von Marianne Apfelstedt

 

Unter dem Betttuch drehte sich die Frau von einer Seite zur anderen, die geschlossenen Augenlider zuckten, ein Stöhnen entrann ihren Lippen. Sie wand sich wie ein Fisch im Kescher, verwickelte sich im Bettlaken und wurde tiefer in ihren Traum hineingezogen. Sie träumte von Wasser. Zuerst war es nur ein Trinkglas voll, es bildete sich ein Strudel wie beim Umrühren eines Löffels. Es dehnte sich aus, reichte bis zum Horizont und Inés war darin gefangen. Der Wasserwirbel zog sie an wie das Licht die Motten. Ein Sturm zog auf, peitschte das Wasser, drohte sie zu verschlingen. Sie schwamm um ihr Leben, weg vom Zentrum.

Das Weckersignal katapultierte sie aus ihrer Traumwelt. Ihre Glieder waren bleischwer wie nach einem Marathon. Der heiße Wasserstrahl in der Dusche spülte den Nachhall des Albtraumes in den Ausguss und lockerte die verspannten Muskeln. Mit jedem Tropfen, der abperlte, löste sich das Nachtgespinst weiter auf.

 

„Guten Morgen Inés. Bist du heute ausgeruht?“

„Dein Schlaftee hat mir beim Einschlafen geholfen. Ich habe wieder von Wasser geträumt, erinnere mich aber nicht an Einzelheiten.“

„Soll ich dir die Karten legen, Inés?“

„Nein Tante Mila. Ich glaube nicht an Tarotkarten. Tut mir leid.“ Mila zog fragend die rechte Augenbraue nach oben.

„Diese Träume sind eine Nachricht. Nichts passiert ohne Grund, dein Unterbewusstsein versucht dir etwas mitzuteilen, du bist genauso stur wie mein toter Bruder Arthur.“

„Ich glaube erst, dass Vater nicht mehr zurückkommt, wenn ich mich nächste Woche selbst in Bolivien davon überzeugt habe. Für mich ist sein aktueller Status – vermisst.“

***

Sechs Monate vorher in Bolivien.

Professor Arthur Fuchs betrachtete mit der Lupe ein Artefakt, dass vor ihm am Schreibtisch lag. Eine Sanduhr, so groß wie sein Handteller, dass bauchige Glas gefüllt mit grünem Sand, fühlte sich kühl an. In der hereinfallenden Sonne glänzte das dunkle Holz. Die Hieroglyphen hatte er in sein Tagebuch übertragen. Leider musste er dieses Artefakt zusammen mit den anderen zur Bestimmung ins Museum Munarq nach La Paz bringen. Es sollte bestätigt werden, dass diese Fundstücke nicht von den Inkas, sondern der Pacajes-Kultur abstammten.

***

Ihr Sitznachbar erschien kurz vor dem Start. Er verstaute eine große Reisetasche im Gepäckfach über den Sitzplätzen.

„Wenn du möchtest, kannst du gerne den Fensterplatz nehmen.“ Sie rutschte auf den anderen Sitz.

„Danke, ich bin Inés.“ Sie betrachtete ihr Gegenüber. Der junge Mann mit den blonden Locken und den blauen Augen schien etwa in ihrem Alter zu sein.

„Hey, ich bin Mark Mertens und verbringe die vorlesungsfreie Zeit in einem Champ bei La Paz. Machst du Urlaub in Bolivien?“

„Nein, ich besuche meinen Vater, der hier arbeitet.“

„Cool, dann bist du sicher öfter hier und sprichst spanisch.“

„Ich habe ihn bisher nie besucht, Spanisch kann ich nur wenige Brocken, mit englisch komme ich schon durch.“

