Ohrfeige auf den harten Steinboden. Abgelenkt von seiner Frau richtet
  sich seine unbezähmbare Wut nun gegen den Sohn. Mit hartem Griff schleift er ihn
  in den staubigen Kohlenkeller. Dreht noch die Birne aus der Lampe, damit dieser
  im Dunkeln sitzen muss.

  „Hier bleibst du jetzt und überlegst dir genau, ob du dich wirklich mit mir anlegen
  willst!“

 

„Stundenlang hat er mich da eingeschlossen. Ich hatte solche Angst. Einmal ist eine Ratte an mir vorbei gehuscht. All die tanzenden Schatten an den Wänden, die knarrenden Geräusche aus den Ecken. Vor lauter Grausen habe ich mir sogar die Hose nass gemacht, wofür ich später wieder Schläge kassierte. Wegen der Ratte traute ich mich auch nicht einzuschlafen. Ich war fest überzeugt, sie würde dann meine Finger oder Zehen anknabbern. Die Zeit dehnte sich wie eine Ewigkeit. “

„Ja, du hattest wirklich eine grausame Kindheit. Aber was später geschah …“

„Wie hätte ich ein guter Mensch werden können? Ich habe immer nur Gewalt kennengelernt.“

„Eine bequeme Ausrede für ein missratenes Leben. Damals warst du ein Opfer. Aber später hattest du immer eine Wahl!“

 

Bevor Georg vollmundig protestieren kann, packt ihn die Gerechtigkeit wieder am Arm und zieht ihn quer über den Friedhof zu einem anderen Grabstein. „Sieh auf den Stein. Hier warst du dreizehn.“

 

  Der junge Georg hat auf dem Schulhof einem halb verhungerten Straßenköter eine
  Blechdose an den Schwanz gebunden und lacht sich halbtot über die fruchtlosen
  Bemühungen des armen Tieres, das Ding wieder loszukriegen. Es sieht doch zu
  lustig aus, wie er hinter seinem eigenen Schwanz herjagt. Kichernd bemerkt er, wie
  seine Mitschüler einen Blondschopf zwischen sich hin und her schubsen. Das ist ja
  noch lustiger! „Ich komme!“ Das Vergnügen wird noch größer, als der Gequälte
  anfängt zu heulen und nach seiner Mami schreit.
 „Muttersöhnchen!“ – „Streber!“ – „Brillenschlange!“, toben sich die Jungen aus.

 

„Siehst du, hier hattest du die Wahl.“

„Ach das, das war doch nur Spaß. Wir haben ihm nicht weh getan.“, verteidigt sich Georg.

„Weißt du eigentlich, dass der Junge sich später umgebracht hat? Wahrscheinlich kennst du nicht mal mehr seinen Namen.“

„Doch nicht wegen uns!“

„Bist du da so sicher … ?“

 

„Und nun?“. Georg wirkt nicht sonderlich berührt, ist aber neugierig, was ihn noch erwartet.

„Wir besuchen deine alte Freundin Kathi.“

„Oh ja, das war echt eine heiße Braut. Was macht sie heute? “

Die Gerechtigkeit weist auf einen weiteren Gedenkstein. „Sieh ihn an, konzentrier dich. Hier bist du erwachsen.“

 

  Er steht am Zaun eines hübschen, behaglichen Reihenhauses. Im Garten stößt
  eine junge Frau ein Mädchen auf einer Schaukel an. Die Kleine quietscht vor   
  Vergnügen.


  „Das ist ja Kathi! Wow, die ist immer noch so hübsch wie damals, als wir
  zusammen waren. Das war eine tolle Zeit!“


  Seine Begleiterin sagt nichts. Ihre Hand fährt durch die Luft und Georg reist noch   
  etwas weiter in der Zeit zurück.

  Er steht nun in einer unaufgeräumten Studentenbude. Orangenkisten dienen als    
  Tisch, ungewaschene Klamotten liegen in der Ecke. Er lümmelt sich mit Kathi auf
  dem durchgelegenen Sofa. Plötzlich geht ihr Blick zur Uhr. „Jetzt verschwinde
  aber. Ich muss unbedingt noch für die Klausur morgen lernen. Die wird echt
  schwer.“

  „Kathiiii,“ bettelt der junge Mann. „Du kannst doch alles, lass uns lieber Liebe
  machen.“

  „Georg, nein!“

  Er zieht sie zu sich runter, fängt an, sie auszuziehen.

