Von Magdalena Wenk

Sie ging am See spazieren.
Der Morgen war lau. Zu kalt, um schwimmen zu gehen, aber so warm, dass sie ihn unter anderen Umständen angenehm genannt hätte. Die Kollegin, die ihr von diesem Ort als Oase der Ruhe, die die Erwartungen, die man an einen Tagesausflugsort stellte, vollends erfülle, vorgeschwärmt hatte, hatte nicht untertrieben.
Windröschen und Sumpfdotterblumen umsäumten das Ufer und das taufrische Gras kitzelte ihre Knöchel, während sie immer weiter schritt. Sie versuchte nicht schnell zu laufen, sondern ging gemächlich, dennoch spürte sie ein dumpfes Pochen in ihrer Brust, an der Stelle, wo das Herz liegt. Ihre Hand lag reaktionsbereit auf ihrer Hosentasche mit dem Handy. Immer wieder sah sie sich um. Hinter ihr war niemand. Nur der wolkenbehangene, hellblaue, pittoreske Himmel und die sattgrünen Büsche, die im Frühlingswind raschelten und deren Konturen sich klar gegen den Himmel abzeichneten.
Sie ging schneller. Folgte einer Schneise , wo der Waldboden von den Spaziergängern bereits plattgetreten worden war. Das Blätterdach leuchtete hellgrün über ihr und ein schmaler Spalt Sonnenlichts fiel zwischen den Baumkronen hindurch wie die Hand Gottes, die sie so lange nicht mehr gehalten hatte, seit sie den Job in der Steuerberaterkanzlei angenommen hatte und keine Zeit mehr für Kirchgänge hatte.            
Plötzlich vibrierte ihr Handy. Sofort blieb sie stehen und zog es hervor.
„Mariechen, kannst du mich heute Abend aus dem KH holen?“ „Alles klar.“, schrieb sie zurück und steckte es wieder ein. Seit ihre Mutter ihren ersten Herzinfarkt gehabt hatte, war Marie wieder bei ihr eingezogen, um sich besser um sie kümmern zu können. Ihre Mutter hatte es ihr nie gesagt, aber Marie wusste um die stille Erwartung, die sie ihr gegenüber hegte. Sie verließ sich auf sie, weil seit dem Tod ihres Vaters niemand mehr da war, auf den sie sich sonst hätte verlassen können.
Sie lief weiter. Der Himmel hatte sich gelichtet und war nun wolkenlos- beinahe gleißend. Vielleicht hatte ein freier Tag doch ungeahnte Vorzüge…
Eine erneute Vibration riss sie aus ihren Gedanken. Hektisch tastete sie nach ihrem Handy und stieß einen Seufzer der Erleichterung, als sie es in der Hand hatte. Ein Augenblick der Unachtsamkeit konnte verhängnisvoll sein.
„Kannst du heute Nachmittag für mich einspringen?“, hatte eine ihrer Kolleginnen aus der Kanzlei geschrieben. „Mein Freund kommt einen Tag früher von seiner Geschäftsreise zurück.“ Marie zögerte kurz. Dann antwortete sie „Ja, natürlich.“. „Auf dich kann man sich wirklich immer verlassen. Du bist einfach die Beste.“, kam es zurück und ein warmes Glücksgefühl durchströmte Marie.
Sie tauchte zwischen den Bäumen hindurch und erreichte eine kleine Lichtung, von der aus ein schmaler Weg ans Ufer führte. Alles hier war so idyllisch, so friedlich. Die stille Wasseroberfläche ein krasser Kontrast zu dem Sturm, der in ihrem Innern tobte. Die Wasseroberfläche ist klar, doch je weiter man nach unten sieht, desto dunkler wird es, dachte sie. Die Einzigen, die je dort unten waren und die Dunkelheit gesehen haben, sind die Fische. Wir Anderen bleiben Beobachter an der Oberfläche, eingelullt von der Illusion von Glück und Zufriedenheit.
Ihr Telefon klingelte – diesmal schrill und durchdringend. Als sie sah, wer sie anrief, setzte ihr Puls für einen Augenblick aus und sie hatte das plötzliche Bedürfnis, das Telefon in den See zu schleudern wie eine heiße Kartoffel.
