Von Jochen Ruscheweyh

„Und, wie aufgeregt bist du auf einer Skala von eins bis zehn?“

Oliver sah mich mit einem Lächeln an: „Hundert.“

„Sehr gut, genauso muss das sein. Willst du noch einen Kaffee?“

Er nickte: „Ein Kaffee wäre toll, Simon.“

 

Ich stand am Catering Truck und sah der Maschine zu, wie sie unter tiefem Grollen cremig weichen Bohnensud hervorspuckte, als ich jemanden hinter mir in die Hände klatschen hörte. Nicht euphorisch, nicht applaudierend, sondern mit der Art verzögerter Langsamkeit, die einen Vorwurf oder eine Anklage vorbereiten.

„Prego!“ Der Mann im Catering Truck, der mir den Kaffee hinhielt, senkte gleichzeitig seinen Blick, als schäme er sich schon einmal prospektiv für das, was gleich passieren würde.

 

„Das hast du ja ganz fein hinbekommen. Man reicht dir den kleinen Finger und du nimmst Arm und Schulter gleich mit dazu“, hörte ich von hinten.

Ich bedankte mich mit einem Nicken für den Kaffee und drehte mich um. Nicht etwa, weil ich so versessen darauf war, einen Konflikt auszutragen, sondern weil es mir meine Erziehung gebot, einem Kritiker Angriffsfläche zu geben. Soviel hatte ich bereits über mich in Therapien gelernt. Und eins in der Medienbranche verinnerlicht: Dass man besser den Mund hielt und sich absauen ließ, zumindest solange man noch nicht das Level Save & Accepted erreicht hatte.

 

„Weißt du eigentlich, wie lange ich für die Story recherchiert habe?“, fuhr mein Gegenüber fort, „wie viele Gespräche geführt, welche Klinken ich geputzt habe?“

„Ich kann verstehen, dass du enttäuscht bist, Hermann, sag mir einfach, was ich tun soll und ich mache es. Du bist der Boss, ich ordne mich unter“, antwortete ich.

Um seine Augen herum zuckten Muskeln, von denen ich nicht einmal sicher war, dass ich sie überhaupt besaß. Vermutlich wäre es leichter, meine vermeintliche Schuld einzugestehen – wenn ich nur wüsste, worin diese überhaupt bestehen sollte. Natürlich konnte ich Hermann Homberger diese Frage stellen. Genauso gut konnte ich aber auch einen Bienenstock umwerfen. Stattdessen sagte ich – so wie ich es gewohnt war und wie es mir leicht fiel: „Hör zu, es tut mir leid.“

„Du hast es immer noch nicht kapiert, oder?“ Er drehte sich um und ließ mich stehen, um nach wenigen Schritten Halt zu machen, zurückzukommen und seinen Zeigefinger gegen meine Brust zu rammen.

„Ein Protagonist in diesem Format muss leiden. Er muss ein Wechselbad der Gefühle durchleben und bis zum Schluss überzeugt sein, dass die Chance, seinen vermissten Menschen wiederzutreffen, kleiner als eins zu einer Million ist. Da kannst du nicht einfach hergehen, diesem Typen übers Köpfchen streicheln und Kaffee servieren.“

„Schon klar, Hermann, ich werde mich dran halten.“

Der Druck seines Fingers ließ nach.

Ich vermied, ihm in die Augen zu sehen, da er sicherlich in meinem Blick lesen konnte, dass ich hauptsächlich darauf bedacht war, dass er mich in Ruhe ließ.

Hermann riss mir den Kaffeebecher aus der Hand und leerte ihn auf den Rasen, auf dem wir standen.

Genauso so demonstrativ, wie der gestiefelte Kater es getan hätte.

Einfach, um mir zu zeigen, dass er es konnte.

 

Der gestiefelte Kater.

Hermann.

Dann wieder der gestiefelte Kater.

 

Je länger ich darüber nachdachte, desto mehr verschmolzen sie zu einer Person, der daran gelegen war, mich scheitern zu sehen.

