Von Andreas Schröter

Es war Mitternacht. Von irgendwo her erklang das leise Schlagen einer Kirchturmglocke. Das Wasser des Dortmund-Ems-Kanals glitzerte schwarz in der sternenklaren Nacht. Niemand wäre auf die Idee gekommen, dass in dieser friedvollen Atmosphäre etwas Ungewöhnliches hätte passieren können. Und doch strebte jetzt etwas Weißes aus den Tiefen des Kanals an die Wasseroberfläche. Sie teilte sich und wenig später stand ein komplett angezogener Mann am Ufer. Er atmete keinesfalls schwer, obwohl er doch zuvor unter Wasser gewesen war. Das Weiße war sein Hemd, das nur an ganz wenigen Stellen mit Algen bedeckt war. Er griff in die rechte hintere Hosentasche, förderte einen altmodischen Kamm zutage und kämmte sich das nasse Haar streng nach hinten.

 

* * *

 

Mein Kampf gegen den Zahndämon im Dortmunder Hafen lag drei Wochen zurück. Ich, Andreas Schröter, Dämonenjäger bei der Dortmunder Polizei, hatte etwas Zeit gehabt, mich in meinem neuen Büro einzurichten. So stand jetzt ein winziger Kaktus auf der Fensterbank.

Die Ausgeburten der Hölle hatten sich weitgehend zurückgehalten. Zwei kleinere Trolle waren in die Speisekammer des Mercure-Hotels eingedrungen und fraßen sich gerade voll, als ich sie erwischte. Und dann gab es noch einen unsichtbaren Luftgeist, der sich in einer leeren Fahrerkabine eines U-Bahn-Zuges versteckt hatte. Er konnte fliehen.

 

Es war schon nach sechs, ich hatte die Jacke bereits angezogen und wollte gerade gehen, als Susi, unsere Etagen-Sekretärin, hereinkam und kaugummikauend sagte: „Chef, da ist so‘n ekeliger Typ, der dich sprechen will.“ Ich fand ihre Umgangsformen etwas lax, aber es war Siebert, unser aller Chef, der ihr das hätte sagen müssen.

„Was für‘n Typ? Ich habe Feierabend.“

Susi kam nicht mehr dazu zu antworten, denn jetzt schob sich jemand an ihr vorbei, der in der Tat – ich musste Susi rechtgeben – auf den ersten Blick etwas eigenartig wirkte. Seine streng nach hinten gekämmten Haare waren entweder übertrieben stark gegelt oder schlicht klitschnass. Auch sein weißes Hemd und seine Hose wirkten feucht – und das, obwohl es draußen keinesfalls regnete.

„Was kann ich für Sie tun?“, fragte ich etwas widerwillig.

Der Mann bewegte seinen Mund, doch es kam nichts heraus. Er schien Mühe beim Sprechen zu haben. Ein Stotterer? „Er will dich sprechen“, brachte er nach einigen vergeblichen Anläufen hervor.

„Wer?“

Keine Antwort.

„Nun, Sie müssen mir schon sagen, wer mich wann und warum sprechen will.“

Es dauerte eine geschlagene Viertelstunde, bis ich zwei Informationen mehr hatte. Ich würde um exakt 23.30 Uhr einen Anruf erhalten, wo ich mich um Mitternacht einzufinden hatte, und es ging um Tochter 2, Nadia. Besonders diese Information ließ mich aufschrecken. Ich stieß „Was ist mit Nadia?“ hervor und versuchte den Mann zu packen, doch er war wegen seiner Nässe glitschig wie ein Aal, wirbelte herum und stürzte aus meinem Büro. Natürlich verfolgte ich ihn, doch er war schnell – eigentlich viel zu schnell für einen Menschen.

Abgekämpft wieder im Büro griff ich sofort zum Hörer und rief Stella, meine Frau, an. „Wo ist Nadia?“

„Bei `ner Freundin. Wieso?“

Ich glaubte nicht, dass sie bei `ner Freundin war.

