Von Raina Bodyk

Heinz fühlt, dass sein Krebs gewonnen hat, dass es mit ihm zu Ende geht, und ruft seinen Arzt herbei: „Ich glaube, es ist so weit.“

„Sie wollen wirklich? Sind Sie sicher, dass Sie Ihre Absicht nicht geändert haben?“ Heinz nickt nur. Ihm ist nur ein sehr kurzes Leben vergönnt gewesen. Er ist doch gerade erst einundvierzig geworden!

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Die drei Ärzte beugen sich über den geöffneten, sargähnlichen Tank. Dr. Parker äußert selbstsicher: „Also los. Warten wir nicht länger. Tauen wir ihn auf.“

Dr. Howard mahnt zur Vorsicht: „Vorsicht! Es dürfen sich keine Eiskristalle in der Blutbahn bilden.“

Der Neurochirurg Dr. Roberts wird ungeduldig. „Ja, ja. Der Patient kannte das Risiko. Das Experiment war seine einzige Hoffnung, den bösartigen, wild streuenden Krebs irgendwann besiegen zu können. Inzwischen ist der Tumor heilbar. Also legen wir los.“

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Heinz schlägt die Augen auf und blickt sich stirnrunzelnd um. „Wo bin ich?“, krächzt er. Seine Stimme klingt rau und kratzig. Anscheinend hat er lange nicht gesprochen. Hatte er einen Unfall? Fragend sieht er die drei im schneeweißen Arztkittel an.

„Sie erinnern sich nicht?“, wird er gefragt. Langsam schüttelt er den Kopf, da ist nichts, absolut nichts. Ihm ist schwindelig und ein bisschen übel. Ob er schon lange hier liegt? Seltsam, wie die Ärzte ihn fixieren. Wie eine Fliege unterm Mikroskop…

Die Doktoren flüstern leise miteinander und er hört so etwas wie: „Psychologisch betrachtet … erst mal schweigen … instabil … später…“

„Herr Anderson, wir werden Ihnen alles erklären, aber erst steht noch eine Reihe von Untersuchungen an, um alle physischen und psychischen Funktionen zu testen.“

„Wo ist meine Frau?“

„Später, Herr Anderson, später.“

 

Zwei Tage später. Heinz erinnert sich wieder an seine Vergangenheit: an seine Familie, den Magenkrebs und seine Todesangst.

In dieser Woche geschieht auch – beinahe nebenbei – das Unerhörte und von ihm so unendlich Ersehnte: Sein Krebs wird geheilt! Mit einer einfachen Umprogrammierung seiner Gene wird er davon befreit. So, als wäre das gar nichts! Endlich frei von dieser unerträglichen Angst. Nur deswegen hatte er damals alles auf die eine Karte Zukunft gesetzt.

Heinz fühlt sich so leicht und frei, als könne ihm nie wieder etwas geschehen. Wie gut, dass er sich damals vor 35 Jahren – lebenshungrig, verzweifelt, schmerzgepeinigt und doch zutiefst unsicher – für die Kryonik entschieden hat. Die Erinnerung an das gruselige, alptraumhafte Procedere bereitet ihm immer noch Gänsehaut: Das Blut in seinem toten Körper durch ein tödlich giftiges Frostschutzmittel ersetzt, seine Leiche dann tiefgekühlt auf -196 °C. Aber dadurch wurde ihm ein neues Leben geschenkt! Wie lange es wohl währen wird? 100 Jahre, mehrere hundert Jahre, ewig? Er traut der Wissenschaft inzwischen fast alles zu. Mit einem einzigen mutigen Schritt ist er in seine eigene Zukunft vorgestoßen! Wahnsinn!

Doch am nächsten Morgen entdeckt er eine Verhärtung am linken Schulterblatt. Metastasen? Ist die Umprogrammierung etwa nur zum Teil gelungen? Panisch wendet er sich an Dr. Howard. Dieser beruhigt. „Na, na, nur keine Angst. Wir haben keinen Fehler gemacht. Jeder, der hier lebt, bekommt einen Chip eingepflanzt. Sie auch, gleich nachdem wir Sie wieder ins Leben gerufen haben. Damit können Sie hier Ihr ganzes Leben regeln und ihre Gesundheit wird laufend überwacht.“

Heinz ist einerseits sehr erleichtert, aber andererseits auch tief schockiert. Man hat also inzwischen tatsächlich den gläsernen Menschen geschaffen! Ihn der totalen Manipulation ausgeliefert!