 

„Neunundneunzig Prozent aller vermissten Menschen leben da draußen ihr Ding, nur eben, dass der Kontakt zu ihrer früheren Bezugsgruppe abgebrochen ist. Oder vielmehr, dass sie ihn abgebrochen haben“, führte Hermann aus. „Für mich sind das alles Schweinehunde. Warum? Weil sie mir eine Menge Arbeit machen. Telefonate, Recherche, Flüge, Mietwagen und bis kurz vor Schluss können sie noch abspringen. Ich hasse diese Menschen.“ Hermann stampfte mit dem Fuß dort auf, wo er den Kaffee vorher hin entsorgt hatte. „Ich hasse sie.“

Der Boden gab einen schmatzenden Laut ab, einige Spritzer Kaffee stoben umher.

Als ich es endlich über mich brachte, ihn anzuschauen, sah ich einen dünnen Spuckefaden, der von seiner Unterlippe herunterhing, genauso wie der gestiefelte Kater, wenn er sich in Rage geredet hatte und kurz davor war, mit seinen klobigen Arbeitsschuhen nach mir zu treten.

 

„Aber weißt du was? Ich hasse auch die anderen, die abends in ihr Kissen heulen, weil man sie verlassen hat oder weil sie kurz nach der Geburt getrennt worden sind. Verdammte Weicheier, die keinen Arsch in der Hose haben, ihr Leben in die Hand zu nehmen.“ Er verstellte seine Stimme: „Mein sehnlichster Wunsch ist, meine ex-Verlobte Marlen wiederzusehen, sie hatte rote Haare und kam aus Gütersloh, mehr Informationen hab ich leider nicht.“ Dann wieder in normalem Ton: „Ich mache dieses Format jetzt schon lange genug, um zu wissen, dass ich verdammt gut bin. Ich interpretiere Lebensentwürfe und erzähle Beziehungsgeschichten aus einem neuen Blickwinkel. Ich betone und lasse weg, baue Höhepunkte und Cliffhanger ein. Ich schaffe sozusagen ein Kunstwerk. Und damit das so bleibt, haben alle ihre Aufgabe zu erfüllen. Was glaubst du, ist deine Aufgabe, Simon?“

Ich zuckte innerlich zusammen, er wartete auf ein Statement von mir, und egal, was ich sagte, er würde es zerlegen.

Sein Schnäuzer hatte nicht nur dieselbe Form wie der des gestiefelten Katers, auch in Dichte und Farbe glichen sich die beiden Gesichtsbehaarungen.

Ich fixierte einen Punkt auf seinem Nasenrücken, um ihm nicht direkt in die Augen schauen zu müssen. Gleichzeitig merkte ich, wie sich mein Herzschlag beschleunigte.

„Meine Aufgabe besteht darin, Oliver im Blick zu behalten, aber keine emotionale Nähe zu ihm herzustellen. Durch ein paar gezielte Kommentare mache ihn heiß auf die Begegnung. Dann kommst du irgendwann dazu und zerstörst seine Hoffnungen, zumindest vordergründig. Er fällt in ein tiefes Loch. Ich ziehe mich zurück und du verkündest ihm, dass Lara hinter der Hecke auf ihn wartet. Kamera-fade.“

 

Für einen Moment dachte ich, Hermann würde sich ein Lächeln abringen. Stattdessen brummte er: „Warum denn nicht gleich so? Ach, Simon, bringst du mir bitte eben einen Kaffee zu meinem Trailler rüber?“

Ich sah ihm hinterher, wie er zu seinem Wohnwagen schlurfte.

„Oh, was für ein Arschloch“, raunte mir der Catering Truck Angestellte zu. „Ich habe immer gedacht, diese Produktion kommt von Herzen.“

„Nein. Du hast ja gehört, es geht darum, jemandem ein Krebsgeschwür einzupflanzen und sich dann selbst zu applaudieren, wenn man es wieder entfernt. Das ist verdammt krank. Und hat nichts mit Kreativität zu tun.“

„Weißt du, was ich denke? Er sollte tot sein.“

Ich fragte: „Wie, tot?“

Er machte eine kurze Bewegung mit der Hand an seinem Hals entlang.

„Du machst Witze.“

„Nein, Simon, ich meine es ernst.“

„Woher kennst du meinen Namen?“, stutzte ich.

