Von Rebecca Lehners

„Du hast WAS verloren?“ Er wandte seinen Blick von seinem Netbook ab und funkelte sie an. Wütend verschränkte sie ihre Arme vor der Brust.

„Mein Gott, jetzt tu doch nicht so, als ob dir so etwas noch nie passiert wäre! Es war ja schließlich nicht absichtlich.“ Er fuhr sich mit seiner rechten Hand durch sein kurzes, dunkelbraunes Haar und atmete dabei tief ein, um sich zu beruhigen. „Hast du eine Ahnung wie teuer der war?“, fragte er ruhig, ohne sie anzusehen. So bemerkte er nicht, wie sehr seine Worte ihr einen Stich versetzten. Bei ihm drehte sich in den letzten Jahren eben alles nur noch ums Geld.

„Klar, das ist mal wieder deine größte Sorge. Statt mich hier runter zu machen, könntest du mir lieber mal beim Suchen helfen“, giftete sie zurück. Sie neigte dazu, in die Defensive zu gehen, wenn sie sich angegriffen fühlte. Dabei rechnete sie nicht wirklich mit seiner Hilfe. Schließlich gab es für ihn in den letzten Jahren nichts Wichtigeres, als seine Arbeit. Sie war ihm sogar wichtiger als seine Ehe. Zumindest kam es ihr so vor. Doch zu ihrer großen Verblüffung seufzte er nur resigniert und fragte dann: „Na schön, wo hast du ihn denn zuletzt gesehen?“

Er ärgerte sich über sich selbst. Den Vorwurf wegen des Geldes hätte er sich wirklich sparen können. Schließlich arbeitete sie ebenso hart wie er. Und er wusste natürlich genau, dass sie ihn nicht absichtlich verloren hatte. Doch in letzter Zeit konnten sie kaum ein paar Worte miteinander wechseln, ohne dass es in einen Streit ausartete. Die Situation belastete ihn mehr, als sie ahnte.

„Ähm, ich weiß nicht. Gestern Abend hatte ich ihn auf jeden Fall noch.“ Die Überraschung über seine Unterstützung war ihrer Stimme anzuhören und brachte ihn zum Schmunzeln.

„Gut, dann hast du ihn jedenfalls nicht auf der Arbeit liegen lassen. Er muss also hier irgendwo sein. Was hast du denn heute schon alles gemacht?“

Sie steckte ihre Hände in die Taschen ihrer Jeans, pustete sich eine blonde Strähne aus dem Gesicht, die sich aus ihrem Pferdeschwanz gelöst hatte, und überlegte einen Moment.

„Ich habe auf dem Dachboden Wäsche aufgehängt, die Beete im Garten neu bepflanzt und das Bad geputzt.“

„Gut, dann lass uns im Garten anfangen.“

Draußen knieten sie sich vor die Beete, welche die Seiten des Grundstücks säumten. Während sie suchten, fiel ihm zum ersten Mal seit langem auf, wie gut sie alles in Schuss hielt.

„Du hast wirklich ein Händchen dafür, es sieht alles sehr hübsch aus.“

„Tja, einer muss sich ja schließlich um alles hier kümmern“, sagte sie leicht vorwurfsvoll, ohne dabei von ihrer Arbeit aufzublicken. Doch fast im selben Augenblick biss sie sich auf die Zunge. Der Satz kam ihr so schnell über die Lippen, dass sie gar nicht über seine Wirkung  nachdachte. Verstohlen blickte sie ihn von der Seite an. Er beugte sich wieder über die Blumen, doch sie konnte ihm ansehen, dass sie ihn verletzt hatte. Er wollte ihr doch nur ein Kompliment machen. Wann hatte er das das letzte Mal getan? Schnell lächelte sie ihn entschuldigend an. „Tut mir leid, es war nicht so gemeint. Ich mache das ja auch wirklich gern. Gartenarbeit ist ziemlich entspannend, weißt du.“