„Nur zum Schutz. Das Leben hier ist mustergültig geregelt. Jedes Problem wird sofort gelöst, jede Gefahr beseitigt.“

Heinz denkt unwillkürlich an die Diskussionen und Auseinandersetzungen von früher. Jetzt scheint Datenschutz kein Thema mehr zu sein. Sehr fragwürdig!

Howard scheint seine Gedanken zu lesen.

„Der Chip garantiert Frieden und Sicherheit. Er meldet sofort jede psychische Störung, jede Anfälligkeit für Fanatismus oder Gewalt.“

 

Bei seinen Wanderungen durch das ultramoderne Krankenhaus – ins Freie darf er noch nicht – wird Heinz meist von der hübschen Schwester Lisa begleitet. Sie ist sehr freundlich, lächelt immer. Als er das Dr. Parker gegenüber lobend erwähnt, wundert der sich: „Haben Sie nicht gemerkt, dass sie, wie die meisten niedriger Beschäftigten, eine Maschine ist? Allerdings eine sehr intelligente. Sie hat nur positive Gefühle, da haben wir aufgepasst!“ Er lacht belustigt, als er die Verblüffung seines Patienten sieht. „Ja, ja. Machen Sie sich noch auf einiges gefasst!“

 

Heinz weiß immer noch nicht, ob seine Frau nun hier ist oder nicht und fragt wieder einmal nach ihr: „Ist sie nun hier oder …?“ Eine eisige Hand scheint nach seinem Herzen zu greifen, wenn er sich vorstellt, dass sie vielleicht nicht nachgekommen ist. Ohne sie ist er nicht vollständig.

„Beruhigen Sie sich. Sie ist nicht tot. Sie ist im Alter von 72 Jahren zu uns gekommen. Wir haben sie kurz nach Ihnen geweckt. Sie können sie sehen. Aber machen Sie sich klar, dass sie sich sehr verändert hat.“

„Das ist mir egal. Wo ist sie?“

Dr. Parker führt seinen Patienten in einen gemütlichen Aufenthaltsraum. „Da am Fenster sitzt sie.“

Heinz beschleunigt seine Schritte, ruft: „Beate, Liebes!“

Ein faltiges Gesicht mit ergrautem Haar wendet sich ihm lächelnd zu. „Heinz! Endlich!“

Ihr Ehemann bleibt stocksteif stehen, starrt die Greisin fassungslos an. Das ist seine Frau? Jetzt versteht er erst, was der Arzt gemeint hat. Die alte Dame spürt sein Zurückweichen. Ihre Mundwinkel beginnen zu zittern. Tränen steigen ihr in die Augen, die sie trotzig mit der Hand abwischt. „Ja, ich bin’s. Ich bin alt geworden. Alt und hässlich.“

Beim Anblick ihrer feuchten Augen schämt er sich für seine erste Reaktion. Er hat einfach nicht daran gedacht, dass sie ja viel länger in der alten Welt gelebt hat. Ihre geliebte Stimme geht ihm zu Herzen. Sie erinnert ihn an die wunderschöne, gemeinsame Zeit, an ihr Lachen, ihre Stärke, ihre Sorge um ihn. Er zieht sie aus ihrem Sessel und nimmt sie fest in die Arme. Leise flüstert er in ihr immer noch schönes, welliges Haar: „Du kannst gar nicht hässlich werden. Deine Augen strahlen wie früher. Nur die Tränen stören ein bisschen!“ Sie lacht leise und schmiegt sich glücklich an ihn.

Dr. Parker lächelt erleichtert. Die heikle Situation hätte auch in einer Katastrophe enden können.

