Von Florian Ehrhardt

Es ist kalt in der Stadt. Ich starre aus dem Fenster in die Kälte hinaus. Und obwohl die Stadt eigentlich nicht zurückstarren kann, fühle ich mich beobachtet. Instinktiv schiebe ich eine schützende Hand vor meine Brüste. „Du bist irgendwo da draußen, oder?“, murmele ich.

Die kalte, dunkle Stadt gibt mir keine Antwort. Nur die Straßenlaternen funkeln mir entgegen. Und doch presse ich mein Gesicht gegen die Fensterscheibe, bis meine Nase sich ganz platt anfühlt und meine eigenen Augen mir durch die Spiegelung des Fensters grün entgegenfunkeln.

„Wo bleibst du nur?“

Ein Auto biegt viel zu schnell in unsere Straße ein, lässt in der Kurve vor unserem Haus die Reifen quietschen und zieht mit heulendem Motor davon. Ich wende meinen Blick angewidert ab. Meine Nase hat einen ekligen Fettfleck auf der ansonsten so makellos geputzten, bodentiefen Scheibe hinterlassen. Normalerweise hinterlassen nur die kleinen Fingerchen von Jonas solche Flecken auf der Scheibe. Der Gedanke lässt eine Gänsehaut über meinen ganzen Körper wandern, jedes noch so kleine Haar stellt sich auf. Ich starre ziellos durch das nur von einer einzelnen Kerze erleuchtete Wohnzimmer.

 

Die ältesten Kindergartenkinder werden Jumbos genannt und dürfen alleine nach Hause laufen. Eine halbe Stunde vor allen anderen Kindern.

„Ich bin jetzt ein Zwölfe-Kind!“, hatte Jonas laut durch den Flur trompetet, als er das erste Mal als Jumbo nach Hause gekommen war. Das ist höchstens zwei Monate her und doch kommt es mir so vor, als wären es mindestens 10 Jahre gewesen. Jonas‘ Weg dürfte ihn selbst bei einem Abstecher über die Rutsche auf dem kleinen Spielplatz am Wegesrand keine 15 Minuten kosten. Eigentlich ist es ein vollkommen ungefährlicher Heimweg. Aber dem kleinen Waldstück begegnet er mit Ehrfurcht. Wenn man ihm dort auflauern würde…“das perfekte Verbrechen!“, flüstere ich.

 

Das Telefon klingelt. Seitdem ich um Punkt 13:00 Uhr den Kindergarten und dann keine zwei Minuten später die Polizei  angerufen habe, steht unsere Leitung unter Dauerbeschuss. Besorgte Anrufe meiner Mutter, von verschiedenen, völlig aufgelösten Kindergarten-Quatschtanten und natürlich immer wieder von der Polizei. Das „Wir geben Ihnen ab jetzt halbstündlich Updates“ von vor vier Stunden habe ich nur mit einem unsichtbaren Nicken quittiert um dann aufzulegen. Noch schlimmer sind nur diese emotionslosen Kontrollanrufe von Michi. Spätestens um Mitternacht wollte er bei mir sein. Ich will, dass die Gigaset-Höllenmaschine endlich den Geist aufgibt, trotzdem zittern meine Hände dem Hörer entgegen.

„Ste-stephanie M-Meyer?“, frage ich zaghaft in die Leitung.

„Hier ist Oberkommissar Müller. Wir weiten die Suche jetzt auf einen Umkreis von 200 Kilometern aus. Falls es etwas Neues gibt, rufen wir Sie an. Ansonsten würden wir Sie aber schlafen lassen. Es ist spät.“

Ich spüre, wie sich ein hysterisches Lachen den Weg durch meine Brust bahnt und versucht herauszubrechen. 200 Kilometer?! Jetzt erst? Das wird niemals ausreichen. Aber so verrückt es auch klingen mag: Ich bewahre die Fassung und hauche ein „Danke, gute Nacht.“ in das Telefon. Geistesabwesend beende ich das Telefonat und lege das Gerät neben die Ladestation.