Ich beendete das Gespräch, ohne meiner Frau von dem Besucher zu berichten und machte mich auf den Weg in die Dortmunder Nordstadt. In einer düsteren Gasse zwischen Döner-Bude und türkischem Friseur gab‘s die Buchhandlung „old books“, ein Antiquariat. Inhaber Hans von Oranienburg, den alle nur „Sir Jack“ nannten, war in den vergangenen Tagen sowas wie ein Freund geworden. Ich schätzte seine ruhige, unaufgeregte Art – vor allem aber kannte er sich unglaublich gut aus mit etwas, was mich leider seit drei Wochen beschäftigte: Dämonen.

Als ich den Laden betrat, mussten sich meine Augen erst an das Dämmerlicht gewöhnen, das dort tagsüber und abends gleichermaßen herrschte. Der Raum war derart mit staubigen, alten Büchern zugepackt, dass es nur ganz schmale Gänge gab, in denen man sich bewegen konnte. Das schien jedoch nicht weiter wichtig – einen Kunden hatte ich hier ohnehin noch nie gesehen. Und ich konnte mir auch schlecht vorstellen, dass sich jemals einer hierhin verirren würde. Es war mir schleierhaft, womit Sir Jack seinen Lebensunterhalt verdiente. Er saß dort, wo er immer saß: in der hintersten Ecke des Ladens, eingepfercht zwischen zwei Bücherstapeln. Normal wäre gewesen, wenn er dabei in irgendeinem Buch geblättert hätte, aber er starrte nur auf einen imaginären Punkt. Obwohl er mir den Rücken zuwandte, schien er mich bemerkt zu haben. Mit tonloser, leiser Stimme sagte er: „Andreas, wie schön, dich zu sehen. Was führt dich zu mir?“

Ich berichtete ihm von dem Ereignis am frühen Abend. Er wiegte den Kopf hin und her und sagte schließlich: „Das deutet alles auf Aquarius hin.“

„Wer ist das?“

„Aquarius ist ein Fischdämon, der auch einige Zeit an Land leben kann. Hast Du seine Kiemen hinter den Ohren bemerkt?“

Ich schüttelte den Kopf.

„Er kann Menschengestalt annehmen – komplett mit Kleidung und allem –, hat Schwierigkeiten beim Sprechen und bevorzugt das Erscheinungsbild eines aalglatten, gegelten jungen Mannes. In Dämonenkreisen wird er deshalb auch ,Der Aal‘ genannt.“

„Woher weißt Du, wie man ihn in Dämonenkreisen nennt?“

Sir Jack schwieg.

Was mir an ihm und diesem seltsamen Laden zu denken gab: Ich hatte neulich einen alten Kupferstich aus dem Jahre 1824 mit Motiven aus dem damaligen Dortmund gesehen. Dabei gab es eine Ansicht, die exakt so aussah, wie der heutige Buchladen „old books“. Der Inhaber saß nicht nur an genau derselben Stelle wie jetzt Sir Jack, er sah auch exakt so aus wie er.

Was Sir Jack dann sagte, elektrisierte mich: „Der Aal gilt seit mindestens 500 Jahren als allerengster Vertrauter des Zahndämons.“

 

* * *

 

Der Anruf kam um Punkt 23.30 Uhr. Erneut hatte ich Mühe zu verstehen, was mir der Sprecher am anderen Ende der Leitung sagen wollte. Aber irgendwann hatte ich es dann doch kapiert: Ich sollte um Mitternacht am ehemaligen Benzinlager am Dortmund-Ems-Kanal sein.

„Wie geht‘s meiner Tochter?“, schrie ich in den Hörer, doch da hatte der Anrufer – und ich hatte keinen Zweifel, dass es sich um den Aal handelte – bereits aufgelegt.

 

* * *

 

Natürlich war ich schon zehn Minuten vor Mitternacht am Benzinlager. Der Aal erwartete mich mit schmierigem Grinsen vor dem Eingang. Irgendwann schaffte er es, mir klarzumachen, dass er mich auf Waffen abtasten wollte. Zwar würden weder ihm noch seinem „Chef“, dem Zahndämon, ein Messerstich oder normale Kugeln etwas ausmachen, aber bei Silberkugeln sähe das vermutlich schon anders aus. Ich ließ die rundum ekelhafte Prozedur über mich ergehen und durfte am Ende endlich das Benzinlager betreten.

