von Martin Fiß

Paul Lenz kannte diesen Teil der Stadt noch nicht. Ebenso wenig deren Bewohner. Die gelbe Posttasche war prall gefüllt und drückte unangenehm auf das linke Schulterblatt. Seine Kollegen beneideten ihn darum, hier austragen zu dürfen. Schließlich war es das beste Viertel der Stadt.

«Wunderschöne Häuser, reiche Leute und oft ein dickes Trinkgeld!», schwärmten sie ihm vor, als er heute früh davon erzählte, dass er ein neues Gebiet zugeteilt bekommen hätte.

Die Schönheit der Gegend erkannte er sehr wohl, allerdings auch die deutlich längeren Wegstrecken, um von Haus zu Haus zu kommen. Feine Pinkel wohnten hier. In Einfamilienhäusern mit großem Garten und dicken Autos vor der Tür. Paul war skeptisch, ob die Bewohner sich gut mit ihm verstehen würden. Schließlich war er nur ein einfacher Postbote und wohnte in einer kleinen 2-Zimmer-Wohnung am Rande der Stadt, in der Nähe der Müllverbrennungsanlage. ‚Das riechen die bestimmt.‘, schoss es ihm durch den Kopf.

Nach vier anstrengenden Stunden hatte er die meiste Post verteilt. Entgegen seiner Befürchtung begegneten ihm die Menschen hier mit dem nötigen Respekt. Trinkgeld erhielt er trotzdem keins.

Frau Prof. Dr. Ella Schönknecht stand auf dem Einschreibebrief, den er als nächstes austragen musste. Hier in der Straße standen besonders feudale Villen. Der lange Weg zur Haustür war mit Granitsteinen gepflastert. ‚Bestimmt sauteuer.‘, dachte Paul und drückte den Klingelknopf an der Haustür. Dingel-di-dong.

Nichts passierte. Paul klingelte erneut. Dingel-di-dong.

«Wer ist da?», vernahm er eine leise Stimme aus dem Inneren des Hauses. «Post! Habe ein Einschreiben für Frau Prof. Dr. Ella Schönknecht.» Langsam öffnete sich die Tür und fünf Kinder starrten ihn erwartungsvoll an. «Oh, hallo, na wer seid ihr denn?» Ohne zu zögern, stellten sich die Kinder nacheinander mit Verbeugung vor. «Emilia.», «Rasmus.», «Alexander.», «Sophia.», «Kevin.»

Paul schätzte das Alter der Kinder auf 6 – 10 Jahre, wobei Kevin der jüngste Spross zu sein schien.  ‚Fünf Blagen, Herr im Himmel. Haben die keine anderen Hobbies?‘, sinnierte Paul, bewahrte aber sein freundliches Lächeln.

«Wo ist denn die Mama?»

«In Ostsibirien, sie ist ein Nebenfluss des Witim», erklärte Rasmus.
Seine Schwester Emilia zog die Augenbrauen zusammen: «Meinen Sie den kleinen Ort in der Oblast Irkutsk in Russland?»
«Quatsch, bestimmt meint er das Kaff im Bundesstaat Yucatán in Mexiko, wo wir letztes Jahr waren.», widersprach Sophia.
«Ich glaube eher, er meint diese unprofessionelle Lern-Programmiersprache, wie ich sie auf meinem PC habe.», vermutete Alexander.

Entgeistert blickte Paul von Kind zu Kind. «Äh, ich meinte eigentlich…»

«Mama kann jetzt nicht, die ist am Kacken!“, unterbrach ihn Kevin.

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