Von Bernd Kleber

Es ging alles so schnell. Sie verblich wie eine Schnittblume ohne Wasser in praller Sommersonne. Verdorrte, und ihre Lider hoben sich nur noch halb. Dann hauchte sie eines Tages ihren letzten Atem aus und war für immer aus meinem Leben entwichen.

Ich war damals wie in Trance durch unsere Wohnung gelaufen. Hatte keine Ruhe, mich in einem Raum aufzuhalten, da jedes Quadratzentimeterchen an sie erinnerte. Ich öffnete nicht den Kleiderschrank, nicht den Küchenschrank, nicht die Anrichte. Ich befürchtete, dass die daraus hervorquellenden Erinnerungen mich gnadenlos ersticken würden.

Ich floh aus der Wohnung. Kaufte mir etwas Essbares auf dem Markt und setzte mich dort auf eine Bank. Im Frühjahr mit lauen Temperaturen und auch im Sommer, im Schatten des Kugelahorns. Gegenüber beobachtete ich die Menschen, die in das Kaufhaus eilten. Der Eingang war nur wenige Schritte entfernt. Manchmal musste ich meine Füße anziehen, damit hetzende Passanten nicht darüber stolperten. Die Fußgänger hasteten hinein und hinaus. Heraus kamen sie oft mit sehr großen Papiertüten und noch größeren Aufdrucken von Markennamen. Damen trugen sie wie Handtaschen über dem gebeugten Arm und sprachen in das Handy in der erhobenen Hand. Berichteten sicher von ihrem erjagten Fang.

Was für ein Jammer! Eine Horde Konsumenten, die keinen Gedanken daran verschwendeten, wie endlich das Leben ist. Denen kam gar nicht in den Sinn, dass sie am letzten Tag ihres Daseins all diese Tüten, Beutel und Packungen nicht mitnehmen können.

Jeden Abend kam der Augenblick, an dem das Kaufhaus abgeschlossen wurde und die übrig gebliebenen Besucher ausspuckte wie Verdauungsreste. Ich betrachtete die Schaufenster, in denen nach und nach das Licht anging. Die Damen und Herren, die darin standen und in unnatürlichen Posen erstarrt schienen, trugen bunte schrille Kleidung oder festliche oder kühl sachliche, je nach Thema der Dekoration. Manchmal waren sie nackt und hielten nur Schilder in den Händen „Ausverkauf!“, dann war wieder eine Saison zu Ende.

Das war nun meine Heimat geworden, auch im Herbst. Dann kam der Winter und es wurde zu kalt für die Bank. Ich fand einen Platz im Café, ebenfalls gegenüber dem Warenhaus, aber ein bisschen entfernter. Die Gesichter der Konsumenten erkannte ich, manche winkten mir zu oder nickten. Ich war am Platz inzwischen Inventar.

Zuhause war immer noch alles beim Alten. Die Wohnung ohne Mathilde, leer und kalt. Ich mied die Räume, kam nur zum Schlafen. Am Morgen stand ich auf, wusch mich, kleidete mich an und ging zum Marktplatz.

Zuhause blieb ich nur, wenn meine Nichte mich besuchte und rührend umsorgte. Sie riet mir einmal, die Schränke auszuräumen, die Zimmer zu renovieren. Ich nickte nur und sagte: „Später!“. Da stand das Mädchen deplatziert im Flur, rief noch einige Male so etwas wie „Hallo!“, ich habe einfach nicht reagiert. Dann gab sie auf und ging wortlos. Kam danach viel seltener.

Nun saß ich im Café, Frau Krause hatte Dienst und brachte mir ungefragt ein Kännchen Kaffee. „Hier, Walter, dein Kaffee. Magst du heute Käsekuchen oder Streusel?“
„Streusel!“, erwiderte ich ohne vom Kaufhaus wegzusehen, um die emsigen, raffenden Ameisen weiterhin zu beobachten.

Das Warenhaus schloss um 22 Uhr seine Pforten, das Café zwei Stunden später. Ich genoss wie immer die letzten leisen Momente, in denen der Ameisenhaufen zur Ruhe kam und nur noch das schöne warme Licht der Retrolaternen den Platz beleuchtete, die Schaufenster von unten Lichtkegel spiegelten.

Eines Tages bewegte sich Madame Blond… so nannte ich die Schaufensterpuppe mit der blonden Perücke. Sie war diejenige, die immer besonders grazil ihre Finger spreizte. Ich sah es sehr genau. Ich kenne ja meine Kulisse der Weltwirtschaft. Madame ruckelte. Ich fixierte sie, ließ sie nicht mehr aus den Augen. Strengte mich so an, dass sie tränten und das Bild verschwamm. Wäre Mathilde hier, sie fände es spannend wie ich. Da war ich mir sicher.

Einige Tage später ruckelte genau diese Puppe wieder, mir war das unheimlich. Ich konnte das Frühjahr gar nicht erwarten, denn dann würde ich erneut direkt vor dem Geschehen sitzen und alles genauer betrachten.

Auf dem Heimweg blieb ich an diesem Fenster stehen und besah mir die Werbefigur intensiv. Hatte man ihr aus irgendwelchen marketingtechnischen Gründen einen Ruckelmotor eingebaut, um unterbewusste Aufmerksamkeit zu erzeugen?

Ich blickte durch die Scheibe und suchte nach einem Kabel oder einem technischen Gerät, was die Schwingungen hätte verursachen können. Bemerkte dabei jedoch nur, dass ich eine neue Brille benötigte, da mein Sichtbild unscharf war.

Einige Wochen später saß ich in der Frühjahrssonne vor dem Fenster und sah jede Kleinigkeit durch die neue Brille auf meiner Nase. Ich besah mir das Szenario vom Morgen hin zum Abend, bis die Stadt wieder in ihre Totenstarre ohne Kaufrausch gefallen war. Da bewegte sich die Blond erneut. Wackelte diesmal so stark, dass ich annahm, sie stürze gleich. Und was soll ich sagen, aus ihrer Schuhspitze, das Bein endete direkt in einem Damenschuh mit hohem Absatz, quetschte sich von der Sohlenseite her graues Fell, wuchs hervor wie ein haariger Pilz im Zeitraffer. Kein großes Tier, eher zierlich.

Ich beobachtete nun dieses kleine Wesen, das hier garantiert nicht erwünscht war. Zuerst hielt ich es für eine Maus, bis ich dann jedoch den Schwanz sah, der sich glatt als Letztes aus dem Loch schlängelte und der zu einer Ratte gehörte. Sie blieb kurz sitzen, rieb sich die Augen und die spitze Nase, schnüffelte in die Luft und sah mich dann an. Erschrocken duckte sie sich ruckartig, ließ mich nicht aus den Augen. Entspannte sich aber schnell wieder.

Ich sah mich links und rechts um… Niemand beobachtete, was ich erblickt hatte, da ich fast allein war. Ich pfiff kurz. Die Ratte hob ihren Kopf, also durch die dicken Scheiben konnte sie mich scheinbar hören. Man ahnt ja nicht, was Tiere für ausgefeilte Sinne haben im Vergleich zu uns Menschen. Oder die Schallwellen suchen sich ihren Weg durch unbekannte Kanäle.

Das graue Fellknäul hüpfte fort und verschwand in einem Lüftungsschlitz dicht an den Fensterscheiben im darunter liegenden Labyrinth. Ich ließ meine Schultern sinken und sah eine Weile vor mich hin, da bemerkte ich im Augenwinkel weiter links, wie sich an der Kellerabdeckung etwas bewegte. Ich wendete meinen Blick in diese Richtung und siehe da, das Tier hatte die Außenwelt betreten, sicher mit dem Ziel in das Abenteuer seiner Nacht.

Ich vermutete, dass sie am Tage in Madame Blond ihren Schlafplatz fand. Während all die Kaufsuchenden durch das Haus trabten, auf dem Weg zu ihrer Glückseligkeit, schlief das possierliche Tierchen unbeeindruckt im Schatten der Werbung.

An den kommenden Tagen klopfte ich immer mal wieder erwartungsfroh an die Schaufensterscheibe, aber es tat sich nichts. Das zierliche Tier kam erst am Abend heraus, wenn es still wurde. Betrachtete mich mit seinen Knopfaugen, nickte kurz und hüpfte zum Lüftungsschlitz, um kurz danach aus dem Keller aufzutauchen.

Wir hatten uns bald aneinander gewöhnt. Sie kam nun nah zu mir gelaufen. Nicht ohne Grund. Ich brachte Nüsse, Obst und manchmal sogar Hackfleisch mit. Ich freute mich jeden Abend darauf, zu beobachten, mit welchem Appetit die Kleine meine dargebotenen Leckereien verspeiste.

Sie sprang jetzt munter an meinem Hosenbein herauf, setzte sich in meinen Schoß, verputzte, was ich dort mit kleinem Plastikschälchen bereithielt. Das hatte ich zuhause aus dem Küchenschrank mitgebracht. Danach krabbelte sie schnurstracks in meinen Ärmel und schlief in einem weichen Stoffknäuel aus Resten, die ich im Kleiderschrank gefunden hatte, ein. Meist nur ungefähr zwanzig Minuten, dann kroch sie wieder hervor, kletterte weiter hoch zum Kragen, umlief meinen Hals, schnupperte an meinem Mund und hüpfte nach dem Abstieg von mir in großen Sprüngen die Straße hinunter, bis ich sie nicht mehr sah. Darauf ging ich jedes Mal lächelnd nach Hause und legte mich schlafen.

Am Morgen konnte ich kaum den Abend erwarten, an dem ich sie wiedertraf und ihr vom Tage erzählte, wer alles einkaufen war, was sich getan hatte im Ameisenhaufen des Weltkonsums. Sie und ich waren zwei einsame Satelliten zwischen all dem Weltraumschrott, der uns umflog, und wir piepten uns lebenserhaltende Signale zu.

Sie lag gerne in meinem Ärmel, kuschelte sich an mich, hörte zu, manchmal schnaubte sie tief durch, wenn sie besonders absurde Erlebnisse von mir hörte. Oder ich spürte an meiner Haut ihr Herz hastig klopfen. Dann irgendwann wurde sie wieder wach, schüttelte sich, wusch sich mit ihren Pfoten Nase und Schnurrbart und wir verabschiedeten uns. Ich streichelte ihren kleinen weichen Bauch und hatte den Eindruck, sie lächele. Jeder Abend endete nun mit meinem Ritual: „Gute Nacht, liebe Mathilde, bis morgen!“.

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