Von Andrea Kreiner

Es hätte eigentlich ein Job für ein paar Monate sein sollen – solange bis ich als Musiker Fuß gefasst habe. Doch in der Zwischenzeit sind drei Jahre vergangen. Drei Jahre als Liftboy in einem Hotel. So hab ich mir meine Karriere tatsächlich nicht vorgestellt. Das Schlimmste an diesem Job ist die Fahrstuhlmusik. Zum Glück schenken mir die Gäste in diesem schicken Hotel kaum Aufmerksamkeit. So kann ich zumindest über mein Handy die Art von Musik hören, die mir gefällt.

Als ein kleiner Junge zu mir in den Fahrstuhl steigt, nehme ich einen meiner Ohrstöpsel raus. „Welcher Stock?“, frage ich.

„Nach oben bitte“, antwortet er.

„Wie weit nach oben?“

„Ganz nach oben, so weit es geht.“

„Ganz oben ist das Dach“, antworte ich.

„Dann dorthin, bitte.“

Ich überlege kurz. Vielleicht sollte ich besser warten bis seine Eltern auftauchen. Er sieht zu klein aus, um alleine durch ein Hotel zu laufen. Andererseits habe ich in dem Alter weitaus Schlimmeres angestellt, als alleine ein Hotel zu erkunden.

„Von mir aus.“ Ich drücke den Knopf und die Tür schließt sich.

45 Stockwerke. Das wird eine längere Fahrt.

„Ich bin Max“, sagt der Junge.

„Freut mich.“

„Wie heißt du?“

„Peter.“

„Hallo, Peter.“

„Hallo.“ Ich will den Ohrstöpsel wieder reintun, doch der Junge ist schneller.

„Ich will meine Tante überraschen“, sagt er.

„Ach ja? Also wohnst du hier mit ihr? Mit deiner Tante?“

„Nein, ich bin mit Papa und Mama hier. Aber meine Tante ist auch da, ganz oben.“

„Wirklich? Auf dem Dach?“

„Mhm.“ Max wippt mit den Füßen vor und zurück. „Sie ist eine toll Tante. Sie macht die besten Waffeln der Welt und sie spielt immer mit mir. Monopoly und Mensch ärger dich nicht … sie lässt mich auch immer gewinnen und glaubt ich merke es nicht. Aber ich tu nur so, damit sie nicht enttäuscht ist.“

„Das ist nett von dir“, sage ich. Irgendwie ist der kleine Kerl ganz in Ordnung.

Als die Tür des Fahrstuhls aufgeht und Max auf die begrünte Dachterrasse tritt, nagt das schlechte Gewissen an mir. Ich kann den Jungen nicht einfach sich selbst überlassen. Was wenn seine Tante nicht da ist? Immerhin kommen so früh am Morgen kaum Leute hier hoch. Nein, ich muss bei Max bleiben. Ich steige mit ihm aus.

„Geh nicht zu nah ans Geländer“, sage ich, als Max das Dach abläuft und nach seiner Tante ruft.

„Tante Hilde, Tante Hilde“, ruft Max immer wieder.

Doch hier ist wirklich niemand. „Bist du sicher, dass du da nicht etwas falsch verstanden hast?“

Max schnauft. „Papa hat gesagt sie ist oben.“

„Vielleicht meinte er den obersten Stock?“

„Vielleicht.“ Max sieht traurig aus und lässt sich auf einen der Terrassenstühle plumpsen. „Sie hat sich nicht mal von mir verabschiedet. Das tut sie normal nicht. Von ihrem Mäxchen verabschiedet sie sich immer.“

„Sie ist gegangen?“ Peter verstand nicht.

„Ja, vor etwa einem Monat. Da ist sie von uns gegangen, hat Mama gesagt.“

Oh weh. Mir schwant Übles. „Hat sie das so gesagt? Dass Tante Hilde von euch gegangen ist?“

Max nickt. „Ja. Und dann hat Papa heute beim Frühstück gesagt, dass Tante Hilde jetzt auf uns herabsieht. Dann muss sie doch hier oben sein, oder?“

Ich kann das Lächeln nur schwer unterdrücken. Es ist ein süßes Missverständnis, wenn auch ein trauriges.

„Oh, Max. Damit meint dein Papa doch nicht das Dach.“

„Tut er nicht?“

Der Junge tut mir unsagbar leid. „Nein … er meint den Himmel.“ Ich deute mit dem Finger nach oben.

Max legt den Kopf ins Genick. „Und wie soll ich da jetzt hochkommen?“