Von Brigitte Noelle
(aus dem Tagebuch von Hedwig Lösche)
15.3.1938
Welch ein Jubel! Ich war mit einigen Studienkollegen am Heldenplatz, als der Führer den Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich verkündete. Normalerweise bin ich ja zurückhaltend, aber die Begeisterung der Menge hat mich doch mitgerissen. Wie gut, dass ich für das Studium nach Wien gekommen bin und diesem historischen Ereignis beiwohnen durfte!
17.6.1938
Heute habe ich die Prüfung in Organischer Chemie bei Professor Heger bestanden. Was für ein freundlicher, sympathischer Mensch! Leider kann man das von seinem neuen Assistenten, Gunther Bärenbeißer, nicht behaupten. Als ich zur Prüfung angetreten bin, hat er mich so abschätzig behandelt – ich glaube, er mag nicht, dass Frauen studieren. Da war sein Vorgänger, Arthur Goldstern, schon ganz anders! Aber wie ich hörte, hat er gleich nach dem Einmarsch des Führers unser Land verlassen.
22.10.1940
Professor Heger hat mich zu einem Gespräch in seinem Arbeitszimmer eingeladen. Er hält mich, meinte er, für seine begabteste Studentin und fragte, ob ich ihm ab und zu bei seinen Arbeiten helfen könne – auch in Hinsicht auf meine Dissertation, die ich voraussichtlich im nächsten Jahr beginnen werde. Natürlich sagte ich zu und freue mich darauf. Vielleicht werde ich dabei ja auch herausfinden, woran der Professor in seinem „Privatkammerl“ arbeitet. Das ist ein Nebenraum seines Zimmers, dessen Türe immer abgeschlossen ist, und er selbst scheint nur darin zu arbeiten, wenn außer ihm niemand mehr im Institut ist. Er hat ja, soweit ich weiß, als einziger einen Schlüssel. Man sagt, dass er dort Versuche für eine Geheimwaffe für die Wehrmacht vornimmt.
8.5.1941
Heute kam ich eben dazu, wie sich der Professor zackig von zwei Wehrmachtsoffizieren verabschiedete. Zurück in seinem Zimmer, schwankte er und erreichte nur mit knapper Not seinen Stuhl, in den er sich fallen ließ und einige Minuten mit geschlossenen Augen dasaß. War es die anstrengende Arbeit an seiner Geheimwaffe? Bestimmt hantiert er dabei mit gefährlichen Chemikalien. Oder ist er vielleicht krank? Er sieht nicht gut aus, und im vergangenen Jahr hat er stark abgenommen. Ich bin besorgt. Hoffentlich fehlt ihm nichts Ernstes!
9.5.1941
Ich habe einen Teil meiner Lebensmittelmarken eingelöst und ihm einen Kuchen gebacken. Ich brachte ihn auf meinem schönsten Teller ins Institut. Gesagt habe ich dem Professor, dass mir meine Eltern ein Paket mit Mehl und Eiern geschickt hatten. Er hat sich darüber wirklich gefreut und sich überschwänglich bedankt. „Sie wissen ja nicht, Fräulein Lösche, welche Freude Sie mir damit machen“, sagte er und kostete eine kleine Ecke. „Den Rest werde ich mir für heute Abend aufheben.“
Wie schön, dass ich ihm helfen konnte! In Zukunft werde ich ihm, so oft ich auf ein paar Lebensmittel verzichten kann, etwas backen.
9.5.1941 Nachtrag:
Als ich vor meiner Wohnungstür stand, bemerkte ich, dass mein Schlüsselbund fehlte. Ich musste ihn wohl auf meinem Schreibtisch vergessen haben. Also wanderte ich wieder zurück und suchte überall. Schließlich fand ich ihn im Bücherregal von Professor Hegers Handapparat. In diesem Moment trat der Professor aus dem Nebenraum, in der Hand einen Wasserkrug und meinen mittlerweile leeren Kuchenteller. Einen Moment war er sichtlich erschrocken, doch fing er sich gleich wieder und war freundlich und zuvorkommend wie immer. Ich frage mich jedoch, warum er zum Essen in sein Chemielabor geht?
