Von Peter Wobbe

Pünktlich um 15.30 Uhr an einem Samstag läutet es an der Tür eines Reihenhauses in der Siedlung „Sonnenschein“. Das Ehepaar Stein ist von Ehepaar Kant zu einem Kennenlernkaffee eingeladen worden. Herr Kant, ein kleiner Mann mit Halbglatze und Waigel-Augenbrauen, öffnet, bedankt sich für den mitgebrachten Blumenstrauß und führt sie ins Wohnzimmer.
„Mein Frau ist noch in der Küche, bei den Vorbereitungen“, erklärt er.
Sie setzen sich in die Sessel der weißen Ledergarnitur.
Aus der Durchreiche hört man ein dunkles „Hallo“ der Gastgeberin und geschäftiges Klappern mit Besteck und Geschirr.
Die drei sitzen um den Wohnzimmertisch herum, wechseln ein paar stumme Blicke und verfallen in ein ausführliches Schweigen.
Frau Stein räuspert sich verlegen. „Schön haben Sie es hier. Die schwarzen Bodenfliesen  und die schwarzen Tapeten, sehr harmonisch.“
„Ja, sehr harmonisch“, bestätigt Herr Stein.
„Für unsere Gäste nur das Beste“, erwidert Herr Kant nicht ohne Stolz.
Jetzt hört man das Klackern von Stöckelschuhen im Flur.
Frau Kant, etwa doppelt so schwer wie der Hausherr, betritt den Wohnraum.
„Schön, dass Sie unsere Einladung angenommen haben.“ Sie gibt beiden Steins ihre pflaumige Hand.
„Können wir Ihnen irgendwie behilflich sein?“, fragt Frau Stein lächelnd.
„Aber ja“, sagt Herr Kant und seine Frau nickt zustimmend. „Der Kuchen ist noch nicht ganz fertig, vielleicht helfen Sie uns?“
Steins schauen sich erstaunt an, dann entscheiden sie sich für ein höfliches Lachen.
„Ja, sicher helfen wir Ihnen“, erwidert Frau Stein und stupst ihren Mann aufmunternd an.
„Na, dann zeige ich Ihnen mal die Küche, folgen Sie mir!“
Über den Flur geht es in die Küche. Weiße Fliesen bis zur Decke, Edelstahlgeräte im Neonlicht. Kants Gesicht erscheint auf der anderen Seite der Durchreiche, als wolle er seine Gäste kontrollieren.
„Was sollen wir machen?“, fragt Stein.
„Also, Folgendes …“ Frau Kant lässt eine Pause. „Der Kuchen müsste noch gebacken werden … und  Kaffee wäre auch ganz nett. Die Backzutaten und Schüsseln stehen hier und der Handmixer hängt hinter Ihnen an der Wand.“
„Was bitte?“, fragt Stein ungläubig. Seine Stimme hat einen sauren Beiklang bekommen. „Das soll wohl ein Scherz sein!“
Seine Frau reagiert schneller. „Wir machen das schon.“ 
Sie schnappt sich eine Schüssel und fängt an zu arbeiten.
Zufrieden verlässt Frau Kant die Küche.
Aus der Durchreiche hören sie Kants Stimme. „Bitte denken Sie daran, alles sauber zu hinterlassen! Ihr Mann hilft Ihnen sicherlich dabei. Sauberkeit ist ja nicht nur Frauensache.“
Zunächst bringt Stein vor Empörung kein Wort heraus, dann presst er ein „Wir waren eingeladen“ hervor.
„Das ist doch kein Grund, nichts zu tun. Oder wollen Sie Ihr Hilfsangebot zurückziehen?“
„Aber nein“, antwortet Stein irritiert, zum einen, weil seine Frau schon die Backzutaten abwiegt, zum anderen, weil er kein Küchenmensch ist. Doch der Handmixer erinnert ihn an seine heimische Bohrmaschine, das gibt ihm Sicherheit und er nimmt das Gerät von der Wand.
Während seine Frau die Backzutaten in die Schüssel gibt, flüstert er ihr zu: „Was machen wir hier eigentlich?“
„Ich weiß nicht. Aber es ist ja nichts dabei, eben einen Kuchen zu backen.“
„Meinst du?“
Verstohlen schauen die Steins zur Durchreiche und sehen zwei Augenpaare, die auf sie geheftet sind.
„Wenn Sie weiter so viel reden, wird aus dem Kaffeetrinken ein Abendessen.“
Frau Kants Stimme klingt leicht ironisch.
„‘tschuldigung“, sagt Stein automatisch.
„Na, geht doch“, brummt sie zufrieden.
Plötzlich schreit sie: „Um Gottes willen, was machen Sie denn da? Sie ruinieren ja meinen Kuchen! Nicht die Schokostreusel!“
Aber es ist schon zu spät. Auch die Streusel, die als Dekoration gedacht waren, sind in der Schüssel gelandet.
Die Gesichter verschwinden aus dem Loch in der Wand.
Herr Stein schaltet den Handmixer ein und übersieht dabei, dass der sich auf der höchsten Stufe befindet. Als er ihn in die Schüssel taucht, spritzt der Inhalt gegen die umliegenden Edelstahlflächen und Fliesen und die Schüssel landet scheppernd auf dem Boden.
„Was ist denn hier los?“, bellt Frau Kant. „Können Sie nicht vorsichtiger sein? Sie sind schließlich hier eingeladen!“
„Was?“, fragt Stein verdutzt. „Ich habe das Gerät nur eingeschaltet!“ 