Nur keine Panik. Bleib ruhig und nimm dich zusammen. Es geht sicher nur um eine Lappalie eine unbedeutende Kleinigkeit. Oder er will Plattitüden übers Wetter austauschen. Ja, das würde sein. Nichts Bedeutendes. Harmlose Floskeln. Sie atmete zweimal tief durch und leugnete geflissentlich die Tatsache, dass sie ihren Chef noch nie übers Wetter reden hören hatte, sondern schloss die Augen und hob möglichst gefasst ab.
 „Marie Krause hier.“
Sie merkte, dass ihre Hände schwitzig geworden waren und ihr Atem ging so schnell, dass sie sich bei den nächsten Worten verhaspelte.
 „W…as… was gibt’s, Herr Fiedler?“
„Frau Krause.“
Wieder und wieder wischte sie sich die Hände an der Hose ab, aber sie wurden nicht trocken, sondern die Flecken auf dem Jeansstoff nur immer größer.
Herr Fiedler hatte Phasen, in denen er toben konnte und die Mitarbeiter der Kanzlei anbrüllen, dass selbst ein Tauber sich die Ohren zugehalten hätte.
Doch noch nie war er gegenüber ihr laut geworden. Sie war die perfekte Mitarbeiterin. Hochgeachtet von allen. Noch nie war irgendjemand ihr gegenüber laut geworden. Dieser Gedanke beruhigte sie etwas und ihre Hände hörten auf zu zittern.
Fiedler kam ohne Umschweife zur Sache. „Wo liegen die Unterlagen Müller? Sie sind nicht an ihrem Platz. Und Sie waren die Letzte, die mit ihnen gearbeitet hat“.
Maries Herz setzte für den Bruchteil einer Sekunde aus und es durchfuhr sie heiß und kalt. In der Tat war sie die Letzte gewesen, die die Akten in der Hand gehabt hatte. Aber sie war sich sicher, dass sie sie zurück in die Schublade getan hatte. Panik griff nach ihrem Herzen wie eine kalte Hand. „Müller? Ich…ähm…“ Ihr Atem ging schneller und schneller, stoßweise. Die Sekunden, in denen sie nichts sagte, schienen sich rasend schnell in Minuten auszudehnen. Ihr Blick huschte über das perfekte, kristallklare Blau des Sees, auf dem die Sonne funkelte. „Ich…muss sie wohl verlegt haben. Aber ich werde selbstverständlich sofort kommen, und sie für Sie suchen.“ Sie war schon aufgesprungen und wollte den Weg zurückeilen, als ihr Chef weitersprach. „Was sagten Sie?“, fragte er leise und Marie konnte sich das erboste Flackern in seinen wütenden, kleinen, zusammengekniffenen Äuglein, das sie nur in ihren schlimmsten Albträumen sah, vor ihrem inneren Auge ausmalen.
„V…er…er…legt, ich habe…“, wiederholte sie leise, aber Fiedler schnitt ihr das Wort ab und schnürte ihr damit die Kehle zu, als hätte er einen Strick um ihren Hals zugezogen. „Verlegt? Ach ja? Dass ich nicht lache! Sie haben sie VERLEGT!“ Er brüllte jetzt in den Hörer, sodass Marie diesen einige Zentimeter von ihrem Ohr weghalten musste. „Können Sie mir erklären, wie das passieren konnte? Dabei hatte ich immer gedacht, Sie wären eine vernünftige, verlässliche Mitarbeiterin. Sie scheinen ja gänzlich unfähig zu sein!“ Saure Galle stieg in Marie hoch und ihr Magen stülpte sich um. „Ich…“-
 „Ihre Entschuldigungen können Sie sich sonst wo hinstecken! Scheinbar habe ich mich in Ihnen geirrt“, schrie Fiedler so laut ins Telefon, dass Marie die Spucke sprühen hörte. „Die Akte Müller ist nicht hier und Sie haben mich enttäuscht. Und jetzt suchen Sie mir endlich diese verdammte Akte, oder Sie sind unverzüglich gefeuert!“ Ehe Marie es sich versah, knallte Fiedler den Hörer auf die Gabel und es knackte in der Leitung. Ihr Herz pochte so laut in ihrer Brust, dass sie es zwischen den Bäumen als Echo widerhallen hörte. Tränen hatten sich in ihr gestaut und wollten unverzüglich nach draußen. Aber Sie hatte jetzt keine Zeit für Sentimentalitäten. Sie musste schnell sein. Doch gerade als sie lossprinten wollte, sah sie sich noch einmal zu der Stelle am Ufer um.