3.11.1941
Gunther Bärenbeißer, der Assistent Professor Hegers, wird zur Wehrmacht eingezogen. Damit kann ich offiziell Assistentin werden. Eigentlich sollte ich es ja bedauern, dass Bärenbeißer in den Krieg geschickt wird, aber insgeheim freue ich mich: Einerseits über meinen Karriereschritt, anderseits war mir dieser Assistent immer feindlich gesinnt. Wir leben eben in schweren Zeiten. Aber langsam frage ich mich, ob all die Opfer, die uns abverlangt werden, es auch wert sind?
5.11.1941
Als ich die Unterlagen, die der Assistent hinterlassen hatte, durchsah, fand ich eine Notiz, der zufolge Professor Heger an einem Mittel arbeitete, das alle Bäume und Sträucher, die damit in Berührung kommen, entlauben kann. Was für eine schreckliche Waffe! Offenbar versuchte Bärenbeißer herauszufinden, warum die Entwicklung dieses Stoffes keinen Fortschritt machte. War er etwa ein Spitzel der Behörde? Eigenartig, der Professor ist doch absolut linientreu und ein überzeugter Parteigenosse!
6.3.1942
Meine Welt ist eingestürzt! Ich kann es nicht fassen, kann mich selbst nicht fassen. Ich bin noch ganz durcheinander und versuche, durch meine Notizen zur Ruhe zu kommen.
Also, der Reihe nach: Heute früh begann der Tag wie immer, doch gegen Mittag, als Professor Heger nach einem Buch in seinem Regal griff, schwankte er, griff sich ans Herz und wäre beinahe gefallen; ich konnte ihn gerade noch auf einen Stuhl setzen und rief unverzüglich die Rettung, die ihn ins Allgemeine Krankenhaus brachte.
Fast von Sinnen vor Angst fand ich mich beim behandelnden Arzt ein. Der bestätigte meine Befürchtung: Professor Heger hatte einen Herzinfarkt erlitten. „Viel Ruhe, kräftige Nahrung, und in ein paar Tagen ist er wieder gesund“, meinte der Mediziner. „Er möchte übrigens mit Ihnen sprechen.“
Ich wartete am Bett des Professors, bis er erwachte. Er sah gar nicht gut aus, sein Gesicht war blass und eingefallen – wie alt wirkte er nun, so ohne seine lebendige Mimik, seine freundliche Ausstrahlung!
Schließlich öffnete er die Augen, sah mich und versuchte, Worte zu formulieren. Ich beugte mich zu ihm hinab, um ihn besser zu verstehen. „Fräulein Lösche“, flüsterte er, „bitte versprechen Sie mir, dass Sie zu niemandem ein Sterbenswort darüber reden.“
Was versprach ich lieber als das – schon immer wollte ich doch seine Vertraute sein!
Doch was ich nun hörte, stellte mich vor ein Rätsel: „Gehen Sie in mein Arbeitszimmer. Holen Sie bitte meine Lebensmittelmarken aus der Schublade und besorgen Sie Essen für heute und das Wochenende. Das bringen Sie in mein Zimmer, aber lassen Sie sich dabei von niemandem beobachten. Dann füllen Sie den Krug mit Wasser. Und dann …“ Er stöhnte, holte mit zitternden Händen einen Schlüssel hervor, den er an einer Kette um den Hals trug. „Dann sperren Sie mit diesem Schlüssel mein Privatzimmer auf und bringen alles hinein.“
Verwirrt nahm ich Abschied und befolgte seine Anweisungen. Was mochte er damit bezwecken?