„Wie dumm kann man sein?“, ereifert sich Frau Kant und kneift die Augen zusammen.
Stein wirft den Mixer wütend auf die Arbeitsplatte. „Ich denke, wir sind hier die Gäste!“
„Was ist denn auf einmal los, warum dieser Wutausbruch?“, versucht Kant einzulenken.
Doch Stein ist nicht mehr zu bremsen. „Ich hatte sowieso keine Lust auf diese komische Einladung von Leuten, mit denen man sich nichts zu sagen hat!“
„Wolf!“, ruft Frau Stein. „Entschuldigen Sie, mein Mann hat es nicht so gemeint.“
„Wir haben verstanden“,  sagt Herr Kant beleidigt. „Wir laden Sie ein, räumen das ganze Haus auf, kaufen ein und für wen? Dabei sind Sie ganz uninteressante Leute.“
„Warum haben Sie uns dann eingeladen?“, fragt Stein.
„Nur aus Höflichkeit, aus keinem anderen Grund, trotz der Warnung Ihrer Nachbarn Müller und Becker, Sie wären Langweiler.“
„Wissen Sie, was Müllers und Beckers über Sie sagen?“, trumpft Stein auf. „Sie sind Nassauer, die andere nur ausnutzen, und man sollte sich vor Ihnen in Acht nehmen.“
Kants Augenbrauen beben, während das Gesicht seiner Frau vor Ärger rot anläuft.
„Verlassen Sie sofort unser Haus!“, schnaubt sie.
„Darauf können Sie Gift nehmen, uns sehen Sie nie wieder“, entgegnete Stein trocken. Dann stapft er mit seiner Frau Richtung Ausgang. Unterwegs klopft er die Teigreste demonstrativ von seinem Anzug.
„Sie sind ein altes Ferkel!“, keift Frau Kant wütend.
„Alte Schnepfe!“, ruft Stein über die Schulter zurück.
„Scheren Sie sich zum Teufel!“, brüllt Kant und wirft die Haustür hinter den Gästen zu.
„Ich mag diese Steins nicht, woher kennen wir die eigentlich?“ Er dreht sich zu seiner Frau und schüttelt den Kopf.
„Wir haben sie über Müllers kennen gelernt, als wir bei Beckers zum Kaffeetrinken eingeladen waren, Schatz.“
„Ach ja, richtig, Die müssen wir auch einmal wieder einladen.“
„Müllers oder Beckers?“
„Beide.“

 

V2