Alles sah plötzlich so anders aus.
Die Idylle war mit einem Schlag von der Umgebung gewaschen. Der See wirkte braun, beinahe schwarz. Der Himmel hatte sich verdüstert, ein eisiger Wind wirbelte ihre Kleidung auf.
Ihre Beine gingen ans Ufer, noch bevor ihr Kopf begriff, was sie tat. Sie machte sich nicht die Mühe, ihre Hose hochzukrempeln, bevor sie ins Wasser trat. Es war, als befände sie sich in einer plötzlichen Trance. Sie ging weiter, bis ihr das Wasser bis zur Brust reichte und wie tausend kleine Nadeln auf ihrer Haut brannte. Sie schloss die Augen. „Unfähig.“, hallte es in ihrem Kopf. Blut rauschte durch ihr Gehirn wie flüssige Lava und machte sie schwindelig.
Wenn sie jetzt noch einen Schritt tun würde, könnte sie nicht mehr stehen. Sie stellte sich vor, wie das Wasser ihr den Boden unter den Füßen wegzöge. Sie würde nicht versuchen, es aufzuhalten, sondern sich einfach treiben lassen. Sie hatte nie gelernt zu schwimmen. Sie spürte, wie sie unterging, fand nirgends Halt. Sie röchelte hilflos, Luftblasen stiegen um sie herum auf. Das idyllische Klar verschwand und wich dunklem, schmutzigen Braun. Das Braun, das nur die Fische tief am Grund des Sees sehen.
Der Wind flaute auf und wirbelte ihr Haar auf und ließ sie in ihrer halbnassen Kleidung zittern und wieder in die Realität zurückfinden. Sie stand noch immer bis zum Oberkörper im Wasser.
Plötzlich nahm sie aus dem Augenwinkel eine Bewegung wahr. Sie wandte den Kopf und sah ein altes Fischernetz, das Im Wasser trieb und sich an der Uferböschung verhakt hatte. Ein Fisch hatte sich darin verfangen und wand sich verzweifelt, um sein Leben kämpfend.
Sie streckte die Hand aus und befreite ihn.
In diesem Moment verlor sie etwas. Erst als sie dem Fisch nachsah, wie er im kristallblauen Nass verschwand, begriff sie, was es war. Sie verlor einen Teil ihrer selbst. Es war der Teil, der sich stets gezwungen sah, den Erwartungen anderer Menschen zu genügen und ihre eigenen Bedürfnisse hintenanzustellen.
Sie verlor ihn, weil das Netz der Erwartungen, das die Welt um sie gesponnen hatte, gerade einen Riss erlitten hatte. Und jetzt fiel dieser Teil, von dem sie stets gedacht hatte, er gehöre unweigerlich zu ihrer Persönlichkeit, von ihr ab. Sank tiefer und immer tiefer, auf den Grund des idyllischen Badesees, von dem niemand erahnte, dass er tief im Innern noch etwas anderes als Perfektion barg.
Und mit einem Mal fühlte sie sich wie aufgetankt mit Energie.
Triefend nass trat sie aus dem Wasser. Mit ruhigen, selbstsicheren Schritten ging sie zu ihrem Auto und ließ diesen grässlichen, perfekten See hinter sich zurück. Ihre Absicht als sie die Autotür öffnete, war es nicht, in ihr grässliches, perfektes Leben zurückzukehren und Fiedler die Akten in sein Büro zu bringen, sondern ihren Job zu kündigen.
Sie steckte den Schlüssel ins Zündschloss.
Heute war der Tag, um noch einmal neu zu beginnen.