Von Bora Buonder
Er sass genau da, wo ich ihn erwartet hatte: im hintersten Winkel des Cafès, am runden Tisch. Den Laptop vor sich auf dem Tisch und einen Latte Macchiato daneben. Er schien konzentriert in die Tasten zu hauen und bemerkte mich nicht sofort. Das gab mir die Gelegenheit, ihn eingehender zu betrachten. Er hatte sich in dieser kurzen Zeit nicht verändert. Immer noch trug er die Brille auf der Nasenspitze. Die blonden Haare zeigten in alle Richtungen, wie ein Kornfeld nach einem Gewittersturm. Er trug ein weisses T-Shirt, hellblaue Jeans und eine schwarze Weste. Langsam ging ich auf ihn zu und begrüsste ihn scheu. „Mein Gott, Melanie! Du bist es wirklich! Ich habe schon fast nicht mehr daran geglaubt, dich jemals wiederzusehen!“ Mit diesen Worten stand Ralph auf und umarmte mich herzlich. „Trinkst du einen Kaffee?“, wollte er wissen und räumte die Tasche vom zweiten Stuhl weg. Mit einer Handbewegung gab er dem Kellner zu verstehen, dass er noch zwei Latte bringen soll. Dann setzte er sich mir gegenüber, schob den Laptop zur Seite und schaute mir tief in die Augen. Wieder überkam mich dieses Gefühl von Geborgenheit und Ruhe, das ich schon bei unserem ersten Treffen empfand. „Es ist schön, dich zu sehen.“, stammelte ich und erntete ein sanftes Lächeln. „Ich denke oft an unsere Begegnung im Zug. Du warst so unglücklich. Hat sich etwas bei dir verändert?“, wollte Ralph wissen.
Es war damals ein Tag zum Davonlaufen. Im Büro ging so ziemlich alles schief, was schief gehen konnte. In letzter Minute wollte der Chef noch die morgige Präsentation auf seinem Tisch haben. Nach –zig Sitzungen war die Firma immer noch nicht zu retten. Verwaltungsrat und Chefetage liefen Amok. Ich arbeitete an jenem Tag bis um Mitternacht und rannte auf den letzten Zug, den ich knapp erreichte. Zu spät bemerkte ich, dass ich das Handy im Büro liegen gelassen hatte. Mist, auch das noch! Ich musste kurz eingenickt sein. Denn als der Zug hielt, erkannte ich nicht die gewohnte Bahnstation sondern gähnende Finsternis. Ich stand auf und wollte zur Waggontür, als das Licht löschte. Mehrmals drückte ich auf den Türöffner, doch nichts tat sich. Ich hielt die Hände vors Gesicht und schaute durch die Glastür. Der schwache Schein einer nahen Strassenlaterne liess viele Geleise erkennen. Ich war auf dem Abstellgleis gestrandet! Hatte ich wirklich geschlafen? Oder war ich in den falschen Zug gestiegen? Ich konnte mir keinen Reim darauf machen, weshalb der Zug nicht an der gewohnten Haltestelle hielt. Panik machte sich in mir breit und ich versuchte auf der anderen Seite herauszuschauen. Aber dort war es noch finsterer. Ich tappte zurück zur Sitzbank, wo ich die Handtasche gelassen hatte. Vorsichtig suchte ich nach einem festen Gegenstand, mit dem sich eine Scheibe einschlagen liess. Waren da nicht jeweils so kleine rote Hammer für diesen Zweck im Zug? Oder war das im Bus? Ich fand nichts und versuchte es erfolglos mit einem meiner Schuhe.
„Nicht so fest! Sie tun sich noch weh!“, hörte ich auf einmal eine männliche Stimme sagen. Bei meinen Anstrengungen hatte ich nicht bemerkt, dass sich ein Mann von der anderen Seite des Waggons näherte. Erschrocken und verdutzt sah ich ihn an. Er zündete ein Feuerzeug an und hielt es auf Gesichtshöhe, womit ich ihn genauer sehen konnte. „Kommen Sie, setzen Sie sich. Es hat keinen Zweck, sich so zu verausgaben. Wir werden warten müssen, bis die Putzequipe kommt und uns befreit.“ Meine Gedanken rasten: mit einem fremden Mann die ganze Nacht im Zug verbringen? Endlich fand ich meine Stimme wieder und stotterte: „Haben Sie ein Handy dabei?“ „Leider nein. Ich habe gar kein Handy. Sonst hätte ich tatsächlich schon jemanden angerufen.“ Alle Hoffnung auf ein baldiges Entkommen schwand. Ich fühlte mich wie ein ausgeleerter Krug. Den Tränen nahe, liess ich mich auf die Sitzbank fallen.