Drinnen erwartete mich ein Anblick, den ich lange nicht vergessen sollte. Die Halle war weitgehend leergeräumt, aber auf der rechten Seite stand eine Art Käfig. Innen: meine Tochter Nadia, die die Gitterstäbe umklammerte. Als sie mich sah, streckte sie einen Finger vor. Und diese Szene erinnerte mich fatal an etwas aus „Hänsel und Gretel“, über das ich jetzt nicht weiter nachdenken wollte.

Zwanzig Meter neben dem Käfig auf der linken Seite der Halle kauerte der Zahndämon, und wie um mich gebührend zu begrüßen, präsentierte er jetzt sein monströses Gebiss, das aus drei Zahnreihen hintereinander bestand.

Der Aal trat zwischen Käfig und Zahndämon und begann, mir umständlich klarzumachen, was er wollte. Es lief darauf hinaus, dass das Höllen-Gespann meine Tochter freigeben würde, wenn ich mich selbst in die Gefangenschaft der beiden begab.

Ich sondierte die Lage. Ich sah keine andere Möglichkeit, als auf diesen Deal einzugehen, auch wenn ich nicht wirklich glaubte, dass die beiden Nadia am Ende freilassen würden. Ob ich sie mit bloßen Händen aufhalten konnte? Kaum.

In diesem Moment nahm ich einen dunklen Streifen auf dem Boden wahr, der sich zwischen Zahndämon und Käfig über den Hallenboden zog. Was konnte das sein? Wasser? Doch die Spur wirkte dicker als Wasser und sah auch nicht so aus, als sei sie erst vor kurzer Zeit entstanden.

Wir befanden uns in einem alten Benzinlager, oder nicht?

Unauffällig fasste ich in die Hosentasche, und – jawoll! Der schmierige Fisch hatte mein Feuerzeug entweder nicht bemerkt, oder es war ihm nicht wichtig genug.

Es war meine einzige Chance. Mit einem Schnipp ließ ich die kleine Flamme entstehen und warf das Feuerzeug auf den dunklen Streifen auf dem Boden. Jetzt hieß es beten. Wenn es Geschöpfe der Hölle gab, dann musste es doch auch welche des Himmels geben, die mich jetzt mal unterstützen konnten.

Mein Plan funktionierte.

Er funktionierte sogar spektakulär gut.

An der Stelle, auf der mein brennendes Feuerzeug auf den Boden prallte, entstand eine Stichflamme, die sich rasend schnell die Spur entlangfraß. Ich sah aus den Augenwinkeln, dass meine Widersacher von dieser Aktion zumindest überrascht waren. Sie starrten auf die Flamme und standen stocksteif, wo sie waren.

Dann passierten zwei Dinge gleichzeitig: Der Aal, der genau auf der Spur aus verschüttetem Benzin – denn nichts anderes konnte es sein – stand, explodierte mit einem entsetzlichen Knall, als ihn die Flammen erreichten, und, was für mich noch viel wichtiger war: Das einzige, was er hinterließ, war ein Schlüsselbund, zu dem einer der Schlüssel sicherlich zum Schloss an Nadias Käfig passte. Ich sprintete zu der Stelle, an der der Bund zu Boden gefallen war, ergriff ihn und rannte weiter zum Käfigschloss. Hinter dem Flammenmeer, dass sich immer weiter ausbreitete sah ich kurz den Zahndämon. Sein Gesichtsausdruck, falls man bei diesem Wesen von so etwas sprechen konnte, wirkte wenig erfreut.

Doch ich hatte Wichtigeres zu tun, als mich auf den Gesichtsausdruck dieses Wesens zu konzentrieren. Ich rannte weiter zum Käfig. Gottseidank passte bereits der dritte Schlüssel, ich riss die Tür auf, und Nadia und ich flohen aus der lichterloh brennenden Halle. Vom Zahndämon sah ich nichts mehr. Ich war sicher, dass sich das bald ändern würde.