Von Ngo Nguyen Dung

»Notrufzentrale. Horst Lindemann. Guten Tag, was kann ich für Sie tun?«

»Guten Tag, Herr Linde… Lindemann«, klingt die Stimme eines Jungen am Ende der Telefonleitung. Zögerlich. Unsicher. »Ich … ich … habe dir etwas zu sagen.«

»Sag ruhig! Was für Problem hast du? Wie heißt du?«

»Benjamin«, antwortet der Anrufer und fügt gleich hinzu: »Mama sagt immer Benni zu mir.«

»Was willst du mir sagen, Benni?«, betont Herr Lindemann Wort für Wort.

»Ich habe ihn seit vorgestern vermisst.«

»Wen hast du vermisst?«

»Olli. Er ist plötzlich weg.«

»Und wer ist Olli?«

»Bitte, hilf mir, ihn zu finden«, wird Bennis Stimme flehentlich.

»Antworte mir! Wer ist Olli?«

»Mein Brüderchen.«

Herr Lindemann ahnt etwas Wichtiges, bei dem gleich gehandelt werden muss, und fragt entschlossen: »Kannst du mir sagen, wo du wohnst?«

»Ich wohne mit Mama in einem Häuschen, mit einem kleinen Garten und kleinen Teich.«

»Wie heißt die Straße und welche Hausnummer?«

»Am Stausee. Nummer 27. Das zwölfte und letzte Haus von insgesamt dreiundzwanzig auf der rechten Seite«, antwortet Benni, gestört von einer hörbaren Frauenstimme im Hintergrund.

Mit wem telefonierst du da? Mit Horst. Wer zum Teufel ist Horst? Ein grüner Mann von der Polizei.

»Entschuldigen Sie bitte für die Störung«, hört Herr Lindemann die Frau hastig ins Telefon sagen. Das Gespräch wird abrupt abgebrochen. Herr Lindemann notiert schnell die Adresse auf den Schreibblock und steht auf.

»Ich bin kurz weg und gleich wieder da«, wendet er seiner Kollegin am Nebentisch zu. »Ein Notdienst. Die Adresse liegt auf meinem Schreibtisch.«

Herr Lindemann zieht rasch die Dienstjacke an, greift nach der Mütze und verschwindet, als sei er auf der Flucht.

*

Das kleine, einstöckige Haus befindet sich am Ende einer Sackgasse. Die Wohnlage ist schön ruhig. Mit steigender Temperatur ist der Frühling seit Kurzem gekommen. Früher als sonst. Es ist erst Anfang März. Die Bäume und Pflanzen werden von zarten Sonnenstrahlen aus ihrem Winterschlaf geweckt. Die Blüten der Forsythienhecke blühten bereits leuchtend gelb auf. Im Garten sonnt sich ein mit unzähligen jungen Knospen sich schmückender Magnolienbaum.

Herr Lindemann sagt zu dem Kollegen, er solle hier auf ihn warten. Es dauere nicht lange, fügt er hinzu und steigt aus. Er setzt die Mütze auf und drückt auf die Türklingel.

»Ja?« Hinter der leicht geöffneten Tür erscheint eine Frau mit fragendem Blick.

»Guten Tag. Ich bin Horst Lindemann und komme von der Notrufzentrale. Bin ich richtig bei einem Jungen namens Benjamin?«

»Ja, ich bin seine Mutter«, antwortet die Frau und stellt sich vor. »Mein Name ist Jutta Bender«, gibt sie Herrn Lindemann die Hand. »Ich nehme an, Sie kommen wegen des Telefonats vorhin mit meinem Sohn. Kommen Sie herein!«

Herr Lindemann erzählt kurz von dem vorhin mit Benjamin durchgeführten Telefonat und sagt:

»Nach dem Gespräch mit Ihrem Sohn sagt mir mein beruflicher Instinkt, ich müsse vorbeikommen, um nachzuschauen. Vielleicht kann ich ihm und Ihnen helfen.«

»Sehr pflichtbewusst von Ihnen«, lächelt Frau Bender. Ein nichtssagendes Lächeln.

 

Ich war fassungslos, als der Frauenarzt mich nach der Untersuchung beglückwünscht hatte. Ich wollte nicht schwanger sein. Um Gottes willen, ich hatte überhaupt nicht vor, jetzt ein Kind zur Welt zu bringen. Und erst recht nicht von einem Mann, den ich nicht richtig kannte. Ja, ich mochte ihn und fand ihn sympathisch. Aber ein Kind von ihm?

