Von Eva Fischer

Ich glaube, es war Gitta, die die Idee hatte, nach dem gemeinsamen Restaurantbesuch noch eine Runde durch den Wald zu gehen. Ich stimmte zu. Wie lange war ich nicht mehr hier? Kannte ich dieses Waldstück überhaupt? Früher folgte ich immer dem Hauptweg, um mich nicht zu verirren. Meine Orientierung im Wald war miserabel. Die Bäume sahen für mich alle gleich aus: groß und majestätisch. Dennoch liebte ich sie. Schneebedeckte Nadelbäume im Winter, blätterumrankte Kronen im Sommer und Herbst.

Jetzt war Frühling. Das Dickicht ließ einen Blick ins Innere zu. Auf dem Boden erwachte das Leben. Weiße Buschwindröschen erhoben ihre Blütenköpfe im abgestorbenen Laub. Vorsichtig setzte ich Schritt vor Schritt. Gitta kannte den Weg. Ich musste mich nicht sorgen, dass ich mich verirrte. Es ging bergauf, bergab. Mal war es ein schmaler Pfad, mal ein steiniger Weg. Am sichersten fühlte ich mich auf dem Waldboden, der meine Schritte abfederte, mich meine Arthrose vergessen ließ. Meine Wangen röteten sich. Mein Zeitgefühl verlor sich im glückseligen Jetzt. Stolz überwand ich alle Hindernisse, folgte der gleichaltrigen Freundin.

Dieser Spaziergang war heute der Höhepunkt meines Rentnerdaseins. Doch der Tag hielt noch eine weitere Überraschung bereit wie einen Farbfleck im grauen Alltag.

Mein Handy zeigte eine neue Nachricht unserer WhatsApp Gruppe meiner ehemaligen Kollegen an.

Susanne postete. „Habe Tom getroffen. Grüße an Eli.“

Ich heiße Elisabeth, aber für Tom war ich Eli. Wie lange war es her, dass ich ihn das letzte Mal gesehen hatte? Zwanzig Jahre?  Was war aus ihm geworden?  War er mittlerweile verheiratet? Hatte er Kinder?

Eines Tages kam er in unser Büro. „Sind Sie so nett und führen unseren neuen Kollegen in seine Arbeit ein“, sagte mein Chef. Der Neue war offensichtlich jünger als ich. Kein Schönling, aber auch nicht hässlich. Auf der Straße wäre ich achtlos an ihm vorbeigegangen. Schon bald entdeckte ich seine blauen Augen und seine schmalen Hände, denn wir hatten ein gemeinsames Laster. Wir rauchten und trafen uns in der Frühstückspause und nach dem Mittagessen auf dem Firmengelände, in einer lauschigen Ecke von Oleander begrenzt. Kein Mitarbeiter wollte vom Rauch belästigt werden, also hielten wir uns abseits. Unsere Worte sprudelten um die Wette. Wir kicherten wie zwei ausgelassene Teenager. Ich betrachtete seine sinnlichen Lippen, spürte, wie sein Blick auf mir ruhte. Leichte Röte stieg in mein Gesicht. Mir wurde warm, ja gleich einem Vulkanausbruch registrierte ich lang verschüttete Gefühle.

Die Arbeit war keine Pflichtübung mehr. Ich fieberte dem Ende des Sonntags entgegen, denn meine Gedanken kreisten nur um Tom. Erst der Montagmorgen brachte Erlösung.

Meine jüngeren Kolleginnen hatten auch einen Blick auf den Neuen geworfen. Tom war freundlich und höflich zu ihnen, aber es war offensichtlich, dass er meine Nähe suchte, mir immer öfter ein Zeichen gab, das besagte: Komm! Lass uns draußen eine rauchen!

Wenn ich bei einer Konferenz neben ihm saß, spürte ich, wie ich innerlich glühte, aber ich war verheiratet. Ich musste nach außen Distanz wahren, so schwer mir das fiel. Hinzu kam, dass ich gerade 50 geworden war, Tom hingegen war gerade mal 32. Ich wollte mich nicht lächerlich machen. Madame  Macron konnte mir damals noch nicht den Rücken stärken.

