Von Monika Heil

Jeden Morgen vor dem Frühstück schlägt von Stetten vier, fünf Begriffe in seinem Duden nach. Gedächtnistraining, nennt er es. Zufrieden klappt er das zerlesene Exemplar zu. Experimente –  Der Versuch, etwas anders zu machen. Ein gewagtes, unsicheres Unternehmen, das auch ein Risiko birgt, hat er gerade nachgelesen. Wie bei der Schlacht zu Waterloo, denkt er.

 

»Komm auf die Schaukel, Luise«, trällert er kurz darauf vor sich hin, während er Rasierwasser auf seine Wangen verteilt.

»Hubertus, du hast dich gut gehalten«, erklärt er seinem Spiegelbild und nickt bestätigend. »Du gehörst noch lange nicht zum alten Eisen. Deshalb darfst du auch deinen ganz persönlichen Feldzug planen.«

Er geht zurück in sein kleines Wohn-Schlafzimmer, zieht die dunkelblaue Strickjacke über und zupft abschließend am farblich passenden Tuch. Sie legt auf eine gepflegte Erscheinung wert. Da kann er punkten.

 

Jeden Morgen dasselbe Ritual. Hubertus von Stetten neigt leicht den Kopf, Frau Holl richtet ihr schönes, weißes Haar und lächelt bezaubernd.

»Guten Morgen die Damen. Meine Herren.«

»Herr von Stetten, auch Ihnen einen guten Morgen. Hatten Sie eine angenehme Nacht?« Lilo Sander, die Plaudertasche, wie er sie im stillen nennt.

»Moin.« Günter Küster, der Norddeutsche.

Franz Söhnker reagiert nicht. Er schneidet weiter seinen Toast in kleine Reiter. Sieben Stück sollen es werden. Für jeden Zwerg eines. Er muss sich konzentrieren. Und dann noch ein größeres für Schneewittchen.

Günter Küster rührt in seiner Kaffeetasse, als wolle er den Boden auflösen. Lilo Sander zerteilt einen Apfel und Luise Holl, seine Luise, wie er sie im Stillen nennt, löffelt ihr Müsli. Sie lächelt bezaubernd und schweigt. Erwartungsvoll, will ihm scheinen. Überzieht eine leichte Röte ihre Wangen?

 

Jetzt oder nie. Doch plötzlich ist er wieder da, dieser vermaledeite Satz. Ein gewagtes, unsicheres Unternehmen. Nicht jetzt. Nicht mit den Zuhörern am Tisch. Rückzug, Hubertus. Major von Stetten geht forschen Schrittes weiter zu seinem Platz. Gut, dass er es geschafft hat – zumindest vorübergehend – allein an einem Zweiertisch zu speisen. Außer Luise gibt es in dieser Seniorenresidenz niemanden, mit dem er sich vorstellen kann, gemeinsam die Tischzeit zu genießen. Seine Blicke folgen Schwester Sabine, die – wie jeden Morgen – im Eilschritt auf dem Weg zu ihren ´Sorgenkindern` ist, die, still und in sich gekehrt, neben der Trennwand und den drei Farnen sitzen.

 

Lange hat er in Gedanken verschiedene Strategien abgewogen. Ein Spaziergang an der Elbe, verbunden mit der Einkehr im Café Möwennest. Weit genug weg von ihren Tischnachbarn und den ´senilen Alten`, wie es Herr Söhnker gern formuliert.

Oder doch ein exquisites Essen für zwei in seinem Appartement? Den Koch des Hauses um ein besonderes Menü bitten? Zu viele Mitwisser, zu viel Gerede. Die Bewohner des Hauses lieben Klatsch. Haben ja sonst kaum Abwechslung. Doch er, Major Hubertus von Stetten, legt keinen Wert darauf, der Auslöser zu sein.

Ein Opernabend? Aperitif, Taxifahrt in die Staatsoper. In dieser Spielzeit wird La Traviata gegeben. Ein Stück ohne Happy End? Nun ja. Dennoch, es ist eine seiner Lieblingsopern. Anschließend einen Kaffee – wieder bei ihm?

 

Warum hat er sie nicht – wie geplant – um ein Gespräch gebeten? Der Alte Fritz fällt ihm ein. Der hätte sicher nicht derart gezaudert.

 

Ständig schaut er nervös auf die Uhr. Hubertus, reiß´ dich zusammen, mahnt er sich und tupft mit der Serviette einen Krümel von den Lippen. Er hofft, die anderen drei verlassen den Speisesaal vor Luise Holl. Dann wird er einen neuen Versuch starten. Immer wieder nimmt er den Tisch am Fenster ins Visier. Jetzt gehen die Herren Küster und Söhnker gemeinsam. Sehr gut. Was trödelt Frau Sander da noch herum? Endlich steht auch sie auf.

 

Von Stetten hat sich für den Ausflug an die Elbe entschieden und seine Einladung im stillen vorformuliert.

»Was halten Sie davon, meine Liebe, wenn wir unser Altsein wenigstens für einen Tag verschieben?«, wird er sie fragen und ihr dann seine Pläne unterbreiten. Noch ehe er sich von seinem Platz erhoben hat, verlassen die beiden Damen gemeinsam den Raum.

»Und nun?«, fragt er sich enttäuscht. 9.20 Uhr. Das Wetter ist schön. Ich werde einen Spaziergang unternehmen und einen neuen Schlachtplan ausarbeiten, beschließt er.

