Von Miklos Muhi

Daniel und Johann schritten leise dem düsteren Flur entlang. Sie hatten vor, das größte Geheimnis des Hauses, in dem sie ihre bisherigen 17 Lebensjahre verbracht hatten, zu enthüllen.

*

Ihr Opa hatte das Haus gebaut, kurz nachdem er geheiratet hatte. Bevor seine Tochter, die Mutter der Zwillinge selbst heiratete, war der erste Stock als Erweiterung, ebenfalls eigenhändig aufgebaut und eingerichtet, fertig.

Den Jungs stand es frei, überall im Haus herumzutoben, sofern sie sich nicht in Gefahr brachten (was verstörend oft der Fall war). Oma die hauptberufliche Witwe, Mutter, Großmutter und Haushälterin schimpfte hin und wieder, wenn das Spielen Beschädigung oder Zerstörung zufolge hatte.

Es gab nur eine einzige Sache, die sie den beiden verwehrte. Das Zimmer am Ende des Flures im Erdgeschoss, mit der massiven Tür aus Eiche war tabu. Neben dem regulären Türschloss gab es zwei weitere, die hochwertig aussahen. Dazu kamen drei riesige Vorhängeschlösser.

Nur Oma war bekannt, wo die Schlüssel lagen. Ihre Bereitschaft, dieses Wissen zu teilen, hielt sich schwer in Grenzen. Sie tolerierte nicht einmal, wenn jemand vor der Tür stehenblieb.

Das alles war Öl aufs Feuer kindlicher Neugierde, doch ohne Schlüssel oder entsprechende Ausrüstung, die man in Krimis sah, blieb den Jungs ihre manchmal überaktive Fantasie.

Aus den sonntagabendlichen Filmen lernten sie, dass es Werkzeuge gab, die ermöglichten, Schlösser ohne Gewalt zu öffnen, und, wenn man geschickt genug damit umging, wieder zu schließen.

Dass der bloße Besitz nicht strafbar war, erleichterte die Suche nach einem Lieferanten im Internet erheblich. Sie fanden dann den einzigen Paketautomaten der nahen Stadt, in der sie zur Schule gingen, der Bargeld akzeptierte. Aus ihrem Taschengeld kam die nötige Summe zusammen.

*

»An die Arbeit«, murmelte Daniel. Ihre Eltern waren im Büro und Oma war im Keller mit der Pflege der überwinternden Pflanzen beschäftigt.

Die Schlösser klickten eins nach dem anderen, bis die Tür nur mit einem einzigen Vorhängeschloss gesichert war.

»Der letzte«, murmelte Johann und machte sich mit dem Dietrich dran. Es klickte und das Schloss sprang auf. Daniel legte seine Hand auf die Klinke und drückte herunter. Die Tür öffnete sich mit einem lauten Quietschen.

Die Ansicht der Einrichtung und der Fotos auf den Wänden war überwältigend. Bevor sie richtig begriffen, was sie da sahen, hörten sie die vertrauten Schritte, die nach Arthrose, Rheuma und einem künstlichen Hüftgelenk klangen.

»Was habt ihr getan?«, fragte Oma mit gebrochener Stimme. Sie weinte. Das kam selten vor und hatte immer etwas mit ihren Erinnerungen an Opa zu tun. »Ihr habt uns alle ruiniert!«

Oma erzählte öfters, dass Opa kräftig und muskulös war. Den Jünglingen aus dem Dorf passte nicht, dass er ihr den Hof machte. Er war ein zugereister »Saupreiß« und seine Annäherungsversuche an ein Mädchen, selbst wenn dieses wegen ihres Sinti-Vaters von allen verabscheut wurde, eine Beleidigung der ganzen Dorfgemeinschaft.

Seine Muskeln und seine Kraft kamen nicht nur von der harten, körperlichen Arbeit. In seinen jungen Jahren war er ein ausgezeichneter Ringer, der zahlreiche Pokale und Medaillen nach Hause brachte. Das war damals niemandem aus dem Dorf bekannt.

