Von Agnes Decker

Oh je, da hat sich ja die ganze Straße versammelt. Na, ja, zumindest der weibliche Teil meiner neuen Nachbarschaft. Ihr Stimmengeschwirr dringt zu mir herüber. Dabei wollte ich bloß ein paar Brötchen zum Frühstück einkaufen. Jetzt rächt es sich, dass ich auf die Schnelle meine alte Jogginghose und das Kapuzenshirt über den Schlafanzug gezogen habe. Zähne geputzt, Haare gebürstet, Sonnenbrille auf und los. So bin ich in Köln morgens immer zum Bäcker. Hier auf dem Land scheint man das anders zu sehen. Aber wir sind ja ohnehin die Zugereisten. Ebenso wie die anderen Akademiker, die sich in der Parkstraße niedergelassen haben. Im Zuge des Generationenwechsels. Auf der einen Seite der Straße die Zugereisten, die die Häuser der alten Bewohner aufgekauft haben, die ins Pflegeheim oder auf den Friedhof übergesiedelt sind und auf der anderen die Alteingesessenen, alte Arbeiterfamilien. Die haben es nicht gerne, wenn man sich aufbrezelt, kurze Röcke und so, habe ich von meiner Nachbarin, einer Psychologin, erfahren. Das tut man hier nicht, genauso wenig wie noch vieles andere. Die Regeln hier stehen fest, unumstößlich. Und jetzt das. Ich, in liederlicher Aufmachung, offensichtlich noch ohne Frühstück und das um 10.00 Uhr morgens.

Als ich versuche, unerkannt an der schnatternden Frauengruppe vorbei in die Bäckerei zu kommen, schallt mir ein mehrstimmiges „Morgen und  Mahlzeit“, entgegen.

„Guten Morgen, die Damen“, ich ergebe mich meinem Schicksal und bleibe stehen. „Was ist denn hier los?“

„Ja, weißt du es denn noch nicht?“ Marianne, meine direkte Nachbarin von gegenüber und Tonangeberin im gesamten Viertel, schaut mich prüfend von oben bis unten an. „Gerade erst aufgestanden? Ja, ihr habt’s gut.“ Den Rest lässt sie offen.  „Also“, setzt sie erneut an und dämpft ihre Stimme zu einem bedeutsamen Flüstern, „die Melanie ist verschwunden, seit letzter Nacht. Sie ist nicht nach Hause gekommen nach der Probe.“ Marianne schaut mich auffordernd an.

„Die Melanie“, sage ich „ist das nicht die hübsche Dunkelhaarige?“

„Genau die“, Marianne ringt die Hände, „das arme Kind und die armen Eltern.

„Wir besprechen gerade, wie wir helfen können.“

 

Helfen, das ist Mariannes Leidenschaft, ihre Profession könnte man sagen.

Obwohl wir erst seit vier Wochen hier sind, kann ich davon schon ein Lied singen. Beim Einzug wurden wir mit einem riesigen Topf Hühnersuppe beglückt, der, zugegeben, hervorragend geschmeckt hat. Und so ging es weiter. Ratschläge, Informationen, Essen. Wir unfähigen Städter und noch dazu Akademiker wurden sofort adoptiert und mit den Gegebenheiten unserer neuen Heimat vertraut gemacht. Und zwar von Marianne, der Übermutter und uneingeschränkten Herrscherin über das gesamte Viertel.

„Möchtest du dich anschließen?“ Marianne schaut mich auffordernd an. Man duzt sich übrigens hier, auch das erfuhr ich am ersten Tag unseres Hierseins.

„Selbstverständlich. Aber was kann man da tun? Ist die Polizei schon verständigt?“ frage ich und bekomme ein allgemeines Kopfnicken zur Antwort.

„Die durchsuchen gerade das Wäldchen da hinten am Sportplatz, da wo sich die Jugendlichen treffen, weißt du?“ Sybille deutet mir der rechten Hand irgendwo in die Ferne.

„Ich weiß, ich hab sie oft dort gesehen, beim Gassi gehen“, antworte ich und wünsche mir nichts mehr, als entlassen zu werden, um endlich meine Brötchen zu kaufen. Mein Magen knurrt vernehmlich. Ich räuspere mich, um das Geräusch zu übertönen, aber Marianne hat es natürlich vernommen.

