Von Beate Fischer
Ich doch nicht. Doch nicht ich. Ich nicht. Doch. Ich hätte es getan. Ich habe es getan. Bis zum Ende. Es ist egal, dass es ein Spiel war, ein Experiment. Die kurze Zeit in diesem Labor hat einen anderen Menschen aus mir gemacht. Einen, der weiß, wozu er fähig ist.
Jetzt stehe ich vor der Tür im Regen, halte ihm meinen Kopf entgegen. Warme Tropfen vermischen sich mit meinem Schweiß, rinnen meine Schläfen hinab, schlängeln sich an meinen Ohren vorbei, verschwinden unter dem Kragen meiner Jacke. Mein Hut liegt neben mir auf einem Mauervorsprung, saugt sich voll, weicht auf, wie meine Gewissheit, ein guter Mann, ein guter Mensch zu sein.
Ich atme ein und aus, um mich zu beruhigen. Um mich zu fassen und zu meiner Familie zurückzukehren.
Mein Nachbar Trevor hat mich auf die Anzeige hingewiesen. Trevor, mit dem ich mir die Zeitung teile und den handtuchgroßen Garten hinter unseren schmalen Häusern.
„Hey Frank, du bist doch so versessen auf die Psychologie“, rief er mir schon von weitem freundlich spottend zu und warf mir die zerfledderte Samstagsausgabe in den Schoß.
„Schau doch mal ganz hinten, unten rechts. Wär das nicht was für dich? Bei einem Experiment mitmachen? Einen Beitrag zur wissenschaftlichen Forschung leisten? Für vier Dollar und Fahrtkosten?“
Vier Dollar. Dafür arbeite ich fast einen halben Tag. Kein Pappenstiel also. Spannend war die Sache allemal. Das Erinnerungsvermögen und die Lernfähigkeit sollten untersucht werden. Leitung Professor Stanley Milgram. Nie gehört. Hier in New Haven trifft man ja an jeder Ecke auf Yale-Professoren. Meist erkennt man sie gar nicht. Sind oft ganz unscheinbare Bürschchen. Beim Abschluss einer Versicherung sitzen sie nur mit am Tisch und starren in die Luft. Die Ehefrauen entscheiden.
Ich sehe wenigstens aus wie ein Versicherungsvertreter und benehme mich auch so. Denn wenn ich etwas mache, dann soll es auch gut sein. Sehr gut. Perfekt.
Doch das Geschniegelte bin nicht ich, nicht das Geschwätzige und auch nicht das Honig-um-den-Bart-schmieren bei den Kunden. Es wurde mir aufgedrängt. Es ist eine Maske, die ich schon viel zu lange trage.
Lieber wäre ich Lehrer. Sozialarbeiter. Oder Arzt. Psychiater am besten. Aber es sollte nicht sein. Die Umstände, der Krieg. Und jetzt sind da Marjorie, Sarah und Tom, meine kleine Familie, für die ich sorgen muss. Sorgen will.
Ein Gutes hat mein Beruf allerdings: Ich lerne die Menschen kennen. Sehe ihre Ängste, ihre Träume, ihre Wünsche. Durchschaue ihre Manöver, kann in sie hineinsehen. Erkenne, wie sie sich ähneln und unterscheiden. Mit meinen Beobachtungen könnte ich ganze Bücher füllen.
Bei mir selbst habe ich allerdings versagt. Ich bin nicht der, der ich meinte, zu sein.
Die Anzeige ging mir nicht mehr aus dem Sinn. Die Möglichkeit, etwas Neues zu erfahren, abseits der ausgetretenen Pfade. Kontakte zu knüpfen. Gast zu sein in einer anderen Welt. Einer Welt, in der ich nur zu gerne eine Rolle spielen würde.
Die Antwort auf meine Bewerbung kam fast postwendend. Keine Woche später der Termin. Heute.
Freudig erregt stieg ich die Stufen zum Versuchslabor hinunter. An der Tür rempelte mich ein junger Mann an, ein Student vielleicht, der von drinnen kam. Bleich wie Milch, die Hand auf den Mund gepresst rannte er an mir vorbei und brachte mich kurz aus dem Tritt.
