Von Brigitte Weirather

Das Kind stand eines Tages unangemeldet in meiner Kanzlei. „Ich will mit dem Rechtsanwalt sprechen“, forderte es. Ein Mädchen, obwohl ich es auf den ersten Blick für einen Buben hielt. Etwa 11 oder 12 Jahre alt, vielleicht 1m 30 gross, schlaksig, schmuddelige Latz-Jean, ungewaschenesT-Shirt, braune, ungekämmte Locken, und dieser besondere Gesichtsausdruck: Wütend, und zugleich unendlich traurig, unsicher und doch bestimmt. Genau dieser Gesichtsausdruck war es, der mich sofort neugierig machte und mich das Kind in mein Besprechungszimmer bitten liess.„Ich heisse Rosalie und will meine Mutter verklagen, die abgehauen ist“, erklärte sie, bevor ich mich nach ihrem Anliegen erkundigen konnte,„mit meinem kleinen Bruder. Aber meine Mutter muss ihn wieder nach Hause lassen, zum  Vater, und zu mir“. „Warum“, versuchte ich ihren Redefluss zu unterbrechen. „Wir brauchen meinen Bruder unbedingt“, fuhr sie sie fort, ohne mich aussprechen zu lassen, „wir können ohne ihn nicht leben. Am liebsten wäre es uns natürlich, wenn auch die Mutter wieder nach Hause kommt. Aber ich glaube, dass das nicht möglich ist. Doch mein Bruder, der muss doch, das muss doch,

oder ?“ Das Leben sei sonst zu traurig und zu leer. Ihr Vater trinke viel zu viel, seit die Beiden weg sind. Sie könne ihrem Bruder nichts mehr beibringen, obwohl er doch so wissbegierig sei und klug für sein Alter, sich nicht mehr mit ihm freuen, ja nicht einmal streiten könne sie mit ihm. „Ich weiss nicht wo meine Mutter jetzt wohnt, mein Bruder besucht den Kindergarten nicht mehr. Auch mein Vater weiss nicht wo sie sind. Mutter hat keine Nachricht hinterlassen. Seit sie weggegangen sind haben wir überhaupt nichts mehr von ihnen gesehen oder gehört. Anrufen geht auch nicht, weil sie wollte ja nie ein  Mobiltelefon.“ „Wovon leben die Beiden jetzt. Verfügt deine Mutter über ein Einkommen , oder überweist dein Vater Geld an sie“, hakte ich nach. Auch das mache dem Kind Sorgen, sagte es, die Mutter habe weder Einkommen, noch ein Konto noch habe sie einen grösseren Geldbetrag mitgenommen, nicht einmal Ausweise oder Kleidung. „Ist dem Verschwinden der Beiden ein Streit vorausgegangen“, fragte ich weiter, „ein Streit zwischen deinen Eltern.“ „Nein, unsere Eltern vertragen sich gut“, erklärte das Kind, „sie streiten fast nie.. Aber ich habe meine Mutter angelogen und nicht gehorcht. Ich habe nicht auf meinen Bruder aufgepasst, wollte ihn nicht mitnehmen, zum Franz. Weil der hat doch ein Moped bekommen und ich wollte damit fahren. Aber Mutter hat das nicht erlaubt. Und mein Bruder hätte mich verraten. Nicht absichtlich. Aber er ist noch zu jung, um Geheimnisse zu bewahren, er verspricht sich immer. Deshalb habe ich ihn ja bei der Mutter gelassen. Aber jetzt sind Beide nicht mehr da.“ „Hat dein Vater sich an die Behörden gewendet?“, fragte ich weiter. „Das ist doch sehr ungewöhnlich für eine Mutter, einfach wegzugehen, ohne Geld, ohne Ausweise. Und kein Lebenszeichen seit Tagen, das spricht doch eher für.“ „Für ein Unglück“, fiel mir das Kind ins Wort. „Das ist es schliesslich ja auch. Ein schreckliches Unglück.“

Die Mutter sei mit ihrem Bruder zum Spielplatz gegangen, während sie, Moped gefahren sei. Am Heimweg seien die beide unter den Laster gekommen. Ihre Mutter sei sofort tot gewesen, ihr Bruder habe mit abgetrenntem Bein noch einige Stunden gelebt. „Hoffentlich hat mein Bruder beide Beine, wenn er zu uns zurückkommt. Weil die braucht er doch, zum Laufen und zum Schwimmen und überhaupt. Aber ich mag ihn auch mit einem Bein. Dann bekommt er ein Holzbein, mit ganz vielen Zeichnungen drauf, so wie bei dem Gips, den er letztes Jahr hatte. Ich werde ab jetzt immer ganz gut auf meinen Bruder aufpassen. Es tut mir fürchterlich leid, dass ich Mutter nicht gehorcht habe. Nur deshalb ist das alles passiert. Aber das habe ich ihr schon gesagt, beim Begräbnis. Aber Mutter hat meine Entschuldigung nicht angenommen. Sie hat gar nicht reagiert. Obwohl sie normalerweise nicht streng ist. Dann habe ich zum lieben Gott gebetet, abends vor dem Einschlafen. Aber der existiert nicht wirklich, dafür habe ich jetzt den Beweis. Endgültig. Weil den habe ich um die Rückkehr meines Bruders und der Mutter gebeten, und Beide sind noch immer verschwunden“. „Nicht verschwunden“, warf ich vorsichtig ein, „sondern leider“. „Ich verstehe schon, dass sie tot sind“, unterbrach mich das Kind ärgerlich, „ich bin ja nicht dumm. Trotzdem muss mein Bruder zurück kommen. Er ist noch ein kleines Kind und er will noch ganz viel Spass haben mit mir, und er will Tierarzt werden und nicht tot sein und, und, und er hat doch nichts getan“. Das Kind hielt kurz inne, und fuhr dann fort. „Wenn ich die Augen schliesse, spüre ich, dass mein Bruder da ist. Ich kann ihn sogar riechen. Ein bisschen wie Vanillegipferl. Ich weiss, dass die Toten manchmal zurück kommen. Sie gehen durch einen Tunnel und kehren dann wieder um. Das hat meine Oma gesagt. Aber man darf noch nicht weit fort sein, sonst findet man nicht mehr heim. Meine Oma hat das schon gemacht, sterben und zurückkommen, meine ich. Nach einer Operation, lange bevor sie richtig gestorben ist. Es war noch zu früh zum Sterben, hat sie gesagt, sie wurde noch gebraucht. Und bei meinem Bruder ist das auch so. Ohne den sind wir keine Familie, mein Vater und ich. Unsere Mutter weiss das. Ich verstehe nicht, warum sie uns nicht hilft. Oder vielleicht will sie mich bestrafen“. Daher bleibe nur mehr der Weg der Klage gegen die Mutter. Man könne die Herausgabe eines Kindes von einer Mutter nämlich einklagen, wenn es dem Kind schade, bei der Mutter zu sein, und das sei hier wohl eindeutig der Fall. Sie habe das im Fernsehprogramm gesehen, aber als Rechtsanwalt wisse ich natürlich selbst am Besten was zu tun sei. Ich solle mich bitte beeilen, mich gleich an die Arbeit machen, damit es nicht zu spät werde, denn sonst seien die Beiden womöglich bereits zu weit weg.