Von Jan Mozer

Der Abend ist jung, die Vögel zwitschern, die Wärme steht zwischen den Häusern – Sommeranfang in Deutschland. Johann, ein attraktiver Mittvierziger, schlendert in kurzen Hosen, Flipflops und weißem Polohemd durch die Altstadt seines Heimatortes, eine verschlafene Kleinstadt vor den Toren des Schwäbisch-Fränkischen Waldes. Er lässt sich nicht anmerken, dass er vor drei Monaten seine Frau verloren hat. So formuliert es Johann. Tatsächlich aber stritten seine Frau und er sich heftig, er stürmte aus dem Haus, fuhr weg und kam nicht mehr zurück. Seitdem geht Johann regelmäßig in die kleinen Bars und Kneipen, auf der Suche nach einer neuen Herzensdame. Johann kann gar nicht verstehen, warum die Suche bislang nicht erfolgreich war. Ist er doch attraktiv, muskulös, ein Mann mit Lebenserfahrung.
Johann schlendert über den Marktplatz – zur Linken eine alte Kirche, zur Rechten viele historische Fachwerkhäuser. Plötzlich bleibt er kurz stehen und setzt sich dann auf eine Bank.

 

„Warum“, fragt er, „habe ich bislang keinen Erfolg? Warum muss ich diese Rolle spielen?“
Mir fällt der Stift aus der Hand. Das war mir noch nie passiert. Ich atme tief durch, hebe den Stift auf und schreibe weiter.
„Johann, du wirst noch Erfolg haben. Sei geduldig, ich möchte einen Spannungsbogen aufbauen und halten. Ohne diesen Bogen wäre die Geschichte langweilig und könnte in einem Satz erzählt werden.“
Johann schüttelt den Kopf.
„Warum musste mir das passieren? Warum? Meine Frau und ich waren doch glücklich. Warum konnte das nicht einem anderen passieren?“
„Johann, es werden auch wieder schöne Momente, großartige Rollen, außergewöhnliche Geschichten mit dir kommen. Das ist nur eine von vielen.“
Ich schaue auf meine Skizzen für zukünftige Erzählungen. In zahlreichen Skizzen taucht die Figur des Johann – wenngleich unter anderem Namen – wieder auf.
„Außerdem hast du heute eine sehr gute Möglichkeit, jemanden kennenzulernen“, füge ich hinzu.
Johann lacht laut. Es klingt falsch. Er wischt sich eine Träne aus den Augen.
„Ich will keine sehr gute Möglichkeit. Ich will jemanden kennenlernen. Meine Frau vergessen. Ein neues Leben beginnen. Nicht hier. Nicht in Deutschland. Ich will die Welt erkunden. Die Tropen bereisen. In Fischerdörfchen leben. Sonne tanken, frische Kokosnüsse von Palmen pflücken, hübsche Frauen beeindrucken und dann die Frau meines Lebens kennenlernen. Du willst mich doch weiter in deinen Geschichten benutzen. Dann schick mich an solch einen Ort. Mach mich glücklich.“
Ich atme tief durch. Johann pokert. Ich möchte ihn jedoch nicht verlieren.
In dem Hotelzimmer, in dem er sich seit dem Streit aufhält, findet Johann seinen Koffer wie von Zauberhand gepackt vor. Vor dem Hotel steht ein Taxi bereit, das ihn zum Flughafen fährt. In der Zwischenzeit will ich herausfinden, welche Ziele für Johann in Frage kommen. Nach einigem Abwägen entscheide ich mich für Mexiko.

 

Knapp 15 Stunden später kommt Johann ausgeschlafen in einem Dorf an der Pazifikküste Mexikos an. Er trägt noch immer die Kleidung von gestern Abend. Der Taxifahrer lässt ihn vor seinem Hotel aussteigen. Johann stellt den Koffer im Hotel ab und spaziert durch eine Gasse mit vielen Souvenirläden zum Strand. Seine Augen strahlen vor Freude, als er das Meer erblickt. Ich bin zufrieden. Anscheinend konnte ich ihm helfen. Die Handlung hätte vollständig in seiner Heimatstadt spielen sollen, aber vermutlich tut Johann dieser Ausflug gut, um wieder zu sich – und zu seiner Frau – zu finden. Johann zieht die Flipflops aus, nimmt sie in die Hand und spaziert am Strand entlang. Er wagt sich bis zu den Knöcheln ins Wasser. Der Strandabschnitt, eine Bucht zwischen zwei Felsen, ist voller Liegestühle. Strandbars gibt es dort. Johann beschließt, diese am Abend aufzusuchen. Er freut sich, die Bekanntschaft mit einer feurigen Latina machen zu dürfen. Nach einem Abendessen in einem typischen Restaurant, Johann hat frischen Fisch gegessen, begibt er sich in eine kleine Bar, aus der angesagte Musik dröhnt.

