Von Julia Kalchhauser
Ich stehe in der Küche, mein Blick geht irgendwo ins Leere jenseits der Fensterscheibe. Aus dem Radio dringt leise Werbung für Kaubonbons. Fröhliches Kinderlachen und dann die einprägsame Kennmelodie der Marke. Die Werbung löst Erinnerungen in mir aus. Erinnerungen an Momente, in denen wir ausgelassen rumalberten, uns wie Kinder bogen vor Lachen. Erinnerungen an ihr Lachen, welches das ansteckendste ist, das ich kenne und wohl Hauptschuldiger meiner anfänglichen Verliebtheit war. Dieses Lachen, das schon so lange niemanden mehr angesteckt hat, das in unserem Zuhause schon so lange nicht mehr vernommen wurde. Wie sehr ich mich danach sehne. Was ich nicht alles geben würde, um dieses Lachen von ihr zu hören.
Das Pfeifen des Teekessels holt mich prompt aus meiner Erinnerungsspirale. Ich nehme den Kessel vom Herd und gieße die große Jumbotasse voll. Die Tasse haben wir in einem winzigen Souvenirshop gekauft damals, als wir ein paar Tage in Florenz waren, wo wir außer lachend durch die engen Gassen zu streifen und guten Wein zu trinken, die Zeit hauptsächlich im Bett verbracht haben. Frisch verliebt und vollkommen verrückt nach einander. Ich greife den Kräutertee aus dem Hängeschrank oberhalb des Herds, entferne die Hülle und hänge den Beutel ins Wasser. Die Hülle werfe ich in den Müllkorb unter der Spüle.
Bei Gegenständen ist es so einfach. Meine Frau, die mir jahrelang der liebste Begleiter und Seelenverwandte war, kann ich nicht einfach so wegwerfen. Mit viel Liebe kümmere ich mich um die leere Hülle der Person, die ich einmal kannte. Denn ich habe die Hoffnung noch nicht aufgegeben. Hoffnung, das Funkeln in ihre Augen zurückkehren zu sehen. Hoffnung, das wunderbar ansteckende Lachen eines Tages wieder aus ihrer Kehle plätschern zu hören.
Das Bild, das sich mir bietet als ich um die Ecke ins Wohnzimmer biege, ist das Gleiche wie am Tag zuvor und am Tag davor. Sie sitzt vor dem großen Fenster und schaut auf den Apfelbaum im Garten. Der Baum, der kahl dem Wind trotzt. An derselben Stelle saß sie schon, als er voller Blütenpracht war und auch, als sich die Äste schwer vor lauter Früchten gebogen haben. Doch dass sie den Baum tatsächlich wahrnimmt, wage ich zu bezweifeln.
Sanft lege ich meine Hand auf ihre Schulter, welche in den letzten zehn Monaten erschreckend knochig geworden war.
„Hier Schatz. Ich hab dir Tee gemacht.“
Ich stelle die Tasse neben sie auf den kleinen Tisch. Sie dreht sich um und schenkt mir ein müdes Lächeln, während sie ihre Hand auf meine legt.
„Danke, Schatz. Lieb von dir. Der wird mir bestimmt guttun.“
Sachte erwidere ich ihr Lächeln und doch bin ich mir sicher mit meinem nicht überzeugender zu wirken als sie mit ihrem. Es schmerzt mich sie so zu sehen. Das blasse Gesicht, eingefallene Wangenknochen, spröde Lippen. Ihre Rundungen, die ich leidenschaftlich geliebt habe, sind verschwunden. Aus der starken lebenslustigen Frau ist ein zerbrechlicher Rahmen geworden, bei dem man mit jeder Berührung Angst haben muss, etwas kaputt zu machen.
„Kann ich dir noch irgend etwas Gutes tun? Etwas bringen?“ Zärtlich drücke ich ihre schmalen Finger. „Oder möchtest du mich später bei einem Spaziergang begleiten?“ Ich gebe nicht auf, sie fast täglich zu fragen, ob sie nicht doch einmal das Haus verlassen will, selbst wenn es nur ein kurzer Spaziergang sein sollte. Die Chancen sie dazu zu bringen, sind mit jedem Monat geringer geworden. Und doch höre ich nicht auf zu fragen. Ich kann nicht anders.
