Von Carina Heinreichsberger
Es ist dunkel. Ich sehe nichts. Vom anderen Zimmer höre ich Gespräche. Gelächter.
Lilly hat heute mal wieder Freunde zu sich eingeladen. Schön, dass sie zu so einem offenen, gutherzigen Menschen herangewachsen ist. Noch schöner wäre es, wenn ich an ihrem blumigen Wesen teilhaben dürfte.
Doch die Zeiten sind wohl vorüber.
Staubig ist es hier auch. Und stickig. Auf meiner Nase liegt eine graue flaumige Schicht der Vergessenheit. Auch auf meinen Schultern. Meinen Beinen.
Früher war ich Teil dieses Gelächters. Ja, ich bin sogar der Grund dafür gewesen! Wie hatte sich das alles verändern können? Liebt sie mich nicht mehr? Bin ich wirklich so entbehrlich für sie?
Ich spüre, dass ich nicht der einzige mit diesen Gedanken bin. Ein endloses Warten herrscht hier. Warten auf bessere Zeiten. Angst, dass sie nicht kommen. Trauer darüber, dass wir unseren Sinn nicht ausüben können.
Die Stimmen kommen näher. Die Türe öffnet sich.
„Es ist soooo cool, dass du jetzt eine Wii hast! Meine Mama will mir einfach keine kaufen!“, freut sich eine von Lillys Freundinnen. Vermutlich Mia.
„Ja, ich bin so glücklich! Ich hab‘ schon ewig keine neuen Spielsachen mehr bekommen!“, stimmt Lilly in den Freudeschwall mit ein.
„Schade, dass wir immer nur eine Stunde spielen dürfen“, meint Alex. Ich wette, Lilly zuckt jetzt mit ihren Schultern und setzt ihr fröhlichstes Lächeln auf. Dann höre ich sie sagen, dass dies eben die Abmachung ist, die sie mit ihren Eltern getroffen hatte.
Die Freunde werfen sich aufs Bett. Staubkörner und Brösel rieseln in die Kiste darunter und landen als weitere Schicht auf meinem Kopf. Es ist beschämend. Demütigend. Der Dreck auf meinem Körper spiegelt wider, wie sehr ich bereits zur Erinnerung geworden bin.
Meinen Namen nimmt sie nicht mehr in den Mund.
Wenn sie über mich spricht, dann nur in allgemeinem Ton. „Meine Spielsachen“, sagt sie dann. Wie sehr wünsche ich mir, noch einmal ihre funkelnden Augen zu sehen. Mit ihrer liebevollen Stimme meinen Namen sagen hören. Ihre zarten Finger auf meinem Kopf spüren.
Ich will, dass sie mich hochhebt, den Staub von mir abputzt. Mich an sich drückt. Mir dieselbe Liebe entgegenbringt, die sie mir früher tagtäglich geschenkt hat. Ich habe es immer als selbstverständlich angesehen. Hätte mir in meinen tiefsten Alpträumen nicht ausmalen könne, dass mein Leben einmal so wird. Dass sie mich vergisst. Dass ich ihr egal werde.
Wieder spüre ich eine bestätigende Gefühlswelle der anderen. Wir können uns nicht bewegen. Wir existieren nur, weil wir von ihr zum Leben erweckt wurden. Hätte sie uns keine Namen gegeben, dann wären wir jetzt nicht hier. Andere – jene, die am tiefsten unten in der Kiste liegen, haben nie einen Namen bekommen. Sie spüren jetzt die Verzweiflung nicht, die wir anderen empfinden. Mit jedem weiteren Tag beneide ich sie mehr.
„Hast du eigentlich noch deine Stofftiere von damals?“, fragt Alex plötzlich.
„Wir haben meine jetzt am Flohmarkt verkauft. Mit dem Geld hab‘ ich mir gleich zwei neue Spiele kaufen können!“, prahlt Mia. Ich stelle mir vor, wie Alex mit seinem emotionslosen Gesicht bestätigend nickt. Denn das nächste was er sagt ist, dass er seine verschenkt habe.
„Ich hatte irgendwie ein schlechtes Gewissen. Ich spiele ja nicht mehr mit ihnen. Jemand anderer freut sich vielleicht über sie. Wär‘ doch schade darum…“, murmelt er beinahe schüchtern.
Lilly sagt nichts. Plötzlich spüre ich einen Ruck. Licht bricht durch die geflochtene Kiste hindurch und taucht uns zum ersten Mal seit Jahren wieder in Farbe. Lila. Ich hatte vollkommen vergessen, dass ich lila bin. Hatte mir eingebildet, ich wäre blau. Sieht im Dunklen ja auch völlig gleich aus.
Der Deckel hebt sich.
Drei neugierige Gesichter linsen uns an. Wir starren mit aufgesetzten lächelnden Mündern zurück. Neben mir blitzt in jemandem ein Schimmer von Hoffnung auf. Wie eine Seuche verbreitet sich das Gefühl.
