Von Peter Burkhard

 

Antons Geburt machte seine Eltern überglücklich und erfüllte die Großeltern mit grenzenlosem Stolz.  Seine Patin indessen twitterte in die Welt hinaus, dass der kleine Erdenbürger jetzt da sei.

Mit einem Geschenk zu Antons drittem Geburtstag begann Seltsames.
Es war Großvaters Idee gewesen, ihm den „Zoo der Wundertiere“ zu überreichen. Auf dessen Titelseite prangten ein Beutelnashorn und ein skurriler Eisbärenelefant. Dazu bekam der Knirps eine Schachtel teurer Buntstifte.
Viele Tage später, an einem regnerischen Sommernachmittag, legte Nadja das Ausmalbuch auf den Boden des Kinderzimmers. „Dieses schöne Buch haben dir deine Großeltern geschenkt. Wähl dir ein Tier aus, das du ausmalen möchtest.“
Mit einem Farbstift in der Hand blätterte sich Anton lustlos durch die Seiten, während seine Mutter in der Küche sauber machte. Als sie sich ihres kleinen Sohnes erinnerte, saß er am Boden des Gartensitzplatzes und untersuchte, ob sich die beiden Hälften eines zweigeteilten Regenwurmes gleich schnell fortbewegen konnten.
Beim Abendessen kam das Gespräch auf das Ausmalbuch. Antons Mutter stand vom Esstisch auf und verschwand mit vielsagendem Blick im Kinderzimmer. Momente später kam sie zurück, legte das offene Buch auf den Tisch und meinte: „Jetzt schau dir das an!“
Patrick staunte nicht schlecht: Sein Söhnchen hatte sich den Kamelhasen ausgesucht und ihn nicht sonderlich sorgfältig, aber altersgerecht ausgemalt. Nur, der Kamelhase war nicht bunt, wie man es erwarten könnte, sondern schwarz.
Zuerst verdutzt, begannen sich die Eltern über Antons Kreativität zu mokieren.
Der kleine Bengel nahm es gelassen.

Als Nächstes durfte Anton in die Spielgruppe. Er verweigerte den Mittagsschlaf und begann mit Gleichaltrigen im Freien herumzutollen. Am liebsten hüpfte der Racker auf einem Bein.
Als der Kleine sich einmal furchtbar langweilte, legte ihm seine Mutter das Ausmalbuch erneut hin und ermunterte ihn, zu malen. Diesmal wählte Anton mehrere Wundertiere aus, die er mit Geduld und viel Sorgfalt gestaltete. Am Abend rief er seine Eltern ins Zimmer und zeigte ihnen das Resultat seiner künstlerischen Bemühungen.
Nadja und Patrick verging das Lachen, sie begannen sich ernsthaft zu sorgen.
„Warum machst du das?“, fragte ihn Nadja, „warum malst du alle Tiere schwarz aus?“
Auf diese Frage blieb der Dreikäsehoch eine Antwort schuldig.

Das sonderbare Verhalten ihres Sohnes beschäftigte die Eltern über Tage hinweg. Patrick begann – was er sonst zum Thema Gesundheit nie tat – zu googeln und stieß auf den Begriff Chromophobie.
Die Großeltern wurden zurate gezogen. „Angst vor Farben, so ein Quatsch, davon habe ich noch nie gehört“, meinte Großvater kopfschüttelnd. Er, der sonst alles wusste.
„Wenn dies wieder vorkommt, solltet ihr den Kleinen untersuchen lassen, vielleicht benötigt er eine Therapie oder psychologische Maßnahmen“, riet Patricks Mutter unter Tränen.

Die Wochen tröpfelten ohne Veränderung dahin. Obschon sich Anton verhaltensmäßig von den anderen Kindern in nichts unterschied, wurden alle Tiere in seinem Malbuch schwarz, eines nach dem anderen. Nadja vereinbarte einen dringenden Termin beim Kinderarzt und noch in derselben Woche einen bei einer Verhaltenstherapeutin.
Am Nachmittag vor der ersten Untersuchung schaute eine ihrer Freundinnen für einen Schwatz vorbei und nahm ihre vierjährige Tochter Millie mit. Die Mütter tranken Kaffee auf dem Gartensitzplatz, die Kinder spielten drinnen.
Gegen fünf Uhr rief Millies Mutter ihr Töchterchen zu sich.
„Was habt ihr Schönes gemacht, ihr zwei?“, fragte sie ihr Kind beim Einsteigen ins Auto.
„Zuerst haben wir mit Kissen und Tüchern eine Burg gebaut und nachher in Antons Zoobuch viele Tiere angemalt“, strahlte die Kleine.

Abends fand Patrick seine Frau völlig geknickt im Wohnzimmer vor.
Er beschloss, der Sache nach dem Abendessen endgültig auf den Grund zu gehen. Nach dem letzten Bissen nahm er einen Schluck Wasser und dann sein Söhnchen an der Hand. „Zeig mir bitte deine Bilder, die du heute mit Millie ausgemalt hast.“
Anton zerrte sein Buch unter ein paar Kissen hervor und brachte es seinem Papa, der es sich im Schneidersitz bequem gemacht hatte. Zusammen betrachteten und kommentierten sie die wundersamen Tiere, welche der Knirps und seine kleine Freundin gemeinsam gestaltet hatten.
Nach einer halben Stunde kam Patrick vom Zimmer des Kleinen zurück. Nadja war beinahe mit dem Abwasch fertig und summte vor sich hin.
„Er schläft. Ich habe ihn zu Bett gebracht, er schien von Millies Besuch ziemlich ermattet zu sein.“ Patrick hielt die Farbstiftschachtel in der Hand und grinste über das ganze Gesicht.
„Wieso lachst du?“
„Was sind wir bloß für Eltern?“ Er legte die Blechschachtel neben das Spülbecken. „Schau rein und sag mir, was du siehst.“

Drei Wochen später.
„Patrick, ich bin’s. Die Farbstiftfabrik hat zurückgeschrieben.“ Nadjas Stimme am anderen Ende klang sorglos und amüsiert.
„Und was schreiben sie, lies vor!“
„Sehr geehrte bla, bla …
Wir haben Ihre Reklamation ausführlich geprüft.
Diese Prüfung hat ergeben, dass wir Ihnen aufgrund eines festgestellten Produktionsfehlers (lauter schwarze Minen in den 24 äußerlich verschiedenfarbigen Stiften), ein Äquivalent zustellen können …
Bitte vernichten Sie gegebenenfalls die mangelhaften Exemplare, nachdem sie die Ersatzlieferung erhalten haben.
Wir danken Ihnen für die Möglichkeit, Sie von unserem Entgegenkommen überzeugen zu können.
Mit freundlichen Grüßen …

Schatz, bist du noch dran?“

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