  Sie wehrt sich: „Hör auf! Ich will das jetzt nicht!“ – „Au, du tust mir weh.“ –
  „Neeeiiin!“

  Aber er hört nicht mehr hin. Nimmt sich mit Gewalt, was sie ihm nicht freiwillig gibt.

 

Georg stöhnt auf: „Ich habe nicht verstanden, warum sie sich so geziert hat. Wir haben es ja nicht zum ersten Mal getan.“

„Da siehst du keinen Unterschied?“, empört sich die Gerechtigkeit.

Der Verurteilte scheint aber doch zum ersten Mal wirklich betroffen. „Aber jetzt hat sie ein Kind und ist glücklich. Darüber bin sehr froh.“

„Findest du, dass sie glücklich aussieht?“

„Ja sicher! Sie spielt mit ihrer Tochter, hat ein schönes Haus …“

„Sieh sie doch mal wirklich an. Ihre Augen! Erkennst du nicht den Kummer darin? Merkst du nicht, dass sie ihrem Kind Fröhlichkeit nur vorgaukelt?“

„Ja. – Vielleicht. – Ich weiß nicht…“

„Ihr Mann hat sie für eine andere verlassen. Er fand sie zu kalt im Bett.“

„Wie bitte? Sie hatte so viel Feuer und Leidenschaft in sich.“ Georg versteht nicht.

„Nicht mehr.“, erklärt die Gerechtigkeit.

„Was? Aber … – Oh!“

„Du hattest die Wahl.“

 

 

„ich will zurück in meine Zelle.“

„Bald.“

 

Und weiter geht es in den Friedhof hinein. Georg starrt wieder durch einen Grabstein in seine Vergangenheit.

 

  Er starrt in ein modern eingerichtetes Schlafzimmer. Sieht sich selbst am Boden
  knien, ein blutiges Messer in der Rechten. Vor ihm liegt die Leiche seiner Frau
  Beate, mehrere Stiche im Körper. Das Nachthemd über die Knie hochgerutscht.
  Die purpurne Blutlache breitet sich aus, tränkt den weichen Teppich. Warum hat
  sie ihm auch widersprochen! Immer wusste sie alles besser. Es hat ihn so wütend
  gemacht, wenn sie so vor ihm stand, die Arme in die Hüften gestemmt, die Augen
  aufgebracht auf ihn gerichtet. Dann fühlte er sich immer so unzulänglich, so klein.
  Das kann er nicht ertragen.

  Knarrend geht die Tür auf. Sein Sohn steht vor ihm. So blass. Kann nicht die
  Augen von seiner leblos daliegenden Mutter wenden.

  „Ist sie … ist sie tot?“ Mit ungläubigen Augen starrt er den Vater verzweifelt an,
  fängt leise an zu wimmern. Der Junge schlingt die Arme fest um seinen mageren
  Körper, schwankt leicht, als würde er gleich fallen. Als Georg ihn in die Arme
  nehmen will, stößt ihn der Junge abwehrend zurück. Der Vater sieht rot und
  versetzt ihm eine ordentliche Ohrfeige.

 

Georg stöhnt auf. Ist er wirklich wie sein Vater geworden? Er hat es nicht einmal bemerkt!

 

Er nimmt kaum wahr, dass sich die Konturen seiner Begleiterin langsam auflösen, sie immer durchsichtiger wird, bis sie ganz verschwunden ist. Ihre letzten Worte hallen wie ein fernes Echo an sein Ohr. „Du hattest die Wahl.“

 

***

 

Verzweifelt schluchzend wacht er in seiner dunklen Zelle auf. Er ist wieder allein. Er vergräbt den Kopf in der kratzigen Matratze. „Schuldig! Schuldig!“, hämmert es in seinem Kopf. Am liebsten wäre er tot. Sein Blick geht zum Fenstergriff.

Er hat die Wahl.