Von Marie Schumann

Es war lange her. Sehr lange.

Sein Gesicht verschwamm stärker und stärker. Ich wusste nicht mehr, welche Farbe seine Augen hatten, ob er Grübchen hatte oder wie sein Tattoo am Hals aussah. In meiner Erinnerung fand sich nur noch ein verklärtes Bild, braune Haare, größer als ich, lässig stand er da, Hand in der Hosentasche, mehr war da nicht, ich hatte sein Gesicht verloren.

Meine Augen glitten zu dem Fenster neben meinem Bett. Ich sah mich selbst darin.

Doch…auch wenn ich nicht mehr wusste, wie er aussah, ich konnte ihn noch fühlen. Konnte fühlen, wie seine rauen Finger über meine Wange strichen, seine Lippen mir einen Kuss auf die Stirn hauchten, wie er eine meiner grauen Strähnen in den Fingern zwirbelte.

Die Tür öffnete sich. Ich war zu müde, wollte nicht schauen, wer es war.

„Tante Matti, wie geht es dir heute?“, ein Mädchen setzte sich an mein Bett, stellte eine Vase mit Blumen auf den Beistelltisch, ihre Augen voller Tränen. Sie nahm meine Hand und drückte sie, tastete meine faltige Haut ab und murmelte: „Du solltest wirklich mehr trinken.“ Sie lächelte mich an. Da war ein bekanntes Gefühl. Ich runzelte die Stirn. Kannte ich sie?

Meine Augen fühlten sich wieder schwer an und ich ließ mich tiefer in die Kissen sinken. Das Mädchen schluckte und begann zu reden von ihrem Tag, ihrem Garten, dem Buch, das sie gerade las und wie sehr sie mich lieb hatte.

Doch wer war sie?

Irgendwann stand sie auf, strich mir über die Hand und verabschiedete sich. Ich konnte hören wie sie mit einer Schwester auf dem Flur sprach, doch ich verstand keines der Worte. Müde wandte ich den Kopf wieder zum Fenster. Man konnte Tulpen sprießen sehen, Knospen zeigten sich an den Bäumen. Frühling. Welche Jahreszeit kam nochmal davor? Oder…danach? Mein Blick traf auf eine Vase neben meinem Bett, gefüllt mit Orchideen. War jemand hier? Wann hatte ich Besuch gehabt?

Ich schlief ein.

 

Als ich die Augen wieder öffnete, waren lauter Menschen in meinem Zimmer. Fremde, doch Bekannte. Wer waren sie? Zwei Frauen, zwei Männer, ein Mädchen, drei Kinder. Sie hielten Blumensträuße in den Händen. Tränen standen in ihren Augen und immer wieder hielten die Frauen Taschentücher vor ihre Nasen. Wer waren sie?

Eine Schwester kam herein, lächelte mir zu und kontrollierte meinen Puls. Dann gab sie den Fremden ein Zeichen. Einer nach dem anderen traten sie an mein Bett, sagten mir sie liebten mich, drückten mich, küssten mich und verabschiedeten sich. Tränen tropften auf mein Kissen, die Sträuße stellten sie neben mein Bett. Dann war es plötzlich still, nur noch die Schwester und ein Fremder waren im Raum.

Der Fremde setzte sich auf meine Bettkante, nahm meine Hand und lächelte traurig.

Warum war er traurig?

Ich fühlte mich wieder so müde, mein Körper war so schwer. Langsam lehnte er sich zu mir und sagte etwas, doch ich konnte ihn kaum hören. Ich strengte mich an, doch die Worte verblassten in der Luft.

Lässig steckte er seine Hand in seine Hosentasche.

Ich blinzelte.

Braune Augen, Augen, die aussahen wie dunkles Marzipan, ein Lächeln, das mein Herz schneller schlagen ließ, da war ein Tattoo an seinem Hals, ein Herz, mit dem Schriftzug: Matti.

„Fredo“, meine Stimme klang rau, fremd, nicht wie meine.

Ich lächelte und eine Träne rollte meine Wange herab. Seine rauen Finger strichen über meine Wange, er hauchte mir einen Kuss auf die Stirn, zwirbelte eine meiner grauen Strähnen und murmelte: „Ich liebe dich.“

Meine Sicht verschwamm. Langsam schlossen sich meine Augen.