Meine Gefühle wirbelten durcheinander wie ein Schwarm aufgestörter Hornissen. Sorge, Neugier, auch Freude, ihm einen Dienst erweisen zu können, das alles bereitete mich nicht auf das vor, was sich hinter der Türe verbarg. Das Licht auf dem Schreibtisch des Professors erhellte spärlich die Kammer, in der ich eine Gestalt erkennen konnte, die wort- und regungslos an einem Tisch saß. Als ich eintrat, wandte sie sich mir zu. Meine Augen hatten sich schnell an die Dunkelheit gewöhnt und ich erkannte ihn, auch wenn er bleich und ausgemergelt geworden war. Arthur Goldstern, der frühere Assistent des Professors! Der, den wir im Ausland in Sicherheit glaubten!
Er war erschreckt wie ich, sogar noch mehr. Ich erklärte ihm, was passiert war und entfernte mich so bald wie möglich. Ich brauche Ruhe, um mich zu fassen.
Als ich das Gebäude verließ, schreckte ich bei jedem Geräusch zusammen. War mir jemand auf der Spur? Wurde ich verfolgt? Kennt jemand das Geheimnis?
Es ist nun drei Uhr morgens, und ich finde keinen Schlaf. Ich werde etwas Bromural nehmen und hoffen, dass morgen alles klarer erscheint.
10.3.1942
Professor Heger liegt immer noch im Krankenhaus und ich versorge Herrn Goldstern. Ich erinnere mich daran, wie freundlich er früher zu mir unsicheren Studienanfängerin war, die frisch vom Land in die Großstadt gezogen war. Damals war ich von seinem einnehmenden Äußeren sehr beeindruckt. Es erinnerte mich an die Abbildungen junger griechischer Gottheiten. Die Karikaturen im „Stürmer“ zeigten die Juden immer als hässliche, alte Männer, aber schon damals kamen mir Zweifel, ob die Zeitungen immer recht hatten.
Das alles führt dazu, dass wir regelmäßig ein paar Worte wechseln, wenn ich ihn versorge. So erklärte er mir, dass Professor Heger sich zwar als überzeugter Nationalsozialist gab, aber das war nur Fassade: „Ich habe selten einen freundlicheren, liebevolleren Menschen kennengelernt. Und natürlich hätte er nie diesen schrecklichen chemischen Kampfstoff entwickelt. Er musste ja selbst im Ersten Weltkrieg als junger Soldat mit ansehen, welche Gräueltaten verübt wurden.“
Langsam erlange ich wieder etwas Zuversicht. Wenn Professor Heger wieder gesund ist, können wir uns gemeinsam um Herrn Goldstern kümmern.
12.3.1942
Vorbei! Alles vorbei!
Als ich Professor Heger besuchen wollte, fand ich ein leeres Bett vor. Die Krankenschwester der Station, der ich entgeistert in die Arme lief, teilte mir die schreckliche Nachricht mit: Der Professor war vor einer Stunde gestorben. Bestimmt war das Institut bereits davon in Kenntnis gesetzt. Man würde schnell einen Nachfolger bestimmen, der das Büro in Beschlag nehmen würde. Die Wehrmacht würde die Unterlagen zur Geheimwaffe in Sicherheit bringen wollen. Wir würden entdeckt werden, und dann …
Ich habe solche Angst, bekomme kaum Luft vor Furcht.
Was soll ich nun tun? Flüchten! Aber wohin? Sollte ich Goldstern heimlich hinaus bringen? In der Wohnung des Professors unterbringen, bis er eine Fluchtmöglichkeit finden würde? Aber wie?
Zu meinen Eltern fahren? Aber dort würden sie als erstes suchen! Alles vergeblich – aber hier habe ich noch eine Packung Schlaftabletten. Damit könnte ich mich … Aber ich will doch leben!
Ich sehe aus dem Fenster. Eben nähert sich ein Auto, parkt vor dem Haus und drei Uniformierte steigen aus.
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