Von Ulli Lenz

Evelyn

Evelyn steht in der Küche über das handgeschriebene Kochbuch ihrer Mutter gebeugt. Zwar hat sie das Rezept für die Dobos-Torte finden können, aber abgesehen von den Zutaten gibt es keinerlei Beschreibung dazu. Wie gerne würde sie jetzt ihre Mutter um Hilfe bitten! Seufzend macht sie sich dennoch an die Arbeit.

 

Hilde, 76 Jahre

Im Fernsehen lief gerade lautstark ihre Lieblingsserie, als ihr Sohn Hannes nach kurzem Klopfen ins Zimmer trat.
„Entschuldige Mutti, dass ich störe. Kann es sein, dass du vergessen hast, den Herd auszumachen?“
„Nein, Schatz, ich brauche den Herd ja nicht mehr anzumachen, seit deine Rosa das Kochen übernommen hat. Vielleicht haben die Kinder etwas aufwärmen wollen?“, entgegnete Hilde, um sich sofort wieder dem Fernseher zu widmen.
„Es hätte mich ja auch gewundert“, antwortete Hannes, und wendete sich der Tür zu.
„Gut, dass du es rechtzeitig entdeckt hast!“, meinte Hilde, und griff zu ihrer Tasse mit dampfender Milch. Irritiert starrte Hannes die heiße Milch an, und auch Hilde war sichtlich verwirrt.

 

Evelyn

Während sie eine dünne Teigschicht auf das Papier streicht, wandern ihre Gedanken zu ihrer Mutter. An Samstagen passiert ihr das oft.  Kaiserschmarrn war eine Art Familienleibspeise, und so servierte ihre Mutter früher jeden Samstag nach einer deftigen Suppe die Süßspeise mit einer großen Schüssel frischgemachtem Apfelmus mit Zimt. Der Geruch des angebräunten Teiges, vermischt mit dem Aroma der süßen Äpfeln und dem würzigen Zimt, füllte die ganze Küche aus, und fand von dort dann seinen Weg bis in ihr Zimmer. Es ist eine ihrer stärksten Kindheitserinnerungen, dieser Moment, wenn der verführerische Duft unter der Zimmertür hindurch kroch und sie unvermittelt in die Küche lockte. Dieses einfache Mahl, noch dazu da alle Familienmitglieder um den Tisch versammelt waren, war stets ein Moment voller Harmonie und Glück für sie. Und niemand sonst hat es je geschafft, den Kaiserschmarrn so flaumig und doch mitunter knusprig zuzubereiten, wie ihre Mutter.

 

Hilde, 77 Jahre

Hilde war außer sich. Sie hatte den gesamten Kleiderschrank durchwühlt, und auch im Nachtkästchen und in ihrer Frisierkommode gesucht: die Schatulle mit den wertvollsten Schmuckstücken war verschwunden! Mit einer äußerst beachtlichen  Geschwindigkeit durchpflügte sie das Chaos, nahm hastig das Telefon von der Kommode im Flur und rief ihre Tochter an. Als diese sich meldete, rief sie wütend ohne jegliche Begrüßung:
„Der Schmuck ist weg! Das war doch sicher dieses Weibsstück! Die Perlenkette und auch das Medaillion… Schon immer hat sie meine Ketten bewundert! Wer soll denn sonst wissen, wo ich meine Wertsachen verstecke?!“
Als ihre Tochter beruhigend auf sie einredete, kam zu ihrem Zorn noch eine gewisse Verzweiflung dazu:
„Dass du deine Schwägerin immer in Schutz nehmen musst! Die kann es ja gar nicht erwarten, bis ich unter der Erde liege, und dein Bruder ist auch nicht viel besser“, schluchzte sie.
In diesem Moment öffnete sich die Tür, und Hannes trat in den Flur.
„Mutti?“, versuchte er ihre Aufmerksamkeit zu bekommen, „Was ist denn los? Suchst du wieder deinen Schmuck? Du weißt doch, dass wir ihn gemeinsam auf die Bank gebracht haben. Schau, wir haben es doch dokumentiert für dich.“

 