„Jeder hier kennt deinen Namen“, beschwichtigte er.

Mich ergriff ein leichter Schwindel. Also hielt ich mich am Gestänge des Trucks fest.

„Langsam“, sagte ich, „ganz langsam. Wer bist du?“

Er schob sich ein Stück Gebäck in den Mund, kaute kurz und erklärte: „Nenn mich von mir aus Das Tugendamt.“

Mir fiel auf, dass die Sonne nicht mehr ganz so hoch am Himmel stand.

Wie lange hatte ich mit Hermann geredet?

Ich wusste es nicht.

Aber es konnten nur Minuten gewesen sein.

Dafür war der orangefarbene Himmelskörper doch reichlich schnell gewandert.

 

„Da haben wir ja unsere treulose Tomate.“

Ich blinzelte und sah Oliver vor mir stehen.

„Ach, du, sorry“, griff ich an seinen Arm, „ich habe dich total vergessen.“

„Mach dir nichts draus, ich bin okay. Vielleicht ein bisschen Krebs hier drinnen“ – er führte meine Hand an seine Brust und dann an seinen Bauch – „aber den entfernst du mir ja gleich.“

„Hör zu, Oliver, es tut mir leid.“

„Du musst dich nicht entschuldigen“, lächelte Oliver meine Bedenken weg, „was du aber musst, ist dies hier nehmen.“

Er steckte mir eine Pistole zu, die so klein war, dass sie bequem wie ein iPhone in der Hand lag.

„Was soll ich damit?“

„Mach dir keine Sorgen“, beruhigte mich Oliver, „ich spreche deine Sprache. Er übrigens auch.“ Er deutete auf den Mann hinter dem Catering Truck.

Die Sonne war inzwischen eigenartiger Weise entgegen dem Uhrzeigersinn Richtung Nord gewandert.

„Hier stimmt etwas nicht“, entfuhr es mir.

„Wieso? Was soll denn nicht stimmen?“, fragte Oliver, griff gen Himmel, nahm die Sonne herunter und steckte sie sich in den Mund. Wie viele vor ihm küsste er mich, aber diesmal spürte ich, wie der glühend heiße Feuerball zwischen meinen Lippen herglitt, meine Kehle hinunterwanderte und mich mit einer Wärme erfüllte, die ich noch nie empfunden hatte.

„Du kannst jetzt gehen“, erklärte mir der Mann hinter dem Catering Truck.

Oliver dirigierte mich ein Stück und blieb dann zurück, während ich auf die Hecke zuging.

 

 

„Lara!“, sagte ich, und war überrascht, dass meine Stimmen nicht erstaunter klang. Sie schenkte mir eine kurze Umarmung und bat mich, ihr in ein Camping Mobil zu folgen, das mit der aufwendig gestalteten Folierung „Beichte to go!“ beschriftet war.

Uns trennte eine semitransparente spanische Wand, hinter der ich ihr Konterfei gerade noch erahnen konnte.

„Vergib mir, Schwester, denn ich habe gesündigt“, erklärte ich, da ich der Meinung war, es würde von mir erwartet.

„Esistinordnung“, antwortete sie mit einer mechanischen Stimme.

Ich war gerade im Begriff, mich zu erleichtern, Lara zu beschreiben, wo sie die Überreste des gestiefelten Vaters, wo die Waffe finden würde, als ich plötzlich innehielt, mir die Frage stellte, seit wann Frauen die Beichte abnehmen durften, egal, ob in einem Gotteshaus oder to go.

Ich presste mein Auge an das Gewebe der Wand.

Wie in Zeitraffer sprossen Haare aus der Haut über Laras Oberlippe und verdichteten sich zu einem Bart, dessen Form ich kannte.

 

Hasste.

 

Fürchtete.

 

Ich schloss die Augen, steckte mir einen Finger in den Hals und erbrach die Sonne, die in meiner Hand zu einem Häufchen Asche verglühte.

Als nächstes nahm ich die haptisch so ansprechende kleinkalibrige Waffe und hielt sie mir an die Schläfe.

Bevor ich den Finger krümmen konnte, öffnete Gott die Schiebetür.

Ich freute mich, ihn kennenlernen zu dürfen.