Von Björn D. Neumann

Ein eisiger Wind zog über das Hoteldach. Erika fröstelte es. Ihr Atem wärmte zumindest etwas die Finger, in die sie hineinblies. Dann rückte sie ihre Brille gerade und fuhr mit der Arbeit fort. Handschuhe wären dabei nur hinderlich gewesen. Das Präzisionswerkzeug, welches sie zusammensetzen musste, verlangte nach Fingerspitzengefühl. Auch wenn es weh tat. Erika Schmidtkowski war mit ihren 81 Jahren Vollprofi und da überließ man nichts dem Zufall. Sie war fast fertig. Mit einem Klick rastete das Zielfernrohr ein. Jetzt konnte sie die wärmenden Lederhandschuhe überstreifen. Bis auf ihr Gesicht war nun alles an ihr komplett schwarz. Die einmetersechzig große Frau steckte in taktischen Stiefeln, einem schwarzen Overall und einer Trawler-Beanie, die das silbergraue Haar verbarg.

Am Rand des Daches lag eine Isomatte. Auf diese legte sich Erika bäuchlings, klappte das Zweibein ihres DSR-1 Präzisionsgewehres aus, zog es in ihre Schulter und legte sich mit ihrem gesamten  Gewicht in die Waffe. Der Blick durch das Fernrohr gab ihr freie Sicht auf den Hinterhof des Landgerichts. Mit geübten Fingern justierte Erika die Feineinstellung der Optik und nun hieß es warten.

Keine zehn Minuten später fuhren drei Polizeiwagen vor. Die Mannschaften des vorderen und des hinteren stiegen aus. Schwerbewaffnete Beamte eines Sondereinsatzkommandos in Kampfmontur, die die Umgebung checkten und sicherten. Erst nach dem OK des Beamten, der offensichtlich der Einsatzleiter war, wurde die hintere Tür des mittleren Wagens geöffnet. Zwei weitere Polizisten und in ihrer Mitte ein kleiner, dicker Mann mit Glatze in einem feinen Maßanzug. Das war ihr Kunde. Guiseppe Zotti. Oberhaupt der Zotti-Familie, Capo der örtlichen italienischen Mafia und seit neuestem Kronzeuge der Staatsanwaltschaft. Nach seiner heutigen Aussage würde er im Zeugenschutzprogramm verschwinden und selbst für die Paten in den höheren Regionen der Mafia-Hierarchie nur schwer aufzufinden sein.

All das interessierte Erika Schmidtkowski nur wenig. Es war ein Auftrag, ein Geschäft. Die Aufgabe wurde ihr zwar dadurch erleichtert, dass an Zottis Händen das Blut vieler unschuldiger Menschen klebte, aber wenn die Kasse stimmte, hätte sie auch kein Problem, Mutter Teresa zu liquidieren. Die Rente war knapp, der Lebensabend teuer und das Sammeln von Pfandflaschen weder attraktiv noch sonderlich gewinnbringend. Als ehemalige Stasi-Agentin ist sie so an die Organisation „Lebwohl“ geraten. Eine Vermittlung für Mörder und Auftragskiller. Schnell stieg sie in der Hierarchie und wurde zu einer der begehrtesten Auftragnehmer in der Branche.

Mit klackenden Geräuschen rastete das Magazin ein und die Munition wurde in die Patronenkammer geladen. Erikas Atem ging ruhig und gleichmäßig. Langsam krümmte sie den Zeigefinger der rechten Hand, atmete langsam aus, bis sie den Druckpunkt gefunden hatte. Sie visierte das Ziel an, hielt kurz den Atem an und zog den Abzug durch.

Zotti sackte zusammen, als die Kugel durch seine Schläfe schlug. Er war direkt tot. Die Einsatzbeamten gingen in die Hocke und suchten ihrerseits mit ihren Waffen im Anschlag die Umgebung ab. Im selben Moment vibrierte Erikas Handy. Ein kurzer Blick bestätigte den Zahlungseingang von 500.000 €.

Jetzt musste es schnell gehen. Sie schlüpfte aus dem Overall. In einem vorbereiteten Rucksack hatte sie ein geblümtes Kleid, einen braunen Mantel und orthopädische Schnürschuhe parat. Die inzwischen wieder zerlegte Waffe verschwand in einer großen Handtasche, aus der sie dafür einen klappbaren Gehstock zauberte. Die Trawler-Beanie wurde auf links gedreht und komplettierte als rosa Häkelmütze ihr Outfit. Mit gebeugtem Rücken, gestützt auf den Stock, betrat sie das Gebäude.

Auf der obersten Etage des 20-stöckigen Gebäudes war keine Menschenseele zu sehen. So unauffällig wie möglich ging sie zu den Aufzügen, die sie in die Hotellobby bringen sollten. Unten angekommen, herrschte bereits große Aufregung. Durch die Drehtür des Eingangsbereichs funkelte das Blaulicht. Zwei Beamte versperrten den Ausgang. Offenbar hatte man den Standpunkt des Schützen bereits lokalisiert. Erika ging auf die Polizisten zu.