„Geht es Ihnen nicht gut?“, rief ich ihm nach, in der Annahme, er bräuchte Hilfe.
Doch er winkte nur ab und verschwand im dämmrigen Treppenhaus nach oben.
Der Versuchsleiter begrüßte mich freundlich. Eine stattliche Person im grauen Anzug. Aber mir war klar: Darin steckt auch nur ein Mensch.
Der zweite Proband war schon da. Wohl irisch-stämmig. Rothaarig, sommersprossig, sympathisch. Er grinste mich an. Ich lächelte zurück.
Es sollte einen Lehrer und einen Schüler geben. Die Rollen wurden ausgelost.
Bitte, den Lehrer für mich, dachte ich insgeheim.
Und ich hatte Glück. Glaubte ich.
Der Schüler musste vorgegebene Wortfolgen lernen und richtig wiederholen. Bei jedem Fehler wurde er durch Stromschläge bestraft. Die Kraft von 45 Volt bekam ich bei einem Test zu spüren. Je mehr Fehler, desto höhere Spannung. Immer 15 Volt dazu. Bis zum Ende des Versuchs.
Der Zusammenhang zwischen Lernen und Bestrafung sollte erforschte werden, erklärte der Leiter.
Ein Generator mit Instrumententafel würde mein Arbeitsplatz sein. Dreißig Schalter, bis 450 Volt, Aufschriften wie: leichter Schock, schwerer Schock, Gefahr: bedrohlicher Schock.
Mir kamen Zweifel. Ich blinzelte zum Schüler. Auch er schien sich in seiner Haut nicht mehr wohlzufühlen. Seine Stirn glänzte feucht.
Wir betraten eine Kammer mit einer Apparatur, die an einen elektrischen Stuhl erinnerte. Alles war für den Schüler vorbereitet, die Elektroden wurden ihm angelegt. Ich versuchte, ihn aufzumuntern, schlug ihm auf die Schulter.
„Du darfst einfach keine Fehler machen, Kumpel“, raunte ich ihm zu. „Dann ist das Ganze schnell vorbei.“
„Aber ich habe ein schwaches Herz“, stieß er hervor.
„Keine Sorge“, beruhigte ihn der Versuchsleiter. „Die Stromstöße können zwar schmerzhaft sein, aber sie schädigen das Gewebe nicht dauerhaft.“
Gewebe? Herz? Schaden? Ich war mir nicht sicher, ob ich darüber etwas wissen wollte.
Mit einem mulmigen Gefühl setzte ich mich an die Schalttafel. Es ging los. Ich stand im Dienst der Wissenschaft. Leistete meinen Beitrag. Ein kleines Rädchen zwar nur, aber bestand nicht jede Maschine aus vielen Einzelteilen?
Der Schüler machte zu Anfang keine Fehler. Die richtigen Wörter sprangen mühelos über seine Lippen. Ich konnte ihn nicht sehen. Konnte nur hören, wie er an Selbstsicherheit gewann.
Dann der erste Ausrutscher. Ich schielte zum Versuchsleiter. Er nickte. 15 Volt flossen durch das Kabel in den Nebenraum. Keine große Sache. Keine Reaktion. Weiter.
Wenig später 30 Volt, 45, 60. Bei 75 ein Grunzen. Ich hielt kurz inne.
„Bitte fahren Sie fort“, wies mich der Versuchsleiter an.
Die Stimme des Schülers vibrierte, zitterte, schwankte mit jedem Fehlversuch, mit jedem Stromstoß mehr.
Bei 120 ein Schmerzensschrei. Fast wie ein Kind. Fast wie Sarah, wenn sie beim Fangenspielen stolperte und sich das Knie aufschlug. Fast wie Tom, wenn er sich beim Werkeln mit einer spitzen Feile in den Finger ritzte.
„Ist das wirklich notwendig?“, wandte ich mich an den Versuchsleiter.
„Das Experiment erfordert, dass Sie weitermachen.“
„Ich will nicht mehr. Machen Sie mich los. Ich kann nicht mehr.“
Ein Fehler bei 150 löste diesen Ausbruch des Schülers aus. Ich zuckte zusammen. Die Qual war unüberhörbar.
„Wir müssen aufhören“, beschloss ich.
Aber der Versuchsleiter war anderer Meinung.
„Ob es dem Schüler gefällt oder nicht, Sie müssen weitermachen, bis er alle Wörterpaare korrekt gelernt hat. Also bitte machen Sie weiter!“
„Aber er hat Schmerzen, er ist krank. Übernehmen Sie dafür die Verantwortung, wenn etwas passiert?“
Ich war außer mir, raufte meine Haare.
„Natürlich“, antwortete der Versuchsleiter kühl. „Wir stehen schließlich im Dienste der Wissenschaft.“
Natürlich, die Wissenschaft. Ich strich meine Haare glatt. Die Verantwortung liegt bei der Wissenschaft. Die Forscher wissen, was sie tun. Ich bin schließlich nicht der Erste, der diesen Versuch durchführt. Dort drinnen sitzt nicht der erste Schüler. Wenn daran etwas gefährlich wäre, wäre das gar nicht erlaubt. Es gibt doch Kontrollorgane. Funktionierende Kontrollorgane.
Ich dachte an meine Jugend in der Nähe von Berlin, schüttelte die Erinnerungen aber schnell wieder ab. Doch ein Gedanke blieb: Konnte ich so handeln, weil ich einmal Deutscher war?
Die Stimme des Schülers wird fast unhörbar. Doch bei 200 Volt schreit er so laut, dass ich aufspringe. Mein Stuhl kippt um, kracht auf die Fliesen. Ich sehe, wie eine Verstrebung der Lehne bricht. Ein winziger Splitter schießt durch die Luft und bohrt sich in den Schnürsenkel meines rechten Schuhs. Ich will mich bücken. Will dieses kleine Stück Holz, in dem einmal Leben war, wegzupfen. Will es streicheln, liebkosen, wünsche mich auf mein Sofa zu Hause. Zu Marjorie. Aber ich kann nicht.
„Sie müssen unbedingt weitermachen!“
Der Versuchsleiter spricht bestimmt. Er duldet keinen Widerspruch.
Wissenschaft. Schmerz. Forschung. Tod. Erkenntnis. Entwicklung. Lernen. Strafe.
Wichtige Worte schwirren durch meinen Kopf. Ich setze mich und reihe Buchstabe an Buchstabe.
Der Schüler scheint sich erholt zu haben. Seine Konzentration nicht. Leise, verstockt, trotzig tappt er vorbei an den richtigen Lösungen. Mal ganz dicht, mal meilenweit entfernt. Rasch sind wir bei 300. Dann kehrt Ruhe ein.
Grabesruhe?
„Sie haben keine Wahl, Sie müssen weitermachen!“
Ich weise die Verantwortung von mir. Schiebe vorsichtig meine Hand in die Hosentasche, knistere mit ein paar Dollarscheinen. Meine einzige Verbindung zur realen Welt. Das hier ist nur ein Experiment. Ich mache weiter. Stille ist die falsche Antwort.
Ein Blitz zuckt und holt mich auf der Straße in die Wirklichkeit zurück. Gerade war alles ganz nah. Die markerschütternden Schreie bei 200. Das Schweigen. Bis zum letzten Schalter.
Danach die Fragen: Alter, Beruf, Familienstand.
Die Aufklärung: Es floss kein Strom. Keinem wurde wehgetan. Alles Schauspiel. Komödie. Drama.
Dennoch: Ich habe es getan. Ich bin dazu fähig. Mit vollem Bewusstsein. Es gibt keine Entschuldigung. Die Verantwortung konnte ich nur scheinbar abgeben. Äußerlich. In meinem Inneren hat sie sich an mich gesaugt wie ein Blutegel.
Daran werde ich mich immer erinnern. Und ich muss einen Weg finden, diese Erkenntnis weiterzugeben. Doch jetzt muss ich nach Hause. Marjorie hat das Essen bald fertig. Die Kinder warten auf den Gute-Nacht-Kuss.
Ein Mann hastet durch den Regen. Die Schultern hochgezogen, eine Aktentasche in der Hand. Ein fahlgraues Abbild von mir. Er öffnet die Tür zum Labor.
„Wie weit wirst du gehen?“, flüstere ich ihm hinterher, setze meinen triefenden Hut auf und mache mich auf den Heimweg.
Version 2