„Ich heisse Ralph, bin Schriftsteller und würde mich freuen, etwas von dir zu erfahren.“, begann mein Gegenüber zu erzählen. Ich war immer noch kaum in der Lage meine Gedanken ordentlich zu sortieren. Ausserdem war ich hundemüde, hatte Hunger und Durst und wollte nur schleunigst nach Hause. Mir war nicht nach einem Gespräch, das klang wie bei der Selbsthilfegruppe der Anonymen Alkoholiker. Trotzdem gab ich brav Antwort. Vielleicht um der misslichen Lage ein Schnippchen zu schlagen. „Zuerst möchte ich wissen, weshalb du in diesem Zug bist.“ „Gute Frage. Ich war an einer Lesung und muss im Zug eingeschlafen sein. Eigentlich hätte ich vor drei Stationen aussteigen müssen. Und du?“ „Ich heisse Melanie, weiss nicht genau, weshalb der Zug nicht gehalten hat und bin Chef-Sekretärin in einer grossen Firma für Pharmaprodukte, die grad vor dem grossen Bankrott steht, weil sie illegale Geschäfte mit chinesischen Partnern gemacht hat. Du hast sicher davon in der Zeitung gelesen.“ Ralph nickte wissend. „Wie gehst du damit um? Hast du Skrupel deinem Arbeitgeber gegenüber?“ „Wow, du gehst aber direkt zur Sache!“, konterte ich. „Und ja. Ich möchte schon lange kündigen. Die Geschäftsphilosophie gibt mir schon seit geraumer Zeit zu denken. Ich fühle mich nicht mehr wohl. Am liebsten wäre ich wie du.“ „Wie ich?“ „Na ja, Schriftstellerin oder Künstlerin. Irgendetwas halt, was den Menschen Freude macht, was sinnvoll ist…“ Nun konnte ich meine Tränen nicht mehr zurückhalten. Ich suchte in der Handtasche ein Taschentuch und wischte mir die Nase. „Was hindert dich daran, deinen Traum zu verwirklichen?“, fragte Ralph mitfühlend. Diese Frage hatte ich mir selber schon oft gestellt und keine Antwort darauf gefunden. War es der gute Lohn? Das Ansehen, das ich bis jetzt bei meinen Freundinnen genoss? Angst zu versagen oder einfach Faulheit? „Ich will hier raus!“, rief ich verzweifelt. „Aus dem Job oder aus dem Zug?“ Plötzlich fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Diese Situation im Zug war so etwas wie mein Leben. Mit dem Job hatte ich mich auf ein Abstellgleis gestellt. Ich hatte keine Perspektive und keine Hoffnung mehr, dass sich etwas in meinem Leben ändern könnte. Die missliche Lage im Zug widerspiegelte die hoffnungslose Lage in meinem Leben. „Du hast Recht.“, flüsterte ich.
Lange Zeit sassen wir schweigend da. Ich presste die Nase ans Fenster und versuchte draussen irgendetwas zu erkennen, irgendein Hinweis, wo wir uns befanden. Ralph hatte aus seiner Tasche ein Teelicht hervorgezaubert und kritzelte bei schwachem Schein eifrig in ein Notizbuch. „Glaubst du, dass ich das auch könnte?“, fragte ich. „Schreiben?“ Ich nickte nur. „Sicher kannst du das. Versuch es mal mit einem kurzen Gedicht. Erinnerst du dich an deine Schulzeit und die Elfchen oder Haikus, die ihr damals geschrieben habt?“ An die kurzen Verse konnte ich mich tatsächlich gut erinnern. Ein, zwei, drei, vier Wörter und dann noch eins, für das Elfchen. Fünf, sieben, fünf Silben für das Haiku. Ralph streckte mir ein Blatt aus seinem Notizbuch und einen Bleistift hin. Zögernd nahm ich die Sachen an und versuchte auf der kleinen Ablage beim Fenster zu schreiben:
Ein Elfchen:
„Abstellgleis
Traurige Einsamkeit
Vergessen im Nirgendwo
Nachdenken über das Leben
Hoffnung“
Ein Haiku:
„Verzweiflung macht Angst
Überleben ist alles
Das Gute zum Schluss“
Ich muss kichern. Und zum ersten Mal schaue ich mein Gegenüber im Kerzenschein genau an. Ralph blickt mir in die Augen und ich fühle mich ruhig, geborgen und frei. Es scheint, als könnte ich alles erreichen, die ganze Welt gehört mir. Alle Anspannung fällt von mir ab. Von mir aus müsste es nie Morgen werden, sondern ich könnte ewig in diesem Waggon sitzen.
Um vier Uhr dreissig erscheint die Putzequipe und stellt erstaunt fest, dass wir im Zugswaggon sitzen. Sie rufen für uns zwei Taxis, die uns nach Hause bringen werden. „Sehen wir uns wieder?“, frage ich. „Ich bin von Montag bis Freitag jeden Morgen im Cafè Luipold am Schreiben. Komm doch mal vorbei!“ Ralph drückt mich fest an sich und gibt mir einen Kuss auf die Wange. „Ich würde mich freuen.“, flüstert er leise in mein Ohr. Und dann sitzt er schon im Taxi und fährt weg. Ich gebe dem Taxichauffeur die Adresse der Firma an. Mein Handy liegt ja noch dort. Ich werde mich ein paar Tage krankschreiben lassen und die Kündigung abschicken.