Das änderte sich schlagartig (im wahrsten Sinne des Wortes), als die selbsternannten Hüter der Gemeinschaft ihm eines Abends aufgelauert hatten. Was folgte, war jahrelang Gesprächsthema Nummer eins nicht nur im Dorf selbst, sondern im ganzen Landkreis.

Die Angreifer hatten einige Zeit im Krankenhaus verbracht.

Opa hatte die Polizei überzeugt, den Fall zu schließen. Anstatt auf Notwehr zu plädieren, stellte er die ausgewachsene Prügelei als eine Art von gemeinsamer und vor allem freiwilliger Leibesertüchtigung dar. Das brachte ihm den Ruf eines anständigen Kerles und die Akzeptanz der Gemeinschaft.

Die Zwillinge sahen ihren Großvater zum ersten Mal mit nacktem Oberkörper. Was Oma über seine Muskeln erzählt hatte, wirkte als krasse Untertreibung. Selbst auf den Aufnahmen, die ihn mit ergrauten oder weißen Haaren zeigten, sah sein Waschbrettbauch steinhart aus.

Oma war auf den Fotos im Zimmer nicht abgebildet. Auf den meisten sah man Opa nicht allein. Männer mit ähnlichen körperlichen Qualitäten standen neben ihm. Manchmal umarmten sie sich und es sah eindeutig nicht nach einer Umarmung unter Kumpels aus.

In der Mitte des Zimmers stand ein riesiges Bett und ein Schrank war gegenüber des Fußendes zu sehen. Beide waren tiefschwarz lackiert, im Farbton der Bettwäsche.

»Wisst ihr …«, sagte Oma.

»Opa mochte auch Männer?«

»Ja. Nun ist es raus. Niemand wird je wieder mit uns sprechen.«

»Aber warum habt ihr geheiratet?«

»Sonst wäre ich zeitlebens ledig geblieben und wenn ein junger Mann zu lange Junggeselle bliebt, tuschelten die Leute. Ich war so glücklich, dass er Interesse an mir zeigte. Er verdiente ausgezeichnet, so war ich nie gezwungen, für Fremde außerhalb des Haushaltes zu arbeiten.«

»Wusstest du das von Anfang an?«, fragte Daniel.

»Ja, er hat alles erzählt, aber das war mir egal. Da habe ich mich schon Hals über Kopf in ihn verliebt. Er war so romantisch und zärtlich.«

»Opa ist vor unserer Geburt gestorben. Warum hast du das Zeug nicht wegschaffen lassen?«

»Dazu hätte ich Hilfe gebraucht. Schlösser an der Tür anzubringen, das schaffe ich allein. Mein Vater war Schlosser. Da lernt man so etwas.«

»War das sein Zimmer?«

»Ja. Ich habe es aus Liebe zu ihm zugelassen.«

»Oma, du warst zu lange mit dem Haushalt beschäftigt. Es gibt eine Welt außerhalb dieses Hauses und wir haben ausgezeichnete Neuigkeiten für dich. Heutzutage ist allen egal, wer mit wem schläft«, sagte Johann.

»Aber …«

»Schwule heiraten heute untereinander«, warf Daniel ein.

»Echt jetzt?«

»Ja.«

»Bitte behaltet, was ihr hier gesehen und erzählt habe, für euch. Nicht einmal eure Mutter weiß es.«

»Da hätte ich meine Zweifel«, sagten Johann und Daniel fest gleichzeitig und lachten auf. Auf einmal waren zahlreiche Halbsätze und Andeutungen ihrer Eltern verständlich.

»Kinder, Opa war …«, fing sie an zu sprechen.

»Opa war cool. Ein Hetero ist cool, aber ein Schwuler ist cooler, Oma«, sagte Daniel und umarmte seine durch ihre Tränen lächelnde Großmutter.

 

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