Von Daniela Seitz

„Christian, bitte…, ich kann dir nur helfen, wenn du mir erklärst, warum du nicht zur Zwischenprüfung erschienen bist.“

Mein Onkel ist auch gleichzeitig mein Ausbildungsleiter. Daher ist es glaubhaft, dass er mir helfen will. Aber mir kann keiner helfen. Ich schäme mich. Es darf keiner erfahren.

Und überhaupt, will er bestimmt nur den Ruf der Familie retten. Was könnten denn die Nachbarn denken, wenn der 19-jährige die Ausbildung schmeißt. Bloß nicht drüber nachdenken! Lieber ablenken.

Ich beende das Telefonat ohne meinem Onkel zu antworten.

Jetzt erst mal ab auf den Platz!

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Aufgelegt! Mein Neffe hat einfach aufgelegt. Am liebsten würde ich ihn am Kragen packen und ordentlich durchschütteln.

Dass er die Zwischenprüfung versäumt hat, lässt sich wieder gerade biegen. Die finden in den nächsten eineinhalb Jahren noch oft genug statt, dass er sie einfach ein halbes Jahr später nachholen kann. Wenn er denn eine zweite Chance haben will. Danach sieht es aber nicht aus. Was ist nur los?

Ich rufe meine Frau an.

„Na ich habe dir doch gesagt, dass du zu nah an dem Jungen dran bist. Du kannst ihn noch zwanzig Mal auf dem Basketballplatz zur Rede stellen und versuchen ihm Vernunft zu predigen. Du siehst ja nun, dass er das, was von dir kommt, ignoriert.“

„Also soll ich ihn lieber in sein Verderben rennen lassen und zulassen, dass er die Ausbildung einfach so hinschmeißt?“, frage ich entnervt.

„Nein, aber es mal einen unbeteiligten Dritten versuchen lassen. Jetzt probiere schon einen von den SES-Experten aus. Die sind auf die Verhinderung von Ausbildungsabbrüchen spezialisiert.“

„Er ist mein Neffe. Ich sollte ja wohl besser zu ihm durchdringen können, als irgendjemand Fremdes!“, protestiere ich.

„Tu es oder lass es. Aber das ist mein Rat an dich!“, beendet mein Frau das Telefonat.

Schon das zweite Gespräch innerhalb von zehn Minuten, das einfach so endet. Entnervt, weil alle mich abwürgen und verzweifelt, weil ich nicht will, dass mein Neffe seine Zukunft wegwirft, rufe ich nun doch beim Projekt VerA des Senior Experten Service SES an und schildere die Situation.

„Ich fürchte allerdings, dass es zu spät ist. Mein Neffe hat schon angekündigt, dass er auch nicht mehr zur Arbeit kommen will“, schließe ich meinen Bericht.

„Sie sagten ihr Neffe spielt in seiner Freizeit Basketball?“

„Ja, vermutlich ist er gerade wieder auf dem Platz, warum?“

„Nun, es ist eher üblich, dass unsere Experten sich beim Essen mit den Auszubildenden befassen und sie beraten, aber grundsätzlich kümmern sie sich so wie die Auszubildenden es brauchen auch in deren Freizeit um sie. Begleiten zu Terminen, helfen bei Behördenangelegenheiten. Ich schicke einfach einen der Freiwilligen direkt auf den Basketballplatz. Ich habe da schon jemanden im Sinn.“

„Das habe ich bereits versucht. Außerdem ein Rentner, der versucht einem jungen Mann auf dem Basketballplatz beizukommen? Wirkt das nicht lächerlich?“

„Das kommt auf einen Versuch an!“

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Seit zwei Tagen hängt dieser alte Sack an unserem Basketballplatz ab und schaut uns zu. Oft habe ich das Gefühl, dass er mich regelrecht fixiert. Das nervt. Dem werde ich jetzt mal was erzählen. Ich mache mich so groß, wie ich kann und gehe, um Einschüchterung bemüht, auf ihn zu.

„Ey, Alter…“, beginne ich.

„Für dich heißt das ey, Captain!“, unterbricht er mich, „ klar soweit?“

„Was soll…“

„Das wird ein Spiel Mann gegen Mann. Ich fordere dich heraus!“

Während er das sagt, steht er auf. Und ich schrumpfe. Ich bin 1,88 m groß. Aber er muss ein zwei Meter Mann sein. Und überhaupt, wo ich ihn mir so anschaue, scheint er beim Militär Kariere gemacht zu haben. Würde seinen Ton und den Captain erklären. Trotzdem, er ist alt und in die Jahre gekommen. Den müsste ich also schaffen können.