„Nein, danke mein Schatz. Heute eher nicht, ich bin ziemlich müde.“
Ich setze ihr einen langen, sanften Kuss auf die Stirn, bevor ich mich abwende und zurück in die Küche gehe.
Ich habe keine Zweifel, dass der Tee ihr guttun wird. Jedoch habe ich immense Zweifel daran, dass sie jemals zu mir zurückfinden wird. Dass sie die Kraft aufbringen kann, um die grauen Wolken beiseite zu schieben, die ihr zuvor so sonniges Gemüt komplett bedecken. Der Therapeut hat gesagt, ich müsse Geduld haben. Dass Depressionen, die durch ein Trauma ausgelöst werden, sehr wohl behandelbar wären, aber der Patient auch seinen Teil dazu tun müsse. Anfänglich hat es mich nicht überrascht, als sie chemische Unterstützung in Form von Medikamenten abgelehnt hatte. Die Verarbeitung war ein Prozess, so sagte sie damals, dessen Bewältigung sie bewusst und bei vollen Sinnen durchlaufen wollte. Dafür hatte ich noch Verständnis. Doch als sie immer weniger aß, oft nächtelang nicht zu mir ins Bett kam und es immer seltener schaffte, sich durch die zähe graue Masse nach Außen zu kämpfen, hatte ich schließlich versucht sie doch zu Psychopharmaka zu überreden. Leider erfolglos.
In der Küche räume ich meine Kaffeetasse in die Spülmaschine und mache das Radio aus. Geistesabwesend pfeife ich die Melodie aus der Radiowerbung. Vor meinem inneren Auge sehe ich sie in dem türkisen Kleid über den Ponte Vecchio flanieren. Das Kleid, welches fast die Farbe ihrer Augen hatte, in dem ich sie so unglaublich sexy fand, dass es mir schwer machte um sie herum überhaupt etwas wahrzunehmen. An schönen Erinnerungen kann man sich doch immer wieder laben, denke ich als ich ins Vorzimmer gehe und mir die olivgrünen Gummistiefel anziehe.
Auch ich musste einen Trauerprozess durchlaufen, der mir viel abverlangte. Sehr viel mehr, als ich gedacht hätte. Jemanden zu verlieren, den man noch nicht einmal gekannt hat. Wie surreal. Hätte mir davor jemand gesagt wie schlimm es sein würde, ich hätte es nicht für möglich gehalten. Nun habe ich aber nicht nur das Ungeborene verloren, welches ich noch nicht einmal hatte kennenlernen dürfen, wenn man mal von den grauen Ultraschallbildchen absieht. Nein, zusätzlich habe ich auch noch die Person verloren, die ich besser kenne und mehr liebe als irgendwen sonst. Und obwohl ich sie jeden Tag Zuhause vorfinde, wenn ich von der Arbeit komme, vermisse ich sie stärker als je zuvor. Vielleicht macht es das für mich noch schlimmer. Ihre physische Anwesenheit, die aber kaum noch etwas von der Person innehat, die ich so unendlich vermisse.
Ich schlüpfe in den schweren Wachsmantel, wickele den Schal um meinen Hals und ziehe mir die Wollmütze tief ins Gesicht.
„Ich dreh mal ne schnelle Runde, Schatz“ rufe ich Richtung Wohnzimmer. „Bin zurück bevor es dunkel wird, dann koch ich uns was Feines!“
„Es sieht kalt und windig aus, vergiss deine Mütze nicht!“
„Hab ich“ grinse ich, ohne dass es jemand sehen kann. Sie wäre die beste Mutter geworden.