Wir hatten uns auf der Geburtstagsfeier meiner Freundin kennengelernt. Mark war sein Name. Er war irgendwie mit meiner Freundin verwandt und kam aus dem fernen Australien zu Besuch. Er war attraktiv und hatte eine sehr aufregende männliche tiefe Stimme mit australisch-englischem Akzent. In meinem Freundeskreis nannten sie mich Mauerblümchen. Deshalb fühlte ich mich an diesem Abend besonders geschmeichelt, vor den Augen meiner Freundinnen von einem Charmeur wie Mark umgarnt zu werden. Mehr als das. Er hatte mir das Gefühl gegeben, zum allerersten Mal ein richtiges weibliches Wesen zu sein. Den ganzen Abend hatte er nur mit mir getanzt. Wir hatten uns sehr schön unterhalten und amüsiert. Er hatte mir von seinem aufregenden Leben in dem fünften Kontinent erzählt und die Abenteuerlust in mir geweckt. Er hatte in meiner Fantasie eindrucksvolle Bilder hinterlassen, von denen ich nur träumen konnte. Mit einem Tröpfchen aphrodisierender Gewürzmischung.    

Nur zwei sommerliche Wochen erlebte ich meine Romanze mit Mark. Nachdem er nach Australien zurückgegangen war, hörte ich nach ein paar Briefwechseln nicht mehr von ihm. Zur gleichen Zeit spürte ich etwas, als hätte ein Straftäter seine Spuren am Tatort meines Körpers zurückgelassen.

Mein allererster Gedanke nach der Bestätigung des Frauenarztes war ein Schwangerschaftsabbruch. Ich war verzweifelt und hin- und hergerissen zwischen Gut und Böse meines Gewissens. Letztendlich entschied ich mich für das Kind. Das sich in mir aufkeimende Lebewesen ist unschuldig und hat das Recht, das Licht des Lebens zu erblicken.

Und Benjamin kam zur Welt.

 

»Als Benni fünf Jahre alt war, wurde bei ihm eine Autismus-Störung diagnostiziert«, sagt Frau Bender mit beherrschter Stimme und schaut Herrn Lindemann in die Augen. Ihr Blick scheint durch ihn hindurchzugehen. »Körperlich entwickelt er sich ganz normal, geistig aber nicht. Er ist extrem introvertiert. Er lebt in seiner eigenen Gedankenwelt und hat einen seltsamen Sinn für Ordnung. Er kann aber außergewöhnlich gut mit Zahlen umgehen und hat eine sonderbare Vorahnung«, lächelt Frau Bender wieder. Diesmal war ein aufgesetztes heiteres Lächeln. Ihre Augen leuchten augenblicklich auf. »Mittwochs und samstags Abend schaut er gern die Sendung der Lottoziehung an. Erstaunlicherweise kann er die Zahlen vorhersagen, die unmittelbar gleich danach gezogen werden. Fast immer richtig. Erstaunlich, nicht wahr?«

»Was ist mit Olli, seinem Brüderchen, passiert?«, kommt der Beamte zur Sache. »Benni hat mir vorhin gesagt, Olli sei seit einigen Tagen vermisst.«

»Er hat gar kein Brüderchen. Ich habe nur ihn«, antwortet Frau Bender emotionslos, als hätte sie die Frage erwartet.

*

Mit der Überschrift »Das Versteckspiel mit der Badeente: Eine wahre Alltagsgeschichte eines Notrufdienst-Beamten« wird auf der lokalen Tageszeitung am nächsten Tag folgendes veröffentlicht:

»Als ein Beamter der städtischen Notrufzentrale gestern einen Anruf von einem unter Autismus leidenden Jungen bekommen hatte, handelte er sofort und half ihm aus seiner Misere. Der Junge hatte bei ihm offenbart, dass er Olli, sein angebliches Brüderchen, seit Tagen vermisst habe und eine Vermisstenanzeige abgeben wolle. Der Beamte eilte sofort zu ihm. Beim Gespräch mit seiner Mutter stellte sich heraus, dass Olli eine Badeente ist. Der Junge hat ein Faible für Gummispielzeuge, besonders für Gummientchen. Davon hat er eine Menge gesammelt und jedes bekommt einen von ihm ausgesuchten Namen. Olli ist eines davon und auch noch seine Lieblingsbadeente. Mithilfe seiner Mutter und der Hinweise des Jungen konnte der Beamte das angeblich verschwundene Gummientchen unversehrt auffinden und es in die Obhut des Jungen zurückbringen.

Olli war lediglich beim Versteckspiel mit dem Jungen von ihm selbst in den Spülkasten der Toilette versteckt und darin vergessen worden.«

 

(03.2019)