„Na, wenn du unbedingt vom Platz gefegt werden möchtest! Soll mir recht sein“, nehme ich seine Herausforderung an.

Doch die Abreibung verpasst er mir. Und das vor meinen Freunden. Ich bin einfach nur gedemütigt.

„So, Junge, Jugend ist halt nicht alles. Erfahrung kann selbst Vorteile wie Größe und Kraft ausspielen! Morgen sehen wir uns um die gleiche Zeit wieder und dann zeigst du mir, was du aus dem heutigen Spiel an Erfahrung mitgenommen hast!“

Irgendwas an diesem Mann triggert mich so sehr, dass ich die Revanche durchziehe. Eine Woche lang. Jeden Tag. Und jedes Mal macht er mich auf eine andere Art fertig. Und gleichzeitig erzählt er Anekdoten aus seinem Arbeitsleben. Ich würde es nie zugeben, aber er interessiert mich. Seine Anekdoten interessieren mich. Nach dem fünften Mal lädt er mich auf ein Bier ein und ich lausche seinen Erzählungen.

„Das schlimmste für mich waren immer die Prüfungen. Ich hatte regelrecht Prüfungsangst und versaute jede schriftliche und mündliche Prüfung, weil ich einfach jedes Mal Blackouts hatte. Mir brach der Schweiß aus und meine Hände zitterten“, beginnt er ein ganz neues Thema.

Volltreffer ins Schwarze. Bin ich etwa nicht alleine? Er beschreibt haargenau meine Körperreaktionen auf Prüfungen. Und er erzählt es einfach. Ohne Scham. Ohne etwas zurückzuhalten. Vorsichtig wage ich mich aus meiner Deckung hervor.

„Und wie konntest du, ohne die Prüfungen, trotzdem Captain werden?“

„Gar nicht, Junge. Aber ich hatte einen Ausbildungsleiter, der mich nicht aufgegeben hat. Der meine Prüfungsangst erkannte und mir dabei half, die Prüfung trotz Prüfungsangst abzulegen.“

„Und wie geht das?“

„Nun du musst als erstes lernen, darüber zu sprechen! Und du wirst erleben, dass dir das alle Türen öffnen wird, anstatt sie zu verschließen.“

Darüber reden? Das Herz rutscht mir in die Schuhsohle. Wird dort regelrecht platt gelaufen, bis nichts mehr von meinem Mut übrig ist, der eben kurz verschämt an einem Schnürsenkel meines Schuhes gefasst hat. Dann aber den Knoten in der Schnur nicht lösen konnte.

„Junge, ich rieche deine Prüfungsangst. Ich habe sie selbst erlebt und sehe dein Problem ohne dass du etwas sagen musst.“

Das glaube ich ihm nicht nur. Ich spüre es. Er hat etwas, dem ich mich nicht entziehen kann. Er nannte es Erfahrung. Doch es ist so viel mehr und plötzlich bricht ein Damm in mir. Ich will meine Ausbildung schaffen. Ich bin nicht einfach nur faul! Doch genau das denkt mein ganzes Umfeld! Aber er nicht! Ich schildere ihm, dass ich meine Ausbildung verlieren werde. Schütte ihm mein Herz aus.

„Keine Panik! Ruf deinen Onkel an. Morgen gehe ich gemeinsam mit dir und deinem Onkel zu eurem Chef und dann biegen wir das wieder hin!“

Ich folge seinem Rat und zücke mein Handy.

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Dem Projekt VerA – Verhinderung Ausbildungsabrüche verdanke ich meine Ausbildung. Der Captain hat mich sogar zu all meinen Prüfungen begleitet, weil er sich die Zeit nahm, mein Anker im Sturm der Angst zu sein. Ohne ihn hätte ich die Prüfungssituationen nicht ausgehalten.

Wir spielen immer noch Basketball zusammen. Weil er eben nicht dem Schema F gefolgt ist und mich ganz individuell abgeholt hat, hat er mich, den Fast-Systemsprenger wieder eingefangen und integriert. Dafür bin ich ihm dankbar. Und ich werde es als Ausbildungsleiter an die nächsten Auszubildenden weitergeben! Das ist mein Ziel, dass ich nun mit meinem ganzen Herzblut verfolge!

 

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