Von Diana Osieja

Jedes Mal, wenn ich von der Arbeit nach Hause kam, sah ich das ältere Pärchen. Sie saßen immer bei schönem Wetter auf der gleichen Pavillon-Bank im Park und hielten sich die Hände verliebte Teenager. Am Anfang waren sie mir gar nicht aufgefallen. Ich war froh, wenn ich endlich zu Hause war und meine Füße hochlegen konnte. Daher weiß ich auch nicht, seit wann sie diese Bank besuchten.

Irgendwann jedoch SIND sie mir aufgefallen.

In der heutigen Welt ist es einfach seltsam wenn jemand einfach nur dasitzt, lächelt und die Umgebung betrachtet. Es ist, als ob die Zeit für einige Menschen stehenbleiben würde, während ihr die anderen hinterherrennen. Genauso wie ich.

Als ich sie zum ersten Mal bewusst wahrnahm, schossen mir recht hämische Gedanken durch den Kopf.

„Alt und tattrig sitzen sie da.“

„Deren Leben ist schon fast vorbei, können nur noch rumsitzen“

„Wahrscheinlich bekommen die beiden eh nicht mehr viel mit.“

Und ähnliches. Bald waren es wütende Gedanken, die mich beschämten und ich stürmte mit gesenktem Kopf vorbei. Wenn ich sie nicht sehe, sehen sie mich nicht. Absolut kindisch. Aber ich wusste dass sie mich wahrgenommen hatten, denn sie nickten jedem Vorbeikommenden freundlich zu –  selbst wenn derjenige sie ignorierte – also auch mir.

Es war, als verspotteten sie die vorbeihuschenden Menschen: „Schaut, wir können hier gemütlich sitzen, wir haben ein Leben lang gearbeitet und ruhen uns jetzt aus.“

So kam es mir zumindest vor und ich wollte nie etwas mit ihnen zu tun haben. Natürlich bin auch ich mit Vorurteilen belastet. Alte Menschen riechen schlecht, sie hören nicht gut und sind langsam. Sie haben andere Wertvorstellungen, die nicht mehr in unsere Welt passen –  veraltet eben.

Dann kam eine Zeit, in der es im Job richtig gut lief und ich ging beschwingt nach Hause, mein Schritt war leicht. Da es sommerlich warm war, wimmelte es im Park von Menschen die auf Decken herumlagen oder sogar verbotenerweise grillten. Studenten saßen zusammen und lachten, spielten Gitarre und Bongos, sangen.

Das Pärchen saß da wie immer und im Getümmel traute ich mich sie aufmerksam aus der Ferne zu betrachten, bevor ich an ihnen vorbeistürmte. Der Herr hatte eine bequem sitzende Stoffhose und ein blauweiß gestreiftes Hemd an. Das Jackett lag über seinem Schoß. Das Haar war schütter und grau, ebenso wie sein gepflegter Bart. Er muss einst groß und kräftig gewesen sein, sportlich, denn seine Haltung war tadellos.

Die Frau neben ihm trug ein altmodisch geblümtes Kleid an, das bis zu den Waden ging, einen ebenso geblümten Schal und eine hellblaue Strickjacke um die Schultern. Ihr Haar war voll, strahlend weiß und im Nacken zu einem Zopf geflochten. Auf ihrem Schoß lag ein Paar feiner, hellblauer Handschuhe, passend zu der Strickjacke. Auch sie musste einmal eine Schönheit gewesen sein und ebenso wie der Herr hatte sie nicht die oftmals typischen zusammengesackte Körperhaltung eines älteren Menschen.

Ich war neidisch. Es klingt abstrus, aber ich war wirklich neidisch. Sie hatten die schwere Zeit schon hinter sich, sie konnten das Leben genießen, faul herumsitzen und ihrer Kleidung nach zu urteilen waren sie bestimmt nicht ärmlich. Sie sahen gesund und fit aus.

Mein Tag war versaut. Ich stapfte nach Hause, stopfte mir eine Tüte Chips in den Rachen und knallte mich vor den Rechner. Irgendeine Science Fiction Serie von Netflix lenkte mich ab und ich vergaß sie für diesen Tag.

Aber der nächste Tag war genauso. Ich sah sie und wurde von den heftigsten Gefühlen gebeutelt ohne jemals mit den beiden gesprochen zu haben. Nicht mal gegrüßt hatte ich sie bisher. Ich nahm einen anderen Weg nach Hause, ein Umweg zwar, aber ich begegnete ihnen dadurch nicht mehr.

Es dauerte nicht lange, bis ich mich eine Närrin schalt. Wie konnte man so dämlich sein und wegen zwei wildfremden Menschen einen fast 10 Minütigen Umweg machen – Zeit ist kostbar!

Also ging ich wieder durch den Park und da waren sie –  wie immer. Sie lächelten und nickten den Menschen freundlich zu. Manchmal nickten andere zurück, meist jedoch nicht. Ich rauschte an ihnen vorbei.

Auf der Arbeit vergaß ich sie, auch wenn ich zu Hause vor dem Rechner saß oder anderweitig beschäftig war ebenfalls. Nur wenn ich durch den Park ging, waren meine Gedanken sofort bei ihnen. Ich suchte sie schon von weitem. Wenn es regnete waren sie meist nicht da und ich konnte beschwingt ausschreiten. Ich genoss es, doch sobald die Sonne sich zeigte, waren sie ebenfalls anwesend. Ich überlegte ob ich nur bei Regen durch den Park gehen sollte und bei schönem Wetter den Umweg, aber das war mir zu blöd.

