Von Kate Rogers

Susanne sah in seine dunkelbraunen Augen und wollte ihm zärtlich eine Haarsträhne aus dem Gesicht streichen. Ihre Hand zitterte. Sie musste ihn anfassen, um sicher zu sein, dass er wirklich da war. Dass er nicht wieder nur ein Produkt ihrer Fantasie war. Er lächelte ihr zu, zwinkerte, drehte sich um und verschwand. Das war ihr in den letzten Tagen schon öfter passiert. Verlor sie den Verstand? Einige Passanten sahen sie verwundert an, da bemerkte sie, dass sie immer noch die Hand erhoben hatte.

Wer war er? Was wollte er von ihr? War er ein Geist? Ein Gebilde ihrer Fantasie? Oder doch real? Aber so schnell? Kopfschüttelnd nahm sie die Hand runter und sah sich suchend um…Nichts, wie in Luft aufgelöst. Verschwunden, wie schon so oft. Sie musste wirklich einen Termin bei ihrem Arzt machen, das ging so nicht weiter. Tagträumen war gar nicht ihre Art, aber seit einiger Zeit hatte sie diese merkwürdigen Visionen von diesem großen Kerl mit den dunklen Haaren, dem Dreitagebart und diesen unglaublich braunen Augen. Der Blick ging ihr durch und durch. Es war, als könnte er direkt in ihre Seele blicken und gleichzeitig hatte sie das Gefühl, er würde um Hilfe bitten. Warum sie, wobei sollte sie helfen und warum sprach er nie ein Wort? Sie verließ den Marktplatz und machte sich auf den Weg nach Hause.

Unterwegs kam sie am Zeitungskiosk vorbei. Sie sah sich die ausgehängten Titelbilder an und dachte: „Moment mal, das war doch ER da in der Zeitung. Der Typ aus ihren Visionen“. Sie trat an den Kiosk und kaufte sich die Zeitung. Im nahegelegenen Park setzte sie sich auf eine Bank am See und las den Artikel: „Haben Sie diesen Mann gesehen oder wissen Sie etwas zu seinem Aufenthaltsort? Die Polizei bittet um Ihre Mitarbeit. Mark M. erfolgreicher Unternehmer in der Baubranche wird seit letzten Montag vermisst. Er verließ morgens seine Wohnung und kam nie in seinem Büro an. Seitdem gibt es kein Lebenszeichen mehr von ihm. Seine Eltern, die ihn am Mittwochabend zum Essen erwarteten, haben die Polizei eingeschaltet. Aber die Ermittlungen haben bisher nichts ergeben. Sachdienliche Hinweise bitte an die nächste Polizeidienststelle…“.

Susanne stutzte. Letzten Montag, da hatte sie doch die erste Vision von ihm. Aber er sah nicht krank oder verletzt aus in ihren Visionen. Sollte sie zur Polizei gehen? Aber was sollte sie denen erzählen: „Hey, der vermisste Bauunternehmer sucht mich in meinen Träumen heim?“, die würden sie direkt einweisen oder schlimmer noch verhaften und vermuten, dass sie hinter der Entführung steckte. Aber gab es überhaupt eine Entführung? Vielleicht war er nur verunglückt und es hatte ihn noch niemand gefunden? Oder er hatte einfach keinen Bock mehr und war ausgestiegen?

Susanne saß ratlos auf der Parkbank rum. Sie blickte auf den See und da, da war er wieder. In der Mitte des Sees auf der Brücke. Er sah direkt zu ihr hinüber, hob die Hand und deutete Richtung Spielplatz. Susannes Blick ging zurück zur Brücke. Er war fort – natürlich. Sie ging Richtung Spielplatz und beobachtete aufmerksam ihre Umgebung. Gab es irgendwelche Hinweise oder Spuren? Sie klang schon wie Sherlock Holmes. Was ihr fehlte, war ein Watson! Jemand, mit dem sie ihre verrückten Einfälle besprechen konnte, der sie wieder erdete und ihr half herauszufinden, was das alles sollte.

Aber wen sollte sie da fragen? Da kam eigentlich nur eine in Frage. Kurz entschlossen zog sie ihr Handy aus der Tasche und wählte die Nummer ihrer besten Freundin. Dass sie da nicht gleich dran gedacht hatte. Pia kannte sie schon seit der Schulzeit. Die würde ihr mit Sicherheit helfen können. Sie verabredeten sich im Park. Pia versprach gleich rüber zu kommen. Sie wohnte zum Glück nicht weit. „Okay, Pia. Dann treffen wir uns am Spielplatz oder nein besser auf der Brücke am See!“

Sie musste dahin, wo sie ihn zuletzt gesehen hatte. Vielleicht gab es Spuren? Aber dafür müsste er real sein. Sie wusste nicht mehr, wo ihr der Kopf stand. Da hörte sie hinter sich Schritte. Erschrocken drehte sie sich um: „Pia, mein Gott hast du mich erschreckt!“

Pia kicherte: „Du bist aber auch ganz schön schreckhaft! Wie geht es dir? Und was ist das für eine abenteuerliche Geschichte, in die du da hineingeraten bist? Erzähl mal!“

Susanne beschrieb ihr, was sie erlebt hatte. Laut ausgesprochen hörte es sich noch verrückter an, als wenn sie nur darüber nachdachte.