Tom mokierte sich über die kühle Lady, während er mir neckisch den Rauch ins Gesicht blies. „Darf ich Eli zu dir sagen?“ Er nahm meine Hand und zog mich zu sich. Der Kuss war wie eine Explosion. Wir wussten beide, wir wollten mehr. In zwei Wochen war mein Mann auf einer Geschäftsreise. Das war die Gelegenheit sich zu treffen. Natürlich bei ihm, in seinem Appartement in einem anonymen Mehrfamilienhaus in der Stadt.

Unsere Blickkontakte wurden im Büro noch intensiver. Ich fürchtete, dass die Kollegen bereits hinter unserem Rücken über uns tuschelten. War es nur Vorfreude, die mich beseelte? Nachts kamen auch Ängste. Worauf ließ ich mich da ein? Wollte ich wirklich alles verlieren, was ich mir mit meinem Mann in 25 Jahren Ehe aufgebaut hatte: Haus und Garten, eine angenehme finanzielle Sicherheit, einen Freundeskreis? Was würde meine Tochter dazu sagen, die sich gerade im Studium befand? Was würden die Bürokollegen von uns denken? Was will die Alte? In ein paar Wochen serviert er sie doch wieder ab, sucht sich eine Jüngere. Wäre ich nicht gehemmt, meinen alternden Körper einem jungen Liebhaber zu präsentieren?

Der Tag war gekommen, an dem wir endlich uns ganz unserer Lust hingeben wollten. Ich duschte mich, parfümierte meinen Körper, zog eine enge Jeans an und ein ausgeschnittenes Top. Tags zuvor war ich beim Frisör gewesen, hatte mir die grauen Haare gefärbt, die schon hier und da ungebeten sprießten. Ich schminkte mir den Mund kirschrot, tuschte mir die Wimpern, zog Pumps an.  Doch plötzlich zitterte ich am ganzen Körper wie bei einem Schüttelfrost. Ich setzte mich auf mein Bett. Schweiß rann mir über die Stirn. Ich spürte, wie ich glühte. Offensichtlich hatte ich Fieber. Tränen verwandelten sich in einen Weinkrampf. Panik breitete sich in mir aus. In dem Zustand konnte ich nicht zu ihm gehen. Ich ließ das Telefon schellen. Jeder Ton bereitete mir Qualen. Aber was sollte ich ihm auch sagen? Ich begehre dich maßlos, aber ich traue mich nicht.

Mein rational denkender Kopf suchte sich einen Weg durch den Nebel. Diese Verliebtheit ist quälend schön, aber wirst du es nicht eines Tages bereuen, wenn du alles aufs Spiel setzt?

Eine Woche blieb ich im Bett. In meinen Fieberträumen sah ich dein enttäuschtes Gesicht, das ich nicht ertragen konnte. Ich fühlte mich schwach und elend, bekam keinen Bissen herunter. Mein Mann machte sich Sorgen. Ich blieb eine weitere Woche zuhause.

Dann kam ein Anruf von meinem Chef. Tom habe seine Probezeit bestanden und sich in eine andere Filiale versetzen lassen. Warum informierte er mich?  Als seine Mentorin oder als total verliebter Backfisch?

Doch mit der Zeit gewann ich meine Contenance zurück. Ich hatte mir nichts zu Schulden kommen lassen. Dein Bild verblasste allmählich, bis heute.

Grüße an Eli. Liebevoll gehe ich mit meinem Finger über diese drei Worte.

Eros wird in der Ehe meist durch Philia abgelöst. Die immerwährende erotische Liebe zu einer Person ist eine Wunschvorstellung, die die Natur in der Regel nicht vorgesehen hat.

Ich lasse mir ein wohl duftendes Schaumbad ein, öffne eine Flasche Sekt und gieße mir ein Glas ein. Ich gleite in das warme Wasser und stelle mir vor, wie du meinen Körper mit Küssen übersäst und in mich eindringst.