Ich wehre mich dagegen. Sie macht die Kiste ja doch wieder zu! Und das würde weitere Jahre der Vergessenheit und des Schmerzes mit sich bringen! Oh hätte sie mir doch bloß nie einen Namen gegeben! Wieso? Wie kann man so gefühlskalt sein?!
„Oh mein Gott, Leo! Dich hab‘ ich ja vollkommen vergessen!“, ruft Lilly. Ihre Hand kommt auf mich zu. Doch sie greift nicht nach mir. Ich werde etwas zur Seite geschoben. Ein roter Löwe zwei Stofftiere neben mir wird aus der Kiste gezogen. Der Glückspilz.
„Weißt du noch, wie wir immer gespielt haben, dass Leo ein Fell aus Flammen hat?“, ruft Lilly begeistert. Ihre Augen funkeln. Sie befreit Leos Fell vom Staub. Hebt ihn ins Sonnenlicht. Ich spüre, die tiefe Sehnsucht, die in Leo aufsteigt. Wenn er könnte, würde er vor Erleichterung weinen.
Doch er ist ein Stofftier.
Also starrt er mit seinem Löwengrinsen in die Sonne und genießt jede Millisekunde von Lillys Berührung. Behutsam setzt sie ihn auf ihr Bett. Dann greift sie nach dem nächsten. Diesmal ist Rob der Leopard dran.
Danach Linda, die Schnecke.
Hugo, der Affe.
Rosalinde, der pinke Elefant.
Wow.
Ich hatte nicht geahnt, dass ich so weit unten auf Lillys Liste stehe. Plötzlich greift eine Hand nach mir. Diesmal wirklich.
„Ohaaa, ist das nicht Rufus?“, ruft Alex plötzlich. Seine Hand umfasst meinen Arm vorsichtig und zieht mich aus der Kiste. Die plötzliche Wärme der Sonne erwischt mich eiskalt. Ich wehre mich gegen dieses wohlige Gefühl, das in mir aufkeimt. Je mehr mein Herz jetzt auftaut, umso schlimmer wird es später sein, wenn es wieder einfriert. Wenn ich wieder zurück in die Dunkelheit gesteckt werde.
„Ich wusste gar nicht, dass du den hast“, setzt Alex fort. „Ich dachte immer, das wäre mein Stofftier gewesen!“ Lilly lacht. In ihren Augenwinkeln bilden sich Tränen. Nicht vor Traurigkeit, natürlich. Ihre Augen funkeln wie Diamanten. Sie ist noch immer so schön wie immer. Ihr feines braunes Haar fällt ihr auf die Schultern wie früher. Ihre Nase ist etwas länger und die niedlichen Sommersprossen scheint sie mit einer Schicht aus Puder überdeckt zu haben.
Zum Glück ist sie sonst nicht geschminkt. Anders als Mia. Doch Mia ist mir in dem Moment eigentlich egal.
Verdammt.
Jetzt ist es doch passiert.
Ich spüre dasselbe, das Leo zuvor gespürt hatte. Traurigkeit. Erleichterung. Sehnsucht. Mein Herz droht zu zerspringen. Ich will doch einfach nur von ihr wahrgenommen werden! Eine kleine Berührung würde schon reichen!
Plötzlich wischt mir jemand den Staub vom Kopf. Ganz behutsam. Hebt mich hoch. Betrachtet mich. Sieht mich voller Nostalgie an. Alex.
Habe ich dem Jungen schon immer so viel bedeutet?
Wie in Zeitlupe sehe ich seine Brust näherkommen. Dann drückt er mich sanft an sich. Schließt sogar die Augen. Sofort sprudelt die tiefe Freude, die er empfindet, auf mich über. Vermischt mit Sorge und Angst, mich irgendwo verloren zu haben.
Mia lacht, als sie sieht, wie emotional mich Alex an sich drückt. „Ich wusste gar nicht, dass du noch immer mit sowas spielst!“, prustet sie und verschluckt sich an ihren eigenen Worten.
Doch Alex lässt sich nicht beirren. „Pff… Das hat doch damit gar nichts zu tun“, murmelt er. Alles Weitere ignoriert er. Er rechtfertigt sich nicht. Stattdessen sieht er mich lächelnd an. Ohne sich von mir abzuwenden, fragt er Lilly: „He, ist es okay, wenn ich ihn mitnehme?“ Ich spüre, dass ich ihn an bessere Zeiten erinnere.
Lilly zuckt mit den Schultern. „Klar, bei mir liegt er ja eh nur in der Kiste.“ Dann wendet sie sich wieder Leo zu. Er bekommt jetzt einen ganz besonderen Platz: Auf ihrem Nachtkästchen neben dem Bett.
Ich werde vorsichtig auf den Boden gesetzt.
Dann wühