Kornelia Wulf

Eng an den Stamm der Buche gelehnt, die neben dem Tor des Pausenhofes wächst, wühlt Lotte in ihrer Tasche herum. Kramt in unendlichen Weiten, bis sie es zwischen Aspirintabletten und Tempotuch endlich findet. Sie besänftigt die Bronchien mit einem tiefen Zug. Schaltet dann einen Gang herunter. „Was für ein Morgen“, seufzt sie, schnippst  einen Camelkrümel weg, der wie ein aufdringliches Insekt auf ihrer Lippe klebt. „War es am Montag?“, überlegt sie, „Nein, Dienstag.“ Nach dem Yogakurs. Als dieser Hustenanfall aus ihrem Brustkorb krachte und die Lunge beinahe zu platzten drohte. In diesem Moment hatte sie es sich wieder geschworen. Wieder felsenfest daran geglaubt, dass sie es diesmal schafft. Und wieder nur drei Tage durchgehalten.

 

Die Lippen fest um die Kippe gepresst, stöhnt Lotte rasselnd auf. Die 3a raubt ihr wirklich den letzten Nerv.

 

Ein Herbsttropfen trifft ihre Stirn, als sie die zweite Zigarette anzündet. Sie hebt das Kinn, stülpt die Lippenfältchen auf, lässt einen Rauchkringel zwischen nackte Zweige schweben. Der sich vor ihrem magischen Auge in ein Lasso verwandelt. Über Huberts Schultern gleitet, sich an den Armen entlang um die Hände ringelt. Bis es sein Ziel erreicht und die kleinen, gemeinen Fäuste fesselt. Mit denen Hubert an roten Strähnen zerrte und Lisa unter dem Gefeixe ihrer Mitschüler durch den Klassenraum schleifte.

 

Vergeblich versucht Lotte, die inhalierte Kraft in ihr mentales System umzuleiten, als ein Wurfgeschoss ihre Gedanken zerreißt. „Hey, pass doch auf. Du Anfänger!“, brüllt sie zu Jens Müller herüber. Der mit hochrotem Kopf den Lederball unter den Sweater stopft. Und im Schweinsgalopp in die Jungentoilette flieht.

 

Die Kippen sorgfältig in ein Tempotuch verstaut, lässt Lotte den Blick über den Schulhof gleiten,

 

bis er an Lars hängenbleibt.

 

„Wie blass er heute wieder aussieht.“

 

Die Haut bestäubt von einem kalkweißen Hauch, der in dem schweren zu Novembergrau  zerfließt. Frostige Spitzen rieseln über Lottes Rücken, während sie die Finger zu einem Schutzschild spreizt. Um dieses Zwergengesicht zu umschließen, es warm zu streicheln.

 

Ganz allein hockt er auf kaltem Pflasterstein.

 

Ihr Blick in sein seltsames Spiel gebannt, spürt sie ein Schaudern über die Schultern kriechen. „Irgendwie gespenstisch“, – sie stülpt den Rollkragen bis zum Kinn hinauf – wie er an Mooskissen reißt. Prall und feucht. Die aus den Fugen wuchern. Seine Murmel tief in die Spalten quetscht, mit Inbrunst beide Lippen bewegt, als spräche er mit einem unsichtbaren Freund.

 

„Es sind die Huberts dieser Welt, die unsere Aufmerksamkeit rauben“, Lotte schnauft, „diese Sache mit Lars und seiner kleinen Schwester. War das im Herbst?“, ihre Handfläche klatscht schwer auf die Stirn, „Nein, im letzten Sommer. Wie konnte ich das nur vergessen“. Die Armbanduhr fest im Blick hastet Lotte in das Lehrerzimmer, bevor der Pausengong sie in den Unterricht zurück pfeift. Um nach der Telefonnummer von Dr. Fröhlig zu suchen und Lars Mutter anzurufen. Dr. Fröhlig. Ein wahrer Meister seines Fachs. Der selbst Maik Krieger wieder auf die Spur gebracht hat, als er im Klassenzimmer Tische und Stühle zerlegte. 

 

***

 

Glitschige Arme klatschen auf seinen Leib. Saugen sich fest mit schmatzenden Küssen. Lars würgt. Widerlich!

 

Uuund … Spot

 

… die schweinchenfarbene Matte blitzt vor ihm auf. Gespickt mit einem Meer aus Noppen. Die schlürfend quatschen, wenn Mama sie fest in die Wanne drückt. Damit Lars sich nicht die Beine bricht …

 

Uuund … Action

 

Tief bohren die Näpfe sich in seine Haut. Als suchten sie Löcher, um sich mit ihr zu verknöpfen. Plötzlich tauscht das Monster seinen Mantel aus. Plustert sich auf. Zieht dunkle Schleier durch glasklare Fluten. Und Tentakel, pechschwarz, winden sich um Rücken. Schultern. Rippen. Schnüren den Hals fest zu. Wie seinen geilen Fußballschuh, auf dem der gelbe Puma lauert.

 

Schon schlagen bunte Wellen über Lars zusammen. Nach Luft in winzigen Häppchen schnappend zieht er das Schweizermesser aus der Hosentasche. Opas Geburtstagsgeschenk. Mit dem er erst spielen darf, wenn er in die Oberschule geht. „So ein Quatsch“, ärgert sich Lars, als er es heimlich aus Mamas Schreibtischschublade klaut. Denn wenn er danach fragt, lacht sie nur „Träum weiter!“

 

Aber Lars will jetzt nicht weiter träumen,

 

starrt den Krakenarmen nach, die zusammen gerollt wie eine Lakritzschnecke in brodelnder Gischt versinken. Schwarze Bluttropfen kleben an der Klinge, als ihr Kopf – zwischen seinen Beinen kugelnd – ihn hämisch anzugrinsen scheint. Lars schmeckt einen salzigen Hauch – tropf, tropf – seine Zunge fängt das Rinnsal auf – die Hände hebt – „Nein! Nein!“ wimmert –  nach blaßblauen Pupillen schlägt, die sich wölben – weiten – auf ihn zu schweben –

 

bis er in Inas Augen schaut.

 

Lars schreckt schweißgebadet hoch. Wiegt monoton summend hin und her, die Arme über die Brust gekreuzt. Unter seinem Po fühlt es sich warm und feucht an. Er starrt auf den Fleck, der sich auf dem Betttuch ausbreitet. Huscht rasch ins Bad. Stopft den Schlafanzug in die Waschmaschine. Kramt im Schrank nach einem frischen Laken. Mama wird sonst glauben, dass er wieder ins Bett gepinkelt hat. „Lars, du musst dich nicht schämen. Aber wir müssen ehrlich miteinander bleiben.“, wird sie flüstern. Mit dieser Stimme, die so komisch klingt. Die sich wie ein Roboter durch die Sätze hackt und niemals weint oder lacht. Und als bestünde sein Körper aus Glas, werden ihre Augen durch ihn hindurch schauen. Völlig starr. Das Grün mit Tesa überklebt.

 

Ein fremdes Wesen ist in Mama eingezogen. Das weiß Lars ganz sicher. Im letzten Sommer am Strand. Als der Mann mit dem roten Kreuz auf dem Rücken eine Spritze in ihren Arm rammte. „Por pavor, Senora. Por pavor!“, schrie, während hilflose Fäuste auf seinen Brustkasten trommelten. Ihn zur Seite schubsten, auf das Meer zu stürmten, um Ina zurück zu holen.

 

Lars hätte besser aufpassen müssen.

 

An diesem Urlaubstag in Spanien. Die Mittagssonne flimmerte in dem goldblonden Haar, als Mama sich in die Stranddecke kuschelte. Geschmückt mit einem Muschelkranz, gesammelt von Lars und Ina. Die Kopfhörer fest auf die Ohren gedrückt, ließ Lars die Mama schlafen. Weil sie doch soviel arbeiten und ganz allein für drei denken muss. Als Benjamin Blümchen in seinen Gehörgang trötete, weinte die Krake dunkle Tränen. Wenn sie sich einsam fühlt, färbt sich das Wasser pechschwarz. Dann taucht sie auf aus dem Schaum, wählt ein Menschenkind aus. Zieht es hinab bis auf den Grund. Spielt dort Verstecken mit Abklatschen mit ihm. Zwischen Korallenblüten.

 

Das hat ihm Golo erzählt.

 

Golo. Der Junge aus dem Meer.

 

Die Matratze bebt, als ein fauliger Geruch durch den Raum wabert, der Lars an Thunfisch mit Zwiebeln erinnert. Und noch einmal sieht er das Wimmeln. Das sich in dieser ekligen Dose bewegte, die Mama neben dem Kühlschrank vergaß.

Dünne Häute mit weißen Fingern verwachsen patschen auf das Laken. Lars klammert sich am Bettkasten fest, als Golo sich unter dem Lattenrost stemmt. Auf ihn zu tappst. Und die Seetangfäden, die an den Füßen kleben, malen schlammfarbene Schlieren auf das Laminat. Er versucht ein Lachen zu unterdrücken. An der albernen Badehose vorbei zu blicken, die um Golos Hintern schlottert. Bedruckt mit Seerosenblättern, auf denen sich Frösche recken. Die mit heimtückischen Lächeln ihre Zähne blecken. Schillernde Libellenflügel zwischen den Lippen.

Golo steht schon ganz nah. Lars sieht das Perlmutt in seinen Höhlen fächern. In unzähligen Farben wie ein Pastellregenbogen. Golos Blick bohrt tief, als aus den aufgerissenen Wimpern erschreckte Tiefseewürmer stürzen.

 

„Hey, Lars. Ina sucht dich. Weint sich die schönen Augen aus. Komm mit mir. Ich zeig dir den Weg. Sie will mit dir spiiieeleen …!“

 

***

 

Lars sitzt im spanischen Sand. Nur noch zwei Ferientage am Strand, dann bringt ihn der Flieger zurück nach Haus. Dort muss er am Morgen den Ranzen packen, wieder zur Schule gehen. In die 4a. Und Lars dehnt sich aus, wächst ein Stück.

Ein leises Schnarchen ertönt hinter seinem Rücken. Er linst über die Schulter, sieht wie Mama sich auf der Decke wälzt. Und Lars lässt sie schlafen. Weil sie doch soviel arbeiten und ganz allein für zwei denken muss.

 

Ein spitzer Lichtschein blendet seinen Blick. Lars kneift die Augen zusammen, streicht über den Ringstein an seinem Finger, der in der Sonne funkelt. Ein Geschenk von Dr. Fröhlig, von dem er sich vor den Ferien verabschiedet hat. „Wir haben zusammen geredet und gespielt“, hat er gesagt, „eine lange, lange Zeit. Im Herbst, im Winter und im Frühling. Jetzt kannst du allein weiter gehen.“, und seine Finger wanderten von Lars Handspitzen bis über die Schulterblätter.  Als kraxele er das Matterhorn hinauf. Dann zog er den Ring aus der Tasche, der sich so warm anfühlte. „Ein Geschenk. Falls es brennt und Golo wiederkommt. Du musst  ihn dreimal drehen. Dann schicke ich den Schutzgeist zu dir. Den Helfer, der in der Flasche wohnt. Du weißt schon, wen ich meine.“

 

Den Kopfhörer fest auf die Ohren gedrückt, schaltet Lars den CD-Player ein. In dem jetzt Mrs. Doughtfire wohnt. Seit Benjamin Blümchen den Rüssel hängen ließ und im letzten Sommer zurück in den Urwald stampfte.

 

Sie singt in quietschenden Loopingschleifen,

 

bis ihre Stimme plötzlich versackt … dumpf und träge leiert …

 

„Wie die schwarze Scheibe von Onkel Jan“, denkt Lars. Der den Plattenspieler auf dreiunddreißig stellt. Wenn er Quatsch machen will.

 

Während sich feuchte Finger in seine Schulter krallen, gammelt Thunfisch mit Zwiebeln in der Luft. Die Sonne zieht schon würgend die Strahlen ein,

 

als er seine Stimme hört. „Hey, Lars. Ina ruft dich. Weint sich die schönen Augen aus. Komm mit mir. Sie will spiiie …

 

Lars zieht den Ring vom Finger. Stampft.  Bis das Glas unter seinen Füßen klirrt.

 

Und als habe die Krake ihn mit einem Fluch belegt, tropfen schwarze Tränen auf blutrote Splitter.

 

Sie glitzern. Im feinen, weißen Sand.

 

 

 

V 3