In Skype erzählte ich meinen „Freunden“ von dem Pärchen, zog über sie her ohne Grund. Einige lachten, andere schwiegen. Ich kam mir wieder schäbig vor.

Es half alles nichts, ich bin ja kein schlechter Mensch – bestimmt nicht. Ich bin ganz normal. Aber ich schämte mich und wusste nicht wirklich warum. Mehrmals nahm ich Anlauf und wollte bei der Bank stehen bleiben, höflich guten Tag sagen, um endlich Klarheit zu haben. Klarheit worüber? Selbst das wusste ich nicht.

Zwei Wochen lang, jeden Abend nach der Arbeit, kämpfte ich mit mir. Rang um meinen Mut zwei fremde Menschen anzusprechen. Es war schwer, so schwer.

 

+++

 

„Guten Abend!“

„Guten Abend!“ Zwei freundliche Augenpaare sahen zu mir auf.

„Entschuldigen sie, ist noch Platz auf der Bank?“

„Natürlich, setzen Sie sich ruhig.“ meint die Dame mit einem Lächeln und klopft neben sich auf das Holz.

Ich setze mich umständlich und starre geradeaus. Was soll ich nun sagen?

Der Herr nickt mir zu: „Sie gehen oft durch den Park, nicht wahr?“

„Ja, es ist mein Weg von der Arbeit nach Hause“, antworte ich verlegen.

Sie lächelt und legt den Kopf schief: „Was arbeiten Sie denn?“

„Ich .. ähm… bin Verkäuferin in der City-Passage.“

„Das ist bestimmt ein sehr anstrengender Beruf, bei den Menschenströmen, die da täglich durchkommen.“ Meint der Herr aufmerksam.

Ich nicke bestätigend „Ja, schon. Manchmal ist es sehr stressig.“

Wir schweigen und ich schaue mich um. Versuche, die Welt aus ihrer Perspektive zu sehen. Die Menschen, wie sie vorbeirasen, manche mit gesenktem Kopf, Handy vorm Gesicht oder Headset im Ohr. Aber ich sehe auch anderes, ein gepflegtes Beet, eine Mutter mit ihrer Tochter auf dem Spielplatz in der Nähe –  beide im Sand sitzend, ein verliebtes Pärchen an einem Baum gelehnt und einen Mann, der schwitzend vorbeijoggt und uns mit Handzeichen grüßt. Ich bin erstaunt, denn plötzlich stiehlt sich ein Lächeln auf mein Gesicht. Es fühlt sich gut an.

„Wie heißen Sie denn, meine Liebe?“, fragt mich plötzlich die Dame.

Völlig verdattert starre ich sie an, sprachlos. Er beugt sich etwas vor, um an seiner Frau vorbei zu mir sehen zu können.

„Julia!“, platzt es aus mir heraus.

„Ein schöner Name, zeitlos.“ Er schmunzelt belustigt, als wisse er wie sehr sie mich geschockt haben. „Mein Name ist Lothar und dies“, er deutet auf seine Frau, „ist Irmgard, meine Frau.“

„Ähm, ja nett Sie kennen zu lernen.“ Lassen mich meine Manieren antworten.

Sie reicht mir die Hand. „Ebenfalls, Julia. Ich darf Sie doch beim Namen nennen, oder?“ Ihr Lächeln ist herzlich. Warum? frage ich mich, aber es wärmt mich und ich lächle zurück.

Ihre Hand sachte drückend antworte ich. „Ja, gerne.“

„Sie dürfen mich auch gerne Irmgard nennen.“

Ich bin perplex.

Beide lehnen sich wieder zurück und beobachten die Menschen ringherum. Ich mache es ihnen nach, total irritiert.

Dann beugt sich Lothar wieder etwas vor und sieht mich an. „Wissen Sie, wir haben Sie schon oft gesehen und uns gefragt was Sie bedrückt.“ Sie nickt bestätigend und fährt fort: „Wir sitzen fast jeden Tag hier und betrachten die Menschen um uns herum.“

Ich drehe langsam meinen Kopf zu den beiden. „Warum?“

„Wir schauen zu und überlegen uns was in den Menschen vorgeht. Was sie in der heutigen Zeit so antreibt und ob wir genauso waren.“

Ich runzle die Stirn. „Ich weiß es ehrlich gesagt auch nicht, ich habe oft das Gefühl, zu wenig Zeit zu haben.“

Er wiegt leicht den Kopf. „Und im Moment? Drängt es Sie, wieder zu gehen?“

Erstaunt muss ich schmunzeln „Nein, es ist schön hier und Sie beide scheinen auch sehr nett zu sein.“ Irgendwie befreit lehne ich mich zurück und schaue in Gedanken versunken in eine andere Richtung. Das Pärchen gluckst leise und ich wende mich ihnen wieder zu. Aber sie sind weg –  als hätte es sie nie gegeben.

Ich habe sie auch nie wieder gesehen. Aber jetzt sitze ich nach der Arbeit immer ein paar Minuten auf der Bank und lächle die Menschen an, die vorbeikommen. Es ist wie ein verrücktes Experiment. Meist flitzen sie an mir vorbei –  ähnlich, wie ich es gemacht habe. Manchmal setzt sich jemand zu mir – ich jedoch verschwinde nicht.

 

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