„Gut, dann sollte ich das vielleicht auch einmal ausprobieren“, sagte er in versöhnlichem Ton. Eben dachte er noch, dass er offenbar nur noch das Falsche sagt und tut, und dann überrascht sie ihn und entschuldigt sich. Er war so perplex, dass er ihr die spitze Bemerkung nicht weiter nachtrug. Ihr Herz machte einen erleichterten Hüpfer. Ein Gefühl, das sie schon fast vergessen hatte. Sie tröstete sich immer damit, dass das sicher normal sei nach über zwanzig Jahren Beziehung. Er lächelte sie an und ließ seinen Blick dann über den Garten schweifen. Dann nickte er in Richtung des Apfelbaums. „Weißt du noch, als wir den gepflanzt haben?“

Sie folgte seinem Blick. „Natürlich! Das war kurz, nach dem wir das Haus gekauft hatten. Ich müsste ihm mal wieder beschneiden“, murmelte sie nachdenklich.

„Lass mal, das mache ich nachher. Du hast heute schon genug getan.“

„Wirklich? Danke!“ Sie wirkte ehrlich erfreut und diese Reaktion hatte er schon lange nicht mehr bei ihr hervorgerufen. Schließlich stand sie auf und klopfte sich die Erde von ihrer Jeans. „Ich glaube, hier ist er nicht. Lass uns doch mal im Badezimmer nachsehen.“

„In Ordnung.“ Im Badezimmer angekommen, wuschen sie sich die Hände und setzten ihre Suche fort.

„Ich glaube, hier werden wir auch nicht fündig, Schatz“, sagte er nach einer Weile bedauernd. Doch das war ihr in diesem Moment beinahe egal, denn das Wort „Schatz“ verursachte bei ihr eine Gänsehaut. Früher hatten sie sich immer mit liebevollen Kosenamen angesprochen, doch das schien eine Ewigkeit her zu sein.

„Ja, ich fürchte, du hast recht. Dann bleibt wohl nur noch der Dachboden.“

Auf dem Dachboden fiel ihm als erstes das Regal mit den alten Fotoalben ins Auge. Einem Impuls folgend griff er sich eines der Alben und setzte sich damit auf den Fußboden.

„Schau mal, unser Hochzeitsalbum.“ Ohne ein Wort machte sie es sich im Schneidersitz neben ihm bequem und gemeinsam betrachteten sie die Fotos.

„Unglaublich, wie lange das schon her ist. Aber mein Kleid stand mir doch wirklich gut, oder?“, fragte sie neckend.

„Ja, du warst einfach wunderschön. Das bist du übrigens heute noch.“ Versonnen blickte er sie an. Und er meinte es auch so. Als er ihr damals zum ersten Mal begegnete, hatte er sich sofort in ihre strahlend blauen Augen und ihr unbeschwertes Lächeln verliebt. Letzteres bekam er in den letzten Jahren zwar seltener zu Gesicht, doch sie war immer noch eine sehr schöne Frau, der die Zeit nicht viel angehabt hatte. Und mit Anfang vierzig waren sie ja auch noch ziemlich jung. Sie errötete leicht und senkte den Blick. Innerlich vollführte sie jedoch einen Freudentanz. Schon lange hatte sie sich gefragt, ob sie ihm immer noch so viel bedeutete wie damals bei ihrer Hochzeit. Ob er sie immer noch attraktiv fand. Denn in den letzten Jahren hatte er es selten gesagt und noch seltener gezeigt.

„Danke“, flüsterte sie. Dann fasste sie sich ein Herz und teilte ihm ihre Gedanken mit: „Michael, manchmal frage ich mich, ob du noch glücklich bist in unserer Ehe.“ Er sog einmal scharf die Luft ein und blickte sie an. „Wie kommst du denn darauf?“ Sie hatte ihn eiskalt erwischt. Leicht betrübt fuhr sie fort: „Naja, ich weiß, dass deine Arbeit dir sehr wichtig ist. Ich meine, du bist selbstständig, mir ist schon klar, dass du eigentlich nie Feierabend hast. Aber manchmal fühle ich mich so allein. Selbst, wenn du zuhause bist, sitzt du meist an deinem Rechner. Wenn wir essen, erhält dein Smartphone mehr Aufmerksamkeit als ich und oft habe ich das Gefühl, dass du mir gar nicht richtig zuhörst, wenn ich dir etwas erzähle.“ Beschämt schaute er nach unten. Sie hatte mit allem recht. Doch bis jetzt hatte er nie den Eindruck, dass sie das sehr stören würde. Nun war es an ihm, ehrlich zu ihr zu sein.