„Wir  wollen dich nicht aufhalten. Du hast ja noch nicht gefrühstückt“, sagt sie mit einer gewissen Schärfe und wendet mir den Rücken zu.

„Also, wenn ich etwas tun kann, gerne. Meldet euch bei mir. Jederzeit“, sage ich zu den Rücken meiner Nachbarinnen und schlüpfe schnell durch die Tür.

„Was bekommen wir denn?“ Die Bäckersfrau schaut mich von oben bis unten an und wieder zurück. „Die Brötchen sind aus.“

Natürlich, um diese Zeit. Was frage ich denn auch so blöd. Ich kaufe ein geschnittenes Brot und drei Croissants. Die gibt es nämlich noch, sind wohl zu exotisch. Wenn ich ein junges Mädel wäre, kurz vor der Volljährigkeit, wäre ich schon längst

abgehauen. Nach Köln oder in eine andere Großstadt, denke ich.

„Vielleicht ist sie ja abgehauen“, sage ich laut.  

„Abgehauen“, die Bäckersfrau schaut mich mitleidig an, „die ist doch nicht abgehauen, die Melanie. Kennen Sie die Familie Zimmer?“ Ihre Stimme klingt vorwurfsvoll.

„Einen schönen Tag noch“, ich nehme meine Papiertüten und verlasse den Laden.

Die Gruppe vor der Bäckerei hat sich aufgelöst. Nur Marianne und Sybille sind noch da. „Wir sammeln für ein Plakat. Bist du dabei?“ Marianne schaut mich erwartungsvoll an.

„Ja, klar“, ich zücke meine Geldbörse und nestele einen Fünfeuroschein heraus.

„Und wenn sie einfach abgehauen ist.“

Sybille nimmt den Geldschein und steckt ihn in einen Umschlag. „Die haut nicht ab, die Melanie.“

„Die doch nicht.“ Auch Marianne schüttelt vehement den Kopf.

„Einen schönen Tag noch“, ich drehe mich  um und gehe los. Endlich Frühstück.

Das zweifache „Mahlzeit“  hinter meinem Rücken lasse ich an mir abprallen.

Der Kaffee läuft duftend und zischend durch den Filter der Maschine und mein Magen knurrt immer lauter. Ich schneide ein Croissant auf, beschmiere es dick mit Butter, gebe zwei Teelöffel Johannisbeermarmelade dazu und beiße hinein. Ein Klingeln lässt mich aufschrecken. ‚Hoffentlich nicht schon wieder Marianne‘, geht es mir durch den Kopf. Widerwillig gehe ich zur Haustür. Die Marmelade tropft von dem Croissant in meine Handfläche. Schnell stecke ich es komplett in den Mund und kaue darauf los.Während ich noch schlucke, öffne ich die Tür. Draußen stehen zwei Männer in Lederjacken und halten mir ihre Ausweise entgegen.

„Ja bitte“, ich versuche freundlich zu sein, was mir nicht so recht gelingen will.

„Kripo Bergheim, Frau Stirner?“ der jüngere der beiden schaut mich an.

„Ja, das bin ich“, wer auch sonst, du Dümpel, denke ich und muss grinsen.

„Ist Ihnen die Familie Zimmer bekannt?“ Der Ältere hat jetzt die Führung

übernommen.

„Sie meinen, ob ich das vermisste Mädchen kenne, die Melanie?“ frage ich zurück.

„Genau, können wir den Rest drinnen besprechen?“ Die Beamten treten ins Haus. Drinnen hat Bodo angefangen zu bellen und steigert sich gerade genussvoll hinein.

„Aus, Schnauze“, brülle ich. Noch ein leises Wuff, dann ist es still. Guter Junge, denke ich, gut erzogen und bin ein kleines bisschen stolz. Ich führe die beiden in die Küche und bitte sie, sich zu setzen. Dann stelle ich zwei weitere Tassen auf den Tisch, nehme die Kaffeekanne und gieße uns allen ein. Bodo liegt neben dem Sofa in seinem Körbchen und beäugt uns aus der Ferne.