Schnellen Schrittes gehe ich auf den Waldweg hinter dem Haus, der zu dem kleinen Hügel führt. Ich atme die kalte Spätherbstluft tief ein und versuche meine eigene Enttäuschung mit jedem Ausatmen mehr loszulassen. Meine eigenen Tränen, Zweifel und Hoffnungslosigkeit packe ich in große Ballons, die ich bewusst ziehen lasse. Mit jedem Ausatmen ein anderer Ballon.
Manchmal bin ich selbst so sehr am Ende, dass sich meine Trauer und Frustration gegen sie richten. Immer beherrsche ich mich, um sie das nicht spüren zu lassen. Doch in meiner Vorstellung packe ich sie und schüttle sie solange, bis sie aufwacht aus ihrer traurigen Lethargie. Ich schreie sie an sich endlich zusammenzureißen, schreie, dass es keinen Sinn macht, weil ein Leben geendet hat zusätzlich auch noch ihres und meines zu begraben. Alles in meiner Vorstellung. Ich bettele sie an, doch vernünftig zu sein, den Schmerz ruhen zu lassen und sich wieder auf das Leben zu konzentrieren. Auf das Leben, das wir noch haben! Dessen Steuer wir bloß selbst in die Hand nehmen können. Frage sie, ob sie tatsächlich auch noch mich verlieren wolle.
Längst habe ich aufgegeben sie zur körperlichen Liebe animieren zu wollen. Seitdem sie mir beim ersten Versuch gesagt hat, dass sie keinerlei Gefühle oder Bedürfnisse in diese Richtung hätte, habe ich es sein lassen. Ich lasse ihr Zeit. Sie lässt es zu, dass ich sie beim Einschlafen fest in den Arm nehme, vergräbt manchmal ihr dünnes Gesicht in meiner Halsbeuge, während ich sie an mich drücke. Mehr gibt es aber nicht. Keine innigen Küsse mehr, keine verspielten Samstagvormittage im Bett, keine romantischen Abenteuer nach ein paar Gläsern Wein. Mein Sexleben ist zu einer One-Man-Show ohne Publikum geworden.
Ich habe den kleinen Hügel erreicht, von dem aus ich auf unser Haus und Teile der Ortschaft blicken kann. Wie ruhig und eingeschlafen von hier alles aussieht. Ich sehe das eine oder andere Auto die entfernte ländliche Straße entlang kriechen. Alles komplett ruhig. Die Dämmerung legt sich wie eine schwere Decke über die Hügel und roten Dächer.
Nur den Wind kann ich hören. Die kalte Luft sticht in der Nase und meine Augen füllen sich mit Tränen.
Die Natur um mich herum ist der beste Beweis dafür, dass alles ein Kreislauf ist, alles einen Sinn ergibt. Ich schöpfe neue Hoffnung, dass auch meine Frau den jetzigen Kreis beenden wird und wir beide dann zwar vielleicht nicht wieder zu den Personen werden, die wir früher waren, aber zu verbesserten Versionen derer. Zu überarbeiteten, weiter entwickelten Modellen, die mehr Erfahrung haben, sich noch tiefer vertrauen und kennen, da wir gemeinsam etwas durchgestanden haben. Und mit der gemeinsamen Kraft auch wieder Neues erschaffen können. Ich spüre neuen Mut weiter um sie zu kämpfen, die Hoffnung, dass sich alle Kämpfe am Ende zum Guten wenden werden. Dass ich den Kampf gegen meine und ihre Dämonen gewinnen kann. Dass ich weiterhin die Kraft aufbringen kann jeden Tag für sie da zu sein, verständnisvoll und unterstützend. Respektvoll und liebend.
Mit aufgehellten Gedanken trete ich den Heimweg an und schwöre mir alles zu tun, das in meiner Macht steht, um meiner Frau zu helfen. Und wenn es ein weiteres Jahr dauert, in der ich nichts anderes für sie tun kann, als sie fest im Arm zu halten, ihr zu sagen, dass alles gut wird und, dass sie mir unglaublich wichtig ist, so werde ich das tun. Tag für Tag und Nacht für Nacht.
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