„In La Paz ja, außerhalb sieht das anders aus. Letztes Jahr habe ich auch hier gearbeitet, dadurch haben sich meine Sprachkenntnisse enorm verbessert.“ Mark erzählte ihr amüsante Anekdoten von seinem Studium. Verblüfft stelle Inés fest, dass Mark ihren Vater kannte, er hatte mit ihm zusammen Artefakte katalogisiert. Nach einem kleinen Imbiss schaltete sie ihre AirPods an, hörte Musik und schlief kurz darauf ein. Beim Landeanflug verstaute Inés Handy und Ohrstöpsel in der Bauchtasche. Die Passagiere erhoben sich, klappten die Gepäckfächer auf und zogen ihr Handgepäck heraus. Langsam schob sich die Menschenschlange zum Ausgang. Inés kam mit den Fingerspitzen nur knapp an den Rand der Klappe über den Sitzen. Beim Abflug hatte die freundliche Flugbegleiterin ihre Utensilien im Ablagefach verstaut. Mark saß noch und überprüfte Nachrichten auf seinem Handy.

„Komm, ich helfe dir,“ bot er an. Der junge Mann streckte die braun gebrannte Arme zum Gepäckfach nach oben und zog Jacke und Laptoptasche hervor. Mit einem: „Hier bitte!“, drückte er ihr beides in die Hände. Ihre kalte Hand berührte kurz seine warme, dabei rieselte ihr ein Schauer über den Rücken. Inés murmelte ein „Danke“ und schlüpfte in die Jacke. Sie reihten sich in den Gang ein und Mark erzählte ihr von seiner Bachelorarbeit zum Thema Inkas und dem Austausch mit Professor Fuchs, mit dem er jetzt wieder zusammenarbeiten würde. Soll ich Mark von Vater´s verschwinden erzählen?

„…dann mach es mal gut. Ich muss schauen, dass mir mein Bus nicht vor der Nase wegfährt, sonst komme ich heute nicht mehr weiter,“ verabschiedete sich Mark und schlängelte sich eilig durch die Reisenden. Ein ganzes Stück vor sich sah sie den Lockenkopf davonziehen. Sie bewunderte die muskulösen Arme, die aus dem grauen T-Shirt ragten. Chance verpasst, wieso habe ich ihm nicht gesagt, dass sein Professor mein Vater ist?

Beim Koffer-Ausgabe-Band behielt Inés die Gepäckstücke im Auge, da neun von zehn schwarz waren, um ihren Rucksack nicht zu verpassen. Mark hatte den Bus verpasst und entdeckte die kleine dunkelhaarige Frau, die ihm ausnehmend gut gefiel, am Kofferband. Er tippte ihr auf die Schulter.

„Man sieht sich immer zweimal. Mir ist der Bus vor der Nase weggefahren, jetzt muss heute Nacht in La Paz bleiben. Wo bist du untergekommen?“, ertönte sein warmer Bariton. Nachdenklich sah sie Mark an: Blaue Augen, Sommersprossen mit Grübchen in den Wangen und schmale Lippen.

„Ich habe ein Zimmer im Adventure Brew Hostel reserviert, du kannst ja dort fragen, ob etwas frei ist.“ Inés schnappte sich ihren Rucksack vom Band, hievte ihn mit Schwung auf den Rücken und zurrte ihn fest. Sie lief zügig zum Ausgang des Gebäudes, Mark folgte ihr.

„Ich habe im Camp angerufen und mitgeteilt, dass ich einen Tag später komme. Mir wurde gesagt, dass Professor Fuchs nicht mehr da ist. Jetzt kann ich mich nicht für seine Hilfe bei der Bachelorarbeit bedanken.“ Inés fror ein, worauf Mark, der dicht hinter ihr ging, prompt auf ihre Fersen trat.

„Sorry! Wieso bleibst du stehen, wenn du vorher wie eine Harpune durch die Menschen gepflügt bist?“ Sie drehte sich zu ihm um, hob Kopf in den Nacken und sah ihm in die Augen.