Gemeinsam dürfen sie zum ersten Mal das Krankenhaus verlassen. Dr. Parker warnt sie: „Vorher müssen Sie etwas wissen: Nichts ist mehr wie früher. Weite Teile der Erde sind seit dem Atomkrieg vor ein paar Jahren radioaktiv verseucht. Gott sei Dank konnten sich die Menschen rechtzeitig in die unterirdischen Megastädte flüchten, die zu Beginn des letzten kalten Krieges in weiser Voraussicht gebaut wurden. Sie können also nicht nach ‚oben‘. Aber schauen Sie sich um, es wird Ihnen auch hier gefallen!“

Das Ehepaar schluckt entsetzt. Atomkrieg! Erde unbewohnbar! Das Undenkbare war also wahr geworden! Beklommen stolpern sie ins Freie. Aber die nahegelegene Grünfläche wirkt tröstlich. Hand in Hand spazieren sie durch den einladenden Park. Sie haben sich so viel zu erzählen.

Heinz ist schnell wieder obenauf. Man stelle sich nur vor: Unterirdische Städte und dennoch stehen sie unter einem strahlend blauen Himmel und eine künstliche Sonne prickelt warm auf ihren Armen. Beate muss grinsen: „Na, du ewiges Kind! Jetzt bist du mitten drin in einem deiner geliebten Science-Fiction-Filme!“

Sie schnuppert an den üppigen gelben Rosen. „Die duften ja gar nicht! Ob sie auch künstlich sind?“

„Wer weiß. Dafür zwitschern die Vögel umso schöner.“, wendet Heinz ein.

 

Im Krankenhausfoyer wartet schon Dr. Parker auf sie. Er hat sich wohl Sorgen gemacht. Die beiden erzählen, was ihnen draußen aufgefallen ist.

„Es tut mir leid, die Blüten und auch das Vogelkonzert sind künstlich. Es gibt hier keinerlei Tiere. Das war nicht machbar.“

Beate und Heinz werden immer bedrückter. „Du bist geheilt, das allein zählt.“, betont Beate nachdrücklich und drückt zärtlich seinen Arm.

 

Bei einem der jetzt häufigen Spaziergänge bemerkt das Paar plötzlich Aufregung unter den Passanten. Alle beobachten mitten auf der Straße einen wütenden Mann, der wild herumschreit und mit den Armen um sich schlägt. Da tauchen blitzschnell offiziell aussehende Männer wie aus dem Nichts auf und überwältigen den Mann und führen ihn weg.

„Was war denn da los?“, fragen die Andersons die Umstehenden.

„Ach, der Bursche ist wahrscheinlich durchgedreht. Haben Sie nicht sein Gesicht gesehen? So was kommt schon hier mal vor.“

„Manche kommen mit der Vorstellung nicht zurecht, unter der Erde zu leben. Sie fühlen sich wie begraben.“

Bedrückt denkt Heinz an die Worte von Dr. Howard. War dieser Mann ein ‚Problem‘? Oder war er einfach nur aus irgendeinem Grund wütend? Muss man in dieser schönen neuen Welt seine Gefühle stets unter Kontrolle behalten oder die ‚Wächter‘ kommen?

 

Endlich, der Tag der Entlassung! Dr. Parker schaut noch mal bei ihnen vorbei: „Leben Sie wohl. Eine Wohnung steht für Sie bereit.“

Er platzt fast vor Stolz, als er noch eine Neuigkeit verkündet: „Frohe Botschaft! Wir sind mit unseren genetischen Forschungen inzwischen so weit, dass wir spätestens in drei Jahren den Tod besiegt haben werden. Dem ewigen Leben steht dann nichts mehr im Weg! Ist das nicht fantastisch!“

„Nein! Nicht für uns!“, ertönt es zweistimmig und sehr entschlossen.

Beate fügt hinzu. Wir haben hier viel gelernt, haben lange nachgedacht und noch länger geredet. Uns macht diese Welt Angst, vor allem vor der Zukunft der Zukunft. Wir wollen diesmal auf das natürliche Ende unserer Lebenszeit warten und den Tod annehmen. Aber bis dahin werden wir dieses seltsame unterirdische Leben so weit wie möglich genießen.“

Der Arzt blickt die beiden voller Unverständnis an: „Ja, hat man Ihnen denn nichts gesagt? Aussteigen geht nicht! Das System erlaubt keine Krankheiten und sehr bald keinen Tod. Es ist auf Leben programmiert. Etwas anderes ist nicht mehr vorgesehen.“