Pia hörte ihr aufmerksam zu und sagte schließlich: „Das ist ganz schön abgefahren! Hattest du sowas früher schon mal?“

Susanne dachte nach und sagte: „Ich kann mich nicht erinnern, dass das schon mal so intensiv war, aber merkwürdige Vorahnungen hatte ich schon als Kind. Und wenn ich jetzt darüber nachdenke, es gab eine Zeit, da glaubte ich, Geister sehen zu können. Aber die Erwachsenen, allen voran meine Mutter, haben mir schnell zu verstehen gegeben, dass man damit nur in der Klapsmühle enden kann. Ich habe dann nichts mehr dazu gesagt und die Geistererscheinungen bzw, Visionen ignoriert und für mich behalten. Man lernt, Dinge zu übersehen, die nicht da sein sollen. Aber das hier ist anders. So intensiv, dass ich glaube, ihn berühren und anfassen zu können“.

„Hast du das schon mal probiert?“, wollte Pia wissen.

„Was, ihn zu berühren?“, fragte Susanne, „Ja, habe ich. Aber er ist immer so schnell verschwunden. Vorhin stand er hier genau hier an dieser Stelle und zeigte Richtung Spielplatz“.

„Richtung Spielplatz? Bist du sicher? Schau mal dahinter ist doch noch eine Baustelle. Vielleicht meinte er die?“

Die Baustelle – natürlich, die hatte sie von der Parkbank aus nicht sehen können. Aber jetzt von der Brücke aus sah Susanne sie auch. Die Großbaustelle! Das passte auch viel besser zu einem Bauunternehmer als der Kinderspielplatz. „Komm schon, wir sehen mal nach!“, rief Pia.

„Bist du verrückt, das ist viel zu gefährlich“, sagte Susanne, „lass uns lieber die Polizei anrufen“.

„Und was willst du denen erzählen? Das der vermisste Bauunternehmer dir in deinen Visionen ein Zeichen gegeben hat? Die liefern dich doch ein!“, meinte Pia.

Sie hatte Recht, musste Susanne einsehen. Das hatte sie eben auch schon selbst gedacht.

Gemeinsam gingen sie über den Spielplatz Richtung Baustelle. Ihr Weg endete vor dem Bauzaun. Und was für einer. Mindestens zwei Meter hoch war der Bretterzaun, mit dem die Baustelle gesichert war. Keine Tür, kein Eingang und kein Loch im Zaun. Stattdessen überall die Schilder: „Betreten der Baustelle verboten! Eltern haften für ihre Kinder!“ Das war doch zum Verrücktwerden. Sie gingen am Zaun entlang und suchten nach einer Lücke.

„Normalerweise gibt es doch immer irgendwo ein Loch!“, murmelte Susanne zwischen zusammengebissenen Zähnen. Aber hier- nichts. Sie blickte sich um. Da stand er wieder. Bei genauerem Hinsehen konnte sie erkennen, dass er doch etwas mitgenommen aussah. Aber wenn er schon seit einer Woche vermisst wurde und verletzt irgendwo herumlag, dann verließen ihn vielleicht auch langsam seine Kräfte. Susanne konzentrierte sich wieder auf die Erscheinung. Sagte er etwas? Sie konnte nichts hören, aber sie war sich fast sicher, seine Lippen formten die Wörter: „Hilf mir!“

Sie wollte ja, aber wo und wie? Er zeigte nach rechts. Ihr Blick wanderte an seinem Arm entlang und schließlich sah sie, was er ihr wohl zeigen wollte. Eine schmale Tür, die tatsächlich einen Spalt offen stand. „Pia, hier drüben ist eine Tür!“, rief sie ihrer Freundin zu. Vorsichtig drückte sie die Tür auf. Da war er wieder, diesmal direkt vor ihr. Was wollte er ihr denn jetzt sagen?

„Vorsicht!!!“

Sie war nicht sicher, beschloss aber seinem Rat zu folgen und trat langsam durch die Tür. Die Vision verschwand, dafür polterte hinter ihr Pia durch die Türe und stieß mit ihr zusammen. Durch den Schwung des Zusammenstoßes machte Susanne einen riesigen Satz vorwärts und wäre beinahe gefallen. „Mein Gott, Pia, pass doch auf!“, herrschte sie die Freundin an.

„Ist doch gar nichts passiert! Gehen wir weiter.“

Die Augen auf den Boden gerichtet, tasteten sie sich vorwärts. Susanne sah sich suchend um, das wurde jetzt aber auch schnell dunkel. „Verflixt!“, schimpfte sie.

„Hier ist nichts. Lass uns nach Hause gehen. Oder siehst du was?“, maulte da auch Pia.

Susanne tastete nach ihrem Handy und schaltete die Taschenlampe ein. Sie leuchtete die Gegend ab. „Da hinten ist, glaube ich was“, sie zeigte in Richtung des Baukrans, „ich sehe da nochmal kurz nach!“

Sie marschierte Richtung Baukran. Da war doch was, stand er da? Sie konzentrierte sich auf den Kran und beachtete den Boden nicht, da trat sie plötzlich ins Leere und fiel. Sie versuchte sich abzufangen, um sich nicht zu verletzen, trotzdem kam sie ziemlich hart am Boden der Grube auf. Sie versuchte sich aufzurichten, das ging. Aber als sie ihren Fuß belastete, zuckte sie schmerzerfüllt zusammen. Der war hinüber. Das Handy hatte sie auch verloren und natürlich war die doofe Taschenlampe ausgegangen. Bestimmt war das Handy kaputt. „So ein blöder Mist!“, schimpfte sie.

„Das habe ich vor ein paar Tagen auch gesagt, als ich hier runtergefallen bin!“, kam es da schwach aus einer Ecke vor ihr.

Pia war mittlerweile auch an der Grube angekommen und leuchtete mit ihrem Handy nach unten. Im schwachen Schein der Taschenlampe konnte Susanne die Umrisse eines Menschen erkennen. Am anderen Ende der Grube. Sie kroch rüber. Da lag er. Der Typ aus ihren Träumen. Sie hatte ihn gefunden…

 

Version 2