Von Anita Adam

 

Ich schaue während der Fahrt aus dem Fenster. Das habe ich schon immer so getan und war bis vor einiger Zeit damit noch in guter Gesellschaft. Vor ein paar Jahren hat mich allerdings eine andere stark wachsende Gruppe überholt, nämlich die der Handynutzer. Es gibt auch noch ein paar vereinzelte Buch- oder Zeitungsleser, aber das sind Individuen, die man in jedem Zugabteil an einer Hand abzählen kann. Ich befinde mich also in der Minderheit, wenn man so sagen möchte. Während ich so hinausschaue, denke ich nach und träume vor mich hin. Ich träume von den verschiedensten Dingen, lasse meine Gedanken eher ziellos schweifen und erinnere mich dabei an ein ungewöhnliches Erlebnis:

 

Ich stieg an einem Montagabend nach der Arbeit in meinen Zug nach Hause ein. Er war wie üblich zu dieser Zeit voll und ich hatte noch Glück, einen Sitzplatz am Fenster zu ergattern. Es ging alles um das richtige Timing beim Einsteigen. Man musste einer der Ersten sein und dann durfte man keine Zeit verschwenden, sondern musste einsteigen und sich so schnell wie möglich hinsetzen. Da durfte man keineswegs wählerisch sein. So saß ich also bequem und freute mich bereits auf zu Hause. Ich lehnte den Kopf ans Fenster und versuchte meine Mitreisenden gedanklich auszublenden, was sich angesichts der stark hustenden Frau vor mir und der am Handy zockenden zwei Kinder neben mir als Herausforderung darstellte. Als ich meine Kopfhörer in die Ohren steckte und wohltuende Musik in meinen Ohren erklang, fühlte ich mich sofort entspannt. Ich drehte aber nicht allzu laut auf, sodass ich noch die Sprachansage hören konnte, auch wenn ich die Haltestellen und den Fahrplan mittlerweile auswendig kannte. Der Zug fing an zu rollen und mit ihm meine Gedanken. Ich grübelte über die Aussagen meines Chefs nach und fand, dass er mich nicht richtig mit meiner Arbeit beurteilte. Aber war das überhaupt wichtig, was er über mich dachte? Am Ende zählte doch nur, dass die Arbeit getan wurde und er halbwegs zufrieden war. Wann hatte ich eigentlich meine Ambitionen aufgegeben und mich mit Mittelmaß zufriedengegeben? Hatte ich mich und meine Träume aufgegeben? Was wollte ich überhaupt noch vom Leben? Während ich so darüber nachdachte, schien die Landschaft plötzlich immer schneller am Fenster vorbeizurauschen und ich dachte, dass das möglicherweise ein Sinnbild meines Lebens war. Der Zug des Lebens rollte immer schneller und ich saß drin und sah das Leben an mir vorbeiziehen. Ich musste aussteigen! Und während ich diesen Satz so sprichwörtlich in Gedanken vor mir sah, realisierte ich plötzlich, dass ich tatsächlich aussteigen musste. Die Landschaft kam mir völlig unbekannt vor. Hatte ich meine Haltestelle verpasst? Unmöglich, ich hatte doch alles fest im Blick und wusste genau, wann der Zug wo hält. Oder war ich gar so in Gedanken, dass ich gar nichts mehr wahrnahm? Das war mir noch nie passiert. Mir wurde schwindelig und ich beschloss an der nächsten Haltestelle auszusteigen, wo auch immer das nun war. Ich zog meine Kopfhörer aus den Ohren und schnappte mir meine Jacke. Doch der Zug fuhr immer weiter und machte keine Anstalten, langsamer zu werden. Ich hatte eher das Gefühl, dass er immer mehr beschleunigte. Mein Herz raste und ich sah in die Gesichter der anderen Passagiere. Alle verhielten sich normal, starrten weiterhin auf ihre Handys oder redeten miteinander. Ich fragte mich plötzlich, warum niemand außer mir sah, dass offensichtlich etwas ganz und gar nicht stimmte? Warum sah niemand aus dem Fenster? Ich fühlte mich hilflos und spürte, wie die aufsteigende Angst meine Kehle zuschnürte. Würde der Zug bald entgleisen? Ich bekam Todesangst und begann zu schwitzen. Was sollte ich nur tun? Ich schaute panisch durch das Abteil und entdeckte plötzlich den Not-Stopp. Ich stürmte darauf los und zog den Hebel so fest, wie ich nur konnte. Doch es passierte nichts! Ich war verloren. Plötzlich fingen die anderen Passagiere an, zu lachen und zu klatschen. Was ging hier nur vor sich? Sie umkreisten mich und alles begann zu schwanken, bis mir ganz schwarz vor Augen wurde und ich in Ohnmacht fiel. Als ich wieder zu mir kam, saß ich alleine auf einer Bank an meiner Haltestelle.

 

Ich verstehe bis heute nicht, was an jenem Abend tatsächlich geschehen ist. Wieso hatte der Not-Stopp nicht ausgelöst und warum haben sich die anderen Passagiere so merkwürdig verhalten? Und wie konnte ich an meiner Haltestelle zu Bewusstsein kommen, wenn der Zug offensichtlich gar nicht gehalten hatte und einfach weitergefahren ist? Vielleicht sollte ich ein Buch darüberschreiben. In dem Moment höre ich die gewohnte Sprachansage „nächster Halt Sendenwiese“, stehe auf und gehe Richtung Türen. Mein Blick bleibt für einen Moment an dem Not-Stopp hängen und ich muss lächeln. Ich steige aus.

 

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