„Junger Mann, wenn ich bitten dürfte“, schnarrte sie und wies mit dem Gehstock auf die Tür.

„Tut mir leid, niemand darf das Gebäude verlassen oder betreten“, antwortete der Jüngere der beiden Kollegen mit einem leicht arroganten Unterton in der Stimme.

„Aber ich habe einen dringenden Arzttermin, Herr Wachtmeister. Wenn Sie so freundlich sein möchten.“ Erika blickte ihn treu von unten an.

„Gute Frau, ich habe ihnen doch bereits gesagt, dass …“

„Mensch, Heiner“, unterbrach ihn der ältere Kollege. „Glaubst du, Oma Plüsch ist eine Killerin?“ Und an Erika gewandt fragte er: „Haben Sie irgendetwas Auffälliges gesehen?“

„Nein, Herr Wachtmeister. Und ich bin sehr aufmerksam.“

„Dann lassen Sie mich jetzt noch kurz einen Blick in Ihre Tasche werfen und dann können Sie gehen.“

„Schön, dass Sie mich nicht mit ihrer Masche nerven“, tat Erika so, als hätte sie nicht richtig verstanden, kramte in ihrer Manteltasche und drückte jedem der Beamten ein Hustenbonbon in die Hand. So ließ sie die beiden perplexen Polizisten stehen, die sich mit einem Schulterzucken ansahen und die alte Dame gewähren ließen.

***

Linie 501 brachte sie direkt bis zum Eingang der Senioren-Residenz „Abendrot“. Ein luxuriöses Anwesen für die besser situierte Gesellschaft, die den Lebensabend in vollen Zügen genoss.  Dank ihres Nebenverdienstes konnte sie sich diesen Lebensstil leisten. Und beim Abendbrot im „Abendrot“ floss so manches Glas Champagner, worauf sie sich heute besonders freute. Und auf Albert. Ihren Verehrer, wenn man davon in ihrem Alter noch sprechen konnte. Jedenfalls stellte er ihr schon einige Monate nach.

Als sie die alte Jugendstil-Villa betrat, wartete Albert von Hohenstein schon in der Lobby. Ein äußerst gepflegter Mann mit graumelierten Schläfen saß dort in einem maritimen Sakko mit goldenen Knöpfen. Der offene Hemdkragen war ebenfalls mit einem blaugoldenen Halstuch geschmückt.

„Ah, Erika. Sie sind heute wieder ganz hinreißend.“

„Alter Schmeichler. So etwas können Sie der Elfriede Meissner erzählen. Die glaubt den Quatsch vielleicht.“

„Sie wissen doch, dass Sie die Einzige für mich sind. Darf ich Sie heute Abend auf ihrem Zimmer zu einem Schlummertrunk besuchen?“

Erika hatte gute Laune und war heute zu allen Schandtaten bereit. „Einen Schluck, mein lieber Albert, und dann heißt es ‚Abflug‘ für Sie. Verstanden?“

„Mehr würde ich mir nie erlauben zu erwarten, meine liebe Erika!“

***

Erika schaute auf die Uhr. Es war kurz vor 22 Uhr. Sollte der Schuft sie tatsächlich versetzen. Dabei hatte sie sich jetzt in teure Seide gehüllt und das teure Parfum aufgelegt. „Du kleines Luder!“, sagte sie zu sich selbst im Spiegel. In diesem Moment klopfte es an der Tür. Da stand Albert mit einer Schampusflasche und zwei Gläsern.

„Erika, bei ihrem Anblick, verschlägt es mir die Sprache!“

„Geht das denn schon wieder los?“

„Ich kann nicht anders. Darf ich eintreten?“

Erika machte eine einladende Geste und gab die Tür frei. Als sie kurze Zeit später auf ihrem Canapé saßen, öffnete Albert mit großem Knall den Champagner und füllte die Gläser. Er sah Erika tief in die Augen und hielt ihr ein Glas entgegen. „Auf unser Wohl!“

Erika nahm das Glas und leerte es in einem Zug. „Auf unser Wohl!“ Sie verzog das Gesicht. Irgendwie schmeckte das Getränk bitter. Sie begann zu husten.

„Oh, meine Liebe. Hat es nicht geschmeckt?“, fragte Albert süffisant. „Nun, es ist gleich vorbei.“

„Was hast Du …?“, krächzte Erika entsetzt.

„Einen Job erledigt. So wie du so oft. Ich arbeite ebenfalls für „Lebwohl“ und jemand hat eine stattliche Summe für dein Ableben hingeblättert, Erika. Oder sollte ich sagen IM ‚Schierling‘?“ Albert grinste. „Ach, jetzt guck nicht so erstaunt. Meinst du, deine Vergangenheit hätte keine Spuren und Feinde hinterlassen? Nimm es nicht persönlich. Es ist nur ein Job. Unter anderen Umständen hätte aus uns etwas werden können.“

„Wieviel?“, fragte Erika.

„Eine ganze Million Euronen!“ Albert war sichtlich stolz auf diesen Betrag.

Und mit der Erkenntnis, den Höchstbetrag bei „Lebewohl“ erzielt zu haben, brach ihr Blick und sie schlief mit einem Lächeln ein.

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