Von Marc Wahlen
Nun stehe ich hier an dieser Brücke. Von den Auswirkungen des gescheiterten Experimentes dorthin getrieben. Doch war es wirklich das Experiment, das mich in die Verzweiflung trieb? Oder trug etwas anderes die Schuld an diesem Misere? Im Grunde genommen, war es nur eine simple Annäherung an etwas Unbekanntes. Die Unbekanntheit der sozialen Interaktion. Bisher bestand mein einziger sozialer Kontakt darin, wenn ich mit den seltsamen Wesen über Gott und die Welt schwadronierte. Die Wesen, die eine bestimmte genetische Disposition mit den Geschöpfen, die Matthias Grünewald unter Einfluss des Mutterkorns visualisiert hatte, haben könnten. Nur, dass es für mich nicht vonnöten ist bewusstseinsverändernde Substanzen zu konsumieren, um die Wesen, die ich bisher pflegte, meine Freunde zu nennen, vor meinem Auge zu haben.
Derivativ taste ich nach der Absinthflasche, die es mir ermöglichen soll in einem delirenden Zustand in einem Tsunami der Wohlfühlatmosphäre aufatmen zu können, damit der finale Schritt leichter von der Hand ging. Doch was sollte der finale Schritt sein? Die logische Konsequenz unter der Anleitung des Pessimismuses? Oder vermag es gemäß Titus 2:11 doch sowas wie die Allversöhnung zu geben? Offen gestanden glaube ich nicht daran. Denn nach meiner Schandtat würde ich mir jede Sympathie mit einer versöhnlichen höheren Macht verspielt haben. In jenem Moment, in dem mir das Experiment, die für so viele Menschen normale soziale Interaktion mit anderen Menschen, den Strick schnürte und ich keinen anderen Ausweg mehr sah, merklich auf Messers Schneide stand, als letztendlich zur Luger zu greifen und dem gescheiterten Selbstexperiment ein Ende zu bereiteten, mit knallendem Applaus der 9 Millimeter.
Ein soziales Umfeld, der Kontakt zu anderen Menschen, ist in jedem drittklassigen Buch mit einem psychologischen Touch als Rezept für ein erfüllteres Leben zu finden. Mir blieb beides bis heute verwehrt. Doch weshalb sollte ich dann den Kontakt zu anderen Menschen pflegen, wenn ich doch mit meinen Grünewalder Wesen im Quartett meinen Lebensabend verbringen kann? Dennoch wagte ich mich in jenes unbekannte Terrain vor, das Scheitern dessen schon vor dem inneren Auge und ich wollte es mir eigentlich verbieten. Aber wie allgemein bekannt, reizt das Verbotene am meisten. So trieb ich mich unter die Menschen, setzte experimentell Gang und Mimik auf, von der ich mir erhoffte, sie würde als normal wahrgenommen. Doch ich brauchte Sicherheit. Die Sicherheit, welche einst von einem Österreicher konstruiert wurde. Doch dann ging alles schnell. Die Blicke, die Stimmen, das Geflüster, Geschreie, die Schritte aus allen Himmelsrichtungen – und zum Abschluss ein Regen aus Blei.
Nun ist mein Leben dem Ende geweiht. Auch, wenn mir nichts ferner läge, als die Schuld von meinen Schultern zu weisen, so hätte dieser Gedanken ohne die grimmigen Gesichter in den weißen Umhängen niemals soviel Raum eingenommen. Doch das ist nun egal. Die Schult wohnt in mir. Sie tat es schon immer. Doch nun ist sie aus ihrem Gehege ausgebrochen und zerreißt mich innerlich. Und ich bin nicht allein. Ich fühle, wie der Teufel bereits um mich pirscht. Mit der Geduld einer Raubkatze. Ich bin blind in mein Verderben gelaufen und nun wird sich der Teufel an meinen Sünden laben. Er wird mich mit offenen Armen empfangen und sich aus dem Meer meiner Schandtaten nähren.
Doch auch meine Freunde haben sich gegen mich gewandt. Bestanden unsere Konversation einst aus kritischen Debattieren oder genüsslichem Prahlen, weil wir anders waren, so verurteilen sie mich nun dafür, dass ich das Experiment gewagt habe. Hochverrat nennen sie es. Ich wollte ihnen den Rücken zu kehren. Und nun soll ich dafür über die Planke gehen. Während also der Teufel geduldig auf mich wartet, ergötzen sich die Dämonen bereits an den Splittern meiner Seele. Und es fühlt sich verdient an. Ich war schon mein Leben lang die Personifikation des Versagens. Doch nach dem experimentellen Schachspiel mit dem Schicksal, gibt es keinen Klimax auf der Welt, der die Steigerung meiner Schuld und meines Versagens in Worte fassen könnte.
Nun ist es soweit. Der letzte Funken Anwert mir gegenüber, der sich irgendwo in den Trümmern meiner Psyche versteckt hielt, ist erloschen und es besteht keine Aussicht darauf ihn jemals am Horizont meiner Seele erblicken zu dürfen und die Retoure in Empfang nehmen zu können. Es ist soweit einen Schritt nach vorne zu gehen und das Experiment abzuschließen. Mit dem Schritt nach vorne werde ich frei sein. Ich werde wie ein Vogel durch die Lüfte schweben und mit Gottes Gnade und des Teufels Einverständnis wird ein Teil meiner Sünden aus meinem Leibe raus geweht. Und wenn mein Flug ein Ende findet, so wird hoffentlich nichts mehr von meiner Desoxyribonukleinsäure in der Lage sein, Unheil zu verrichten. Und als mein letztes Nutzen, wird meine Seele das Abendmahl des Teufels und seiner Dämonen sein. So wird alles seinen richtigen Weg gehen. Und meine Tat wird der Menschheit eine Lehre sein. Denn wie Goethe schon einst sagte: „Ein Mensch, der um anderer Willen, ohne dass es seine eigene Leidenschaft, sein eigenes Bedürfnis ist, sich um Geld oder Ehre oder sonst etwas abarbeitet, ist immer ein Tor“. Das Leben lebt von Wagnissen. Und Experimente sind Wagnisse. Doch wählet sie weise. Es nützt nichts ein Experiment einzugehen, nur des Experimentes wegen. Und schon gar nichts, wenn die Ausführung der Willen eines anderen ist.