 

                          ***

Franz Söhnker sitzt an der Haltestelle und beschäftigt sich mit Nichtstun.

»Warten Sie auf den Bus?«

Erschrocken fährt er zusammen und blinzelt, während er mit der Hand die Sonne abschirmt.

»Ach, der Herr Major. Haben Sie mich jetzt erschreckt. Hier kommt kein Bus. Wissen Sie das nicht?«

Ein Experiment der Hausverwaltung. Soll ihren zu Demenz neigenden Gästen das Gefühl geben, mobil zu sein. Als Fahrtstrecke ist auf der Anzeigetafel aufgeführt: Parkresidenz – Rathaus – Bahnhof – Parkresidenz. Sogar eine Bank mit Überdachung hat man in der kleinen Grünanlage im Innenhof aufgestellt.

»Klar weiß ich das, Herr Söhnker. Hätten Sie mal ein paar Minuten Zeit für mich?«

»Gern, Herr von Stetten. Um was geht es denn?«

Sicher ist sicher. Ein Verbündeter kann nicht schaden. Das zeigt schon die Weltgeschichte.

 

Und so erfährt Franz Söhnker, was seinen Mitbewohner im Inneren bewegt. Unter dem Siegel der Verschwiegenheit, versteht sich.

»Wie würden Sie vorgehen?«, fragt Hubertus, nachdem er seine Gedankenspiele dargelegt hat.

»Angriff ist die beste Verteidigung, sagt das nicht schon Napoleon?«, schmunzelt sein Gesprächspartner.

»Aber ich habe hier doch nichts zu verteidigen«, entgegnet von Stetten verblüfft.

»Sie sind ja auch nicht Napoleon«, grinst Franz Söhnker.

»Im Ernst, was glauben Sie, welche Strategie ich fahren sollte? Sie sprechen doch täglich mit ihr.«

»Also, wenn Sie mich fragen …« Schweigen.

»Ja? Dann? – Herr Söhnker, ich frage Sie doch.«

»Luise liebt Krimis. Laden Sie sie zum Fernsehen ein.«

Wie profan. Nein, das nun wirklich nicht. Auf keinen Fall. Und wieso nennt dieser kleine Beamte seine Luise beim Vornamen? Er hätte doch jemanden mit einem höheren Dienstgrad fragen sollen. Nur wen?

»Danke für den Rat, lieber Herr Söhnker.« Immer höflich bleiben, ist seine Devise. »Ich werde mir das durch den Kopf gehen lassen. Einen schönen Tag noch.« Schnell steht er auf. Er muss sich jetzt bewegen, seine Gedanken neu sortieren.

»Ihnen auch, Herr von Stetten«, antwortet der alte Herr und schaut dabei konsterniert auf seine Armbanduhr. »Der Bus hat heute schon wieder Verspätung. Schwester Sabine wartet auf mich und ich komme zu spät ins Tanzcafé. – Tanzen! Herr von Stetten, das lieben die Frauen. Laden Sie Ihre Angebetete zum Tanzen ein.«

»Gute Idee. Danke Herr Söhnker.«

 

Das Leben ist wie ein Tanz. Irgendwann ist das Lied zu Ende und wir gehen von der Bühne.

Wo hat er das gelesen? Er weiß es nicht mehr.

»Das Alter«, rechtfertigt er seine Vergesslichkeit vor sich selbst.

 

Auf dem Weg zurück in sein Appartement fällt ihm ein Film mit Ruth Leuwerik als Königin Luise ein. Ihr Wiener Walzer mit Napoleon. – Quatsch, denkt er. Mit Zar Alexander hat sie getanzt. Oder? Egal, Tanzen war nie seine Stärke. Er muss zu anderen Waffen greifen. Sein Telefon klingelt, gerade als er die Tür aufschließt.

 

»Von Stetten.«

»Luise Holl.«

»Welch eine Überraschung, liebe gnädige Frau. Was kann ich für Sie tun?«

Seine Stimme klingt so erstaunt, wie sie es voraus gesehen hat. Sie muss lächeln.

»Lieber Herr von Stetten, hätten Sie Lust auf eine Tasse Kaffee heute Nachmittag bei mir?«

Als hätte es auf diesen Satz gewartet, pocht sein Herz sofort schneller.

»Aber gern. Sehr gern. Gibt es einen Anlass?«

»Keinen besonderen, nein. Ist Ihnen 15.00 Uhr recht?«

»Sehr recht. Ich werde pünktlich sein. Danke für die Einladung.«

 

Siehst du, Luise, das hat doch gar nicht weh getan.

Sie sollten den Versuch wagen, etwas anders zu machen, hat ihr Tageshoroskop empfohlen. Und nun hat sie ihren Versuch gewagt, diesen stillen, sturen, liebenswürdigen alten Herrn aus der Reserve zu locken.

»Dein ist mein ganzes Herz. Wo du nicht bist, will ich nicht sein«, summt sie vor sich hin. Während sie durch ihr Zimmer tänzelt, fällt ihr Blick wieder auf den Brief ihrer Tochter.

»Tut mir leid, Mama, diesmal kann ich dich nicht in die Operette begleiten. Wir haben zur Zeit ein wichtiges wissenschaftliches Experiment, das mich vorübergehend auch zum Nachtdienst zwingt. Sicher gibt es in eurem Haus eine nette Dame, die sich über die zweite Karte freut.«

Sicher, mein Schatz, denkt Frau Holl. Die gibt es. Aber es gibt auch Major von Stetten und der kommt nachher zum Kaffee.

 

Version 2