 

Man sollte meinen, dass die Sonderermittler der SOKO Kindesentführung etwas in ihren Köpfen haben. Aber die haben nicht einmal gefragt, ob es schon so etwas wie eine Lösegeldforderung gibt. Vielleicht glauben Sie auch einfach, dass es ein Pädophiler war. Solchen Typen ist Lösegeld nämlich egal. Mir graut es bei dem Gedanken. Wenigstens verdächtigen sie Michi nicht. Aber immerhin mit einer Sache hatte der unfähige Müller Recht. Es ist wirklich spät. Meine digitale Armbanduhr zeigt 00:59 Uhr an. In diesem Moment springt die Anzeige auf 01:00 um und wie auf Knopfdruck gehen vor dem Fenster die Straßenlaternen aus. Jetzt ist es wirklich dunkel in der Stadt. Gespenstisch. Also lösche ich auch die Kerze und lasse mich in mein warmes Bett fallen. „Bitte komm endlich nach Hause!“ ist das letzte Stoßgebet, das ich durch die kalte, dunkle Nacht sende.

 

Der Digitalwecker neben unserem Bett zeigt 3:27 Uhr an, als es klingelt. Ich sitze sofort aufrecht im Bett und stürme zur Tür. Ich schaue nicht einmal durch den Türspion und falle Michi stattdessen sofort in die ausgebreiteten Arme, noch bevor der sich dafür entschuldigen kann, seinen Schlüssel vergessen zu haben.

Er tätschelt meinen Kopf und fährt mir mit den Fingern durch die Haare. Seine Küsse finden meine Stirn.

Erst jetzt merke ich, dass heiße Tränen über meine Wangen kullern. Ich weiß nicht, wie lange wir eng umschlungen in der Diele stehen, aber irgendwann gelingt es mir, mich von ihm zu lösen. „Ist es vorbei?“

Ein Lächeln, das eine Welle der Lust durch meinen ganzen Körper rollen lässt, umspielt seine vollen Lippen. „Das Telefon sollte jeden Moment klingeln.“

„Warum hast du so lange ge…“, beginne ich meine Frage, doch wie auf Kommando unterbricht mich der vertraute Klingelton.

Er nickt mir zu. „Geh du ran.“

Ich greife zum Hörer. „Stephanie Meyer.“

„Müller hier.“ Seine Stimme ist belegt. „Setzen Sie sich bitte erstmal.“

Ich weiß, was jetzt kommt, trotzdem ignoriere ich seine Aufforderung. „Ich sitze schon.“, lüge ich in die Leitung.

„Unsere hessischen Kollegen haben Ihren Sohn in der Fischach gefunden.“

Ich bin sprachlos.

„Mein Beileid. Wir sind in fünf Minuten bei Ihnen.“

Ich schweige weiter.

Müllers Krisenmanagement ist katastrophal: „Der Mörder liegt wohl neben ihm. Hat sich die Kugel gegeben.“

Es fühlt sich an, als hätte jemand einen roten Vorhang über mein Sichtfeld gelegt. Ohne überhaupt aufzulegen pfeffere ich das Telefon in unseren Flatscreen. „Michi, so war das nicht geplant!“

Er grinst mich nur an. „Geiler Nebeneffekt, oder?“

„Das hätte verdammt schiefgehen können! Was, wenn er schon vorher kalte Füße bekommen hätte? Was, wenn er gesungen hätte? Dann wären wir jetzt im Knast!“

„Sind wir aber nicht. Er hat nicht gesungen.“ Michi küsst mich auf den Mund. Der Kuss der Freiheit. Seine Zunge findet meine und wir tanzen endlich wieder Tango.

Er hat ja doch Recht. Wir haben den Satansbraten rückstandslos entfernt.