Der jüngere der beiden hat einen Notizblock herausgezogen und nimmt die Personalien auf. Dann beginnt der ältere mit der Befragung: Ob und wie gut ich die Familie Zimmer kenne? Wie das Verhältnis der Eltern zu ihrer Tochter ist? Ob mir etwas Ungewöhnliches aufgefallen ist? Wann ich Melanie zuletzt gesehen habe? Nachdem ich die Fragen ordnungsgemäß beantwortet habe, verabschieden sich die beiden und ich kann endlich in mein zweites Croissant beißen. Viel haben sie nicht erfahren. Ich kenne die Familie Zimmer nur vom Sehen und Grüßen.

Als ich zur Arbeit fahre, ich bin Ärztin und arbeite im Schichtdienst des nahen Kreiskrankenhauses, sehe ich die Plakate, die meine fürsorglichen Nachbarinnen aufgehängt haben. „Vermisst“ steht da in großen Lettern. „Seit Dienstagabend wird die 17jährige Melanie Zimmer vermisst. Sie ist nach der Theaterprobe, die dienstags von 18.00-20.00 Uhr im Pfarrsaal stattfindet, nicht nach Hause gekommen. Zuletzt wurde sie gegen 20.15 Uhr alleine auf der Heerstraße gesehen. Wer das Mädchen gesehen hat oder etwas über ihr Verbleiben weiß, wird dringend gebeten, sich mit den Eltern oder der Polizei in Verbindung zu setzen.“

Marianne und ihr Team haben gute Arbeit geleistet.

Die Polizei durchsucht mit Spürhunden und Unterstützung der Nachbarschaft das angrenzende Wäldchen, sämtliche Grünanlagen, Schrebergärten und leer stehende

Gebäude, aber Melanie bleibt verschwunden.

Ich bin ja davon überzeugt, dass sie sich in Köln mit ihrem Freund ein gutes Leben macht. Da wäre ich jetzt auch lieber. Wie sind wir nur auf die Idee gekommen,

hierhin zu ziehen? In Köln sind Ärzte gesucht und Jan ist ohnehin nicht auf den

Wohnort angewiesen, da er als Managementberater in der gesamten Republik unterwegs ist. So, wie jetzt auch gerade. Und ich bin alleine diesen Hinterwäldlerinnen ausgeliefert.

Marianne hat mir gerade eben detailliert berichtet, wie die Suchaktion verlaufen ist und wie großartig die gesamte Nachbarschaft mitgeholfen hat. Außer Jan und mir natürlich. Aber wir mussten ja arbeiten. Das versteht man ja.

Gefunden wurde nichts, keine Spur von Melanie. Zwei Wochen ist sie jetzt schon vermisst. Allmählich macht sich Hysterie breit. Kein weibliches Wesen geht mehr nach Einbruch der Dunkelheit alleine auf die Straße. Mütter bringen ihre Kinder bis vors Tor der Schule oder des Kindergartens und holen sie dort wieder ab. Abends werden alle Rollläden heruntergelassen und die Türen verriegelt.

Dass ich noch alleine jogge, kann Marianne überhaupt nicht verstehen. Das ist doch viel zu gefährlich, teilt sie mir mit. Auch, dass ich Bodo dabei habe, der immerhin ein deutscher Schäferhund ist, ist für sie kein Argument. Ich stecke mir die Kopfhörer in die Ohren, nehme Bodo an die Leine und laufe los. Ich habe keine Angst. Außerdem ist es heller Vormittag. In flottem Tempo laufe ich den Weg am Sportplatz entlang. Dann lasse ich Bodo von der Leine. Er spurtet los und ist kurze Zeit darauf verschwunden. Auf meinen Rückruf reagiert er nicht, auch nicht auf die Hundepfeife. Aus der Ferne höre ich sein Bellen. Anschlagen heißt es beim Mantrailing und dann bei der gesuchten Person bleiben. Ob er? Das kann nicht sein. Und wenn doch. Aber die Polizei hat doch schon mit Spürhunden gesucht. Und wenn sie entführt und versteckt gewesen ist. Ein eiskalter Schauer läuft mir über den Rücken. Bodo bellt immer noch, hoch und hell.