„Ja, das stimmt. Ich nehme mir wirklich zu wenig Zeit für dich. Aber ich habe oft  Angst, irgendetwas Falsches zu sagen. In den letzten Monaten haben wir uns so oft über Kleinigkeiten gestritten.“ Hilfesuchend blickte er zu einem alten Teddybären, der achtlos auf einer Truhe ihm gegenüber abgelegt wurde. Als ob dieser ihm die richtigen Worte zuflüstern könnte. Sie fühlte sich angegriffen und nutzte sein Schweigen.

„So, wie du das sagst, klingt das, als wäre ich der reine Hausdrache, von dem du nur Prügel beziehst. Ich meine, ja, ich habe mich oft beschwert, dass du mir im Haushalt zu wenig zur Hand gehst. Ich arbeite schließlich auch Vollzeit! Aber mir deswegen aus dem Weg zu gehen, finde ich sehr unreif von dir.“  Das wollte er so nicht auf sich sitzen lassen.

„Das sehe ich ja auch ein. Aber jedes Mal, wenn ich mich bemüht habe und dir etwas abgenommen habe, hast du mir hinter her, statt dich zu bedanken, nur Vorwürfe gemacht. Von wegen, ich putze zu schlampig, wische nicht ordentlich genug Staub und so weiter. Du hattest immer etwas auszusetzen. Da dachte ich mir: Wenn ich eh alles falsch mache, kann ich es auch gleich bleiben lassen“, schloss er aufgebracht. Sie antwortete nicht sofort darauf, sondern starrte ihn nur an. Sie konnte ihm nicht widersprechen. Manchmal hatte sie nur regelrecht darauf gewartet, das berühmte Haar in der Suppe zu finden und es ihm um die Ohren zu hauen.

„Jetzt möchte ich dich mal was fragen“, fuhr er fort. „Bist du denn noch glücklich?“ Seine Stimme war brüchig, denn er hatte Angst vor ihrer Antwort. Sie blickte in ihren Schoss und plötzlich schossen ihr Tränen in die Augen. Schließlich sah sie ihm direkt ins Gesicht. „Nein, ich bin nicht wirklich glücklich. Mir kommt es so vor, als lebten wir nur noch nebeneinander her, wie in einer WG. Ich bin aber nicht deine Mitbewohnerin, sondern deine Frau! Ich will, dass wir wieder mehr zu dem Paar werden, das wir einmal waren.“ Dabei zeigte sie auf das Fotoalbum, dass er immer noch in den Händen hielt. Seufzend lehnte sie sich an die Wand und wischte sich über die Augen. „Wir haben uns beide in den letzten Jahren nicht gerade viel Mühe gegeben mit unserer Ehe. Aber Michael, ich bin bereit, daran zu arbeiten. An mir und an uns. Was ist mit dir?“ Nun war sie diejenige, die sich vor einer Antwort fürchtete. Doch statt etwas zu sagen, warf er das Album zur Seite, zog ihren Kopf zu sich heran und küsste sie. Wie gut sich das anfühlte! Vorsichtig löste er sich wieder von ihr. „Ja, ich bin bereit an uns zu arbeiten. Ich liebe dich nämlich, Daniela. Auch, wenn ich es dir in der Vergangenheit nicht oft genug gezeigt habe.“ Als er aufstand und sie mit sich hoch zog, stieß er mit seinem linken Fuß versehentlich den Eimer mit den Wäscheklammern um. Ein weißgoldener Ring kullerte daraus hervor. „Da ist er ja!“, jubelte sie fröhlich. Schnell hob sie ihn auf und steckte ihn sich wieder an ihren Finger.„Ich bin froh, dass wir den Ring wieder gefunden haben.“

„Ich bin froh, dass wir uns wieder gefunden haben.“ Sie blickten sich tief in die Augen und gingen Hand in Hand wieder hinunter.