Kurz danach verlässt Johann die Bar wieder und setzt sich auf einen Liegestuhl.
„Wie genau stellst du dir das eigentlich vor?“, fragt er.
„Was meinst du, Johann?“
„Du hast mich in ein Dorf geschickt, in dem ich mich auf Spanisch oder Englisch verständigen muss. Du weißt doch, dass ich diese Sprachen nicht beherrsche. Wie soll ich hier jemanden treffen? Deutsch wird wohl kaum jemand sprechen.“
Ich atme tief durch. Unzufrieden bin ich mit dem Verlauf der Geschichte. Ohnmächtig fühle ich mich. Johann gewinnt an Kraft, ich verkomme zum Spielball. Zum Beobachter. Meine Erzählung über Johann gerät aus dem Gleichgewicht und wird zu seinem ganz eigenen Ding.
„Johann, ich kann dir nicht überall helfen. Du wolltest hierher – hier bist du. Ich schätze dich und würde gerne weiterhin mit dir Abenteuer erleben. Personen ansprechen – das musst du selbst.“  
„Wir hatten eine Vereinbarung und an diese hast du dich zu halten“, schreit Johann.
Soll ich überhaupt noch weiterschreiben? Ich lasse mich darauf ein. Vielleicht finde ich ja noch diesen einen Wendepunkt, der die Geschichte wieder zu meiner macht und sie zu ihrem geplanten Ende führt.

 

„Hallo.“ Johann schaut auf. Eine gutaussende Frau mit langen schwarzen Haaren und einem leichten Sommerkleid steht neben ihm. Sie müsste in seinem Alter sein. Johann lächelt. Sie hat ihn angesprochen.
„Danke“, flüstert er und zu ihr gewandt sagt er: „Hallo.“
„Ich bin Luisa, wer bist du?“
„Johann. Bist du von hier?“
„Ja, das bin ich. Aber ich habe in Deutschland studiert, deswegen spreche ich Deutsch. Warum sitzt du hier so alleine?“
„In der Bar wurde es mir zu eng. Zu viele Leute und zu laute Musik.“
Luisa lacht. Es klingt ehrlich. „Das kenne ich. Wollen wir hier am Strand entlang spazieren?“
Johann nickt und springt auf. Die beiden laufen los. Sie unterhalten sich sehr leise. Immer wieder höre ich Luisa vergnügt glucksen. Sie passen wohl gut zueinander. Wenig später sitzen die beiden am Strand und blicken aufs Meer hinaus. Sie sind in einem Abschnitt angelangt, in dem es keine Strandbars mehr gibt. Es ist ganz ruhig. Luisa rückt näher an Johann heran und schmiegt ihren Kopf an seine Schulter. Johann legt seinen Arm um ihre Schulter. Plötzlich küssen sie sich. Lange und innig. Dann lieben sie sich.
Auch die nächsten Tage verbringen die beiden miteinander. Meist vergnügen sie sich im Bett. Gelegentlich gehen die zwei Turteltäubchen an den Strand.

 

Einige Tage später reist Johann ab. Alleine. Er steigt in ein Taxi und lässt sich zum Flughafen fahren.
„Ich will jetzt an einen anderen Ort. Das war so außergewöhnlich hier. Das müssen wir wiederholen.“
„Wo ist Luisa?“, frage ich.
„Ich will mich nicht binden. Dieses Leben stelle ich mir so aufregend vor. Neue Orte, neue Begegnungen, neue Abenteuer. Ich könnte dir zu vielen neuen Erzählungen verhelfen. Wir könnten so viel gemeinsam erleben.“
„Johann“, erkläre ich, „diese Geschichte ist nicht deine. Ich wollte über Liebe und Zusammenhalt schreiben. Es sollte eine Erzählung werden, die andere inspiriert, für das, was sie lieben, zu kämpfen und nicht vor ihren Problemen wegzulaufen. Diese plötzlichen Alleingänge passen nicht dazu. Du wolltest jemanden kennenlernen. Jetzt willst du wilden Sex, wechselnde Partner und zum reisenden Unverbindlichen in dieser Welt werden. Du überfällst mich jeden Tag mit neuen Ideen.“
Johann lacht. Er fühlt sich überlegen.
„Das bin ich nicht“, schreit er, „Ich will kein spießiges Leben mehr führen. Freiheit will ich. Freiheit. Die Welt erkunden. Du gibst mir die falsche Rolle – das bin ich nicht. Ich bin doch du!“
„Johann, du wirst auch wieder andere Rollen bekommen. Ich verrate dir etwas: In einer anderen Erzählung konntest du sogar fliegen.“
Er lacht wieder. Dieses Mal, denke ich, lacht er über mich.
„Wer kann denn fliegen?“ Vor lauter Lachen steigen ihm Tränen in die Augen. „Niemand kann fliegen. Das ist absurd. Das ist deiner Fantasie entsprungen“, fügt Johann hinzu.
Die Geschichte läuft aus dem Ruder.
Das Taxi hält an. Johann steigt aus und rennt mitten in einen Wald.

 

Ich will mit Johann nicht den Verlauf der Handlung diskutieren. Und schon gar nicht den Begriff der Fantasie. Ich lege meinen Stift beiseite. Johann wollte seinen Freiraum, ich hatte ihm diesen gegeben. Er wurde jedoch stärker. Und ich ohnmächtiger. Ich muss mir eingestehen, dass das Experiment gescheitert ist. Von der Figur des Johann – gleich, welchen Namen sie trägt – werde ich mich in Zukunft distanzieren müssen.

 

Mein Schreibheft klappe ich zu und blicke nach rechts. Der Mülleimer ist weit geöffnet. Er sieht aus wie ein Karpfen, der sein Maul öffnet in der Hoffnung, gefüttert zu werden. Ich komme der Bitte nach.
Dann stehe ich auf.
Verlasse das Haus.
Steige auf mein Fahrrad.
Fahre los.
Ich muss den Kopf freibekommen.
Neue Ideen sammeln.
Neue Geschichten entwickeln und zu Papier bringen.

 

V2