„Der Professor ist mein Vater und ich bin hier, um herauszufinden, warum er verschwunden ist.“

 

Nachdem beide ihr Gepäck ins Hostel gebracht hatten, aßen sie in einem kleinen Café Humintas, herzhaft gefüllte Teigtaschen. Inés erzählte Mark von dem Brief der deutschen Botschaft, der sie über den Tod ihres Vaters in Kenntnis gesetzt hatte. „Bei Todesursache wurde Ertrinken unter nicht bekannten Umständen angegeben. In Klammer stand, Leiche nicht gefunden. Das glaube ich nicht!“

„Was genau haben dir die Mitarbeiter des Professors mitgeteilt?“

„Mein Vater hatte vor, in das archäologische Museum nach La Paz zu fahren, um sich dort über Artefakte auszutauschen. Aus irgendeinem Grund hat er einen Stopp an einem Wasserfall eingelegt. Der Jeep mit den Ausgrabungsgegenständen und seinen Aufzeichnungen wurde an der Straße nach La Paz entdeckt, bei einer Gruppe von Kakteen“, erzählte Inés.

„Woher weißt du, dass dein Vater an diesem Katarakt war?“

„Sein Hut wurde dort auf den Felsen gefunden. Den hat er von seiner Schwester zum Geburtstag bekommen und immer getragen.“ Im Laufe des Abends beschlossen sie, einen Geländewagen zu mieten und sich diesen Wasserfall am nächsten Tag aus der Nähe anzusehen. Auf dem Weg zurück ins Hostel lief Inés neben Mark, der den Arm um sie legte. Seine Wärme drang durch ihre Jacke auf ihre Haut und umspannte ihr Herz.

 

In dieser Nacht träumte Inés nicht vom Wasser. Sie sah ihren Vater im Traum, in den Händen hielt er einen merkwürdigen Gegenstand. Eine Sanduhr, etwa handgroß und im Inneren schimmerte sie grün.

 

Unterwegs hielten sie einmal an, um eine Frau im roten Rock mit buntem Schultertuch nach dem Weg zu fragen. Jetzt war Inés froh, dass Mark spanisch sprach. Sie stellten das Auto bei den Säulenkakteen ab und hörten schon beim Aussteigen das Rauschen des Wasserfalls. Der schmale Pfad endete am Wasserbecken, das von Felsen umringt war. Auf der gegenüberliegenden Seite fiel das Wasser über Felsgestein in den See.

„Am besten trennen wir uns hier und suchen das Ufer ab. Wenn du etwas entdeckst, rufst du mich und umgekehrt. Pass auf, falls die Steine rutschig sind“, mahnte Mark und schon suchte er konzentriert die Felsen ab. Inés lief in die entgegengesetzte Richtung davon. Ihre Blicke schweiften des öfteren zu Mark ab, dessen Lockenkopf immer mal wieder zwischen dem Buschwerk auftauchte. Ein großer Baum versperrte ihr das Vorwärtskommen, deshalb suchte sie sich ihren Weg durch hüfthohe Sträucher weiter vom Wasser entfernt. Sie stolperte und landete unsanft auf dem Boden. Hinter ihr ragte etwas aus der Erde. Mit den Händen tastete sie über das Objekt. Es war von Dreck verkrustet. Sie nahm den Fund mit und lief den Weg zurück zum Becken. Auf einem der Felsen kniend tauchte sie den Gegenstand ins Wasser. Der Schmutz verschwand und sie erkannte die Sanduhr aus ihrem Traum. Fasziniert drehte sie das Glas um. Der grüne Sand floss in die untere Kammer. Der See vor ihr bildete einen Strudel, der sich schon bald bis zum Ufer ausbreitete. Inés stand auf und ihr Blick suchte Mark. Plötzlich verlor sie das Gleichgewicht und rutschte in das Wasser, wie in ihrem Traum zog sie der Strudel an. Ihre Kraft reichte nicht, sie ließ die Sanduhr los, um sich mit beiden Armen aus der Strömung zu befreien.

 

Der Sog erfasst Inés und zieht sie nach unten. Bevor ihr Kopf versinkt, hört sie zwei Stimmen ihren Namen rufen, die von Mark und ihrem Vater.

 

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