Evelyn

Als Evelyn die acht Tortenböden vom Backpapier zu lösen versucht, kommen ihr langsam Zweifel daran, dass ihr Vorhaben gelingen wird. Nach dem Bestreichen der dünnen Teigböden mit Creme wird dann schnell deutlich, dass die Geburtstagstorte allenfalls noch geschmacklich punkten kann, denn anstatt der für diese Mehlspeise markanten Schichten liegt ein einziger undefinierbarer Haufen vor ihr. Frustriert wirft Evelyn den Teigschaber in die Schüssel. Ihre Mutter hätte ihr bestimmt erklären können, wie man diese Torte ordentlich hinbekommt. Mein Gott, wie sie es manchmal vermisst, sie wie in früheren Zeiten um Rat fragen zu können, ihre aufmunternden Worte zu hören!
Nach kurzem Überlegen ruft sie ihren Bruder an, um ihn von ihrem Scheitern zu unterrichten. Drei Minuten später beendet sie das Gespräch mit einem kleinen Lächeln. Auf die Geburtstagstorte zu verzichten fällt ihr zwar schwer, aber der Ersatzplan ist grandios. Manchmal können große Brüder wirklich ein Segen sein!

 

Hilde, 78 Jahre

Blumen hatten stets eine wichtige Rolle in ihrem Leben gespielt. Hilde summte, als sie mit der altmodisch verschnörkelten Gießkanne die Zimmerpflanzen goss. Ganz automatisch zupfte sie nebenher gelbe Blätter ab, und sammelte vertrocknete Blüten ein. Sie liebte diese stillen Augenblicke mit ihren Blumenkindern, denn es war ihr nie als Arbeit erschienen, sich um die Topfpflanzen zu kümmern. Beschwingt segelte sie zurück in die Küche, um die Kanne erneut mit Wasser zu füllen. Als sie um die Ecke bog, prallte sie vor dem Anblick zurück, der sich ihr bot.
„Rosa! Du blöde Ziege! Was hast du mit meinen Blumen zu schaffen?“, schrie sie ihre Schwiegertochter mit schriller Stimme an, die erschrocken zusammenfuhr und Hilde ertappt anblickte.
„Es tut mir leid, Hilde!“, flüsterte Rosa mit leicht verzweifeltem Unterton in der Stimme. „Ich habe doch nur das überschüssige Wasser abgießen wollen.“
„Was heißt hier überschüssiges Wasser? Die Erde muss das Wasser erst noch aufnehmen, das weiß doch jedes Kind. Misch‘ dich gefälligst nicht in meine Angelegenheiten, grünen Daumen hattest du ja noch nie!“, keifte Hilde weiter und warf ihr eine Handvoll vertrockneter Pflanzenreste zornig vor die Füße.
„Jetzt beruhige dich doch!“, antwortete Rosa nun auch mit leichtem Groll in der Stimme, „Ich brauche keinen grünen Daumen, um deine Pflanzen vorm Ersaufen zu retten.“
„Was redest du da vom Ersäufen? Ich gieße dreimal wöchentlich, und das war schon so, bevor du ins Haus kamst, und nie ist mir eine ersoffen!“, brüllte Hilde.
„Ja, früher“, erwiderte Rosa ohnmächtig, und fühlte sich plötzlich erschöpft, „aber du hast sie heute bereits zum dritten Mal gegossen.“

 

Evelyn

Kurz betrachtet sie das Chaos rund um sich herum in der Küche, zuckt dann mit den Schultern und ruft quer durchs Haus: „Alle Mann herhören, es gibt eine Planänderung! In einer Viertelstunde brechen wir auf zum Geburtstagsfest. Ich erwarte von euch, dass ihr bis dahin fertig seid – und zieht euch etwas Ordentliches an!“
Achtzehn Minuten später stehen ihre drei Männer vor ihr in der Küche. Evelyn drückt ihrem älteren Sohn einen Korb in die Hand, bittet ihren Mann darum, die Blumen zu nehmen, und weist ihren jüngeren Sohn an, ausnahmsweise einmal die geliebte Kappe zu Hause zu lassen. Als sie schließlich aufbrechen, schüttelt ihr Mann verwundert den Kopf beim Anblick des Durcheinanders, das seine sonst so ordentliche Frau in der Küche hinterlässt.

 

Hilde, 79 Jahre

Teilnahmslos blickte Hilde auf ihren Teller.
„Mutti, deine Suppe wird kalt, iss doch wenigstens ein bisschen“, versuchte Hannes Hilde zum Essen zu bewegen.
Aufgeschreckt starrte sie erst ihren Sohn, und dann den Rest der Anwesenden an. „Wer sind denn die ganzen jungen Leute hier?“, fragte sie ängstlich.
„Es ist Wochenende. Die Kinder sind zum Essen gekommen. Schau, Ella hat ihren Mann und deinen Urenkel mitgebracht, und Mia ist extra für das Wochenende vom Studium heimgekommen.“ Hannes legte beruhigend seine Hand auf ihren Arm.
„Ach so“, antwortete Hilde unbehaglich. „Und warum lässt du eine fremde Frau in meiner Küche kochen?“
„Du weißt doch: Das ist Rosa, meine Frau“, erklärte Hannes geduldig.
„Ja, sicher. Ich werde doch deine noch Frau kennen!“, antwortete Hilde plötzlich giftig. Sie beugte sich über ihren Teller, und aß ein paar Löffel Suppe.
Als das Baby plötzlich zu weinen begann, fuhr sie erneut zusammen und stammelte: „Hannes, wer sind denn die jungen Leute hier?“

 

Evelyn

Nach kurzem Klopfen stößt Evelyn die Tür ihres Elternhauses auf, und tritt mit ihrer Familie im Gänsemarsch ein. Hannes kommt ihr entgegen, drückt ihr einen Kuss auf die Wange und begrüßt auch seinen Schwager und die Neffen.
„Kommt rein! Mutti wollte sich kurz hinlegen, ihre Knie… Die Mädchen sind bereits da, und decken den Tisch, und Rosa hat die Suppe fertig. Aber für die Hauptspeise bist du allein zuständig, dafür hat sie kein Händchen, wie du weißt“, wendet sich Hannes an Evelyn. „Wir haben aber die alte gußeiserne Pfanne in der Rumpelkammer entdeckt, also kann nix mehr schiefgehen, mit unserem Plan B!“ Verschmitzt lächelnd läuft er vor ihnen in die große Wohnküche, wo bereits geschäftiges Treiben herrscht.

 

Hilde, 80. Geburtstag

Als Hilde erwacht, fühlt sie sich merkwürdig zufrieden. Was sie geträumt hat, kann sie nicht sagen, aber es war definitiv ein schöner Traum. Sie schlüpft in ihre Hausschuhe, zupft ihr Haar zurecht und öffnet ihre Zimmertür. Warme Luft strömt in ihr Zimmer, und sie registriert, dass ein vertrauter Geruch, den sie vorher nicht bemerkt hat, sie einhüllt. Ein Lächeln legt sich auf ihr Gesicht, und trotz ihrer Knieschmerzen läuft sie leichtfüßig in die Küche.
„Sagt bloß, ich habe den Tag des Kaiserschmarrns verschlafen?!“ ruft sie mit in die Hüften gestemmten Armen in die Runde, und küsst danach ihre Enkelkinder der Reihe nach auf die Stirn um sie zu begrüßen. Verblüffte Stille breitet sich im Raum aus.
„Was ist los mit euch, habt ihr ein Gespenst gesehen?“, witzelt Hilde, um dann sofort zu ihrer Tochter zu eilen. „Kindchen, schnell weg mit der Hitze, und dann den Deckel drauf, oder willst du unser Essen verkohlen?“
Evelyn entfährt ein fassungsloses Lachen, und mit feuchten Augen umarmt sie ihre Mutter. Forschend blickt Hilde ihr hinterher ins Gesicht, und will wissen, ob alles in Ordnung ist.
„Es ist nur so schön, dass du da bist, Mutti“, schluchzt sie auf, und umarmt sie gleich ein zweites Mal. „Alles Gute zum Geburtstag!“
Nun kommt auch Bewegung in den Rest der Familie, und Hilde wird von allen Seiten gratuliert, bevor sie sich an den Tisch setzen.
„Was für ein tolles Geschenk“ murmelt Hannes, und wischt sich verstohlen eine Träne von der Wange. Verwirrt sieht Hilde ihn an, bevor sie unsicher fragt: „Hannes? Was wollen denn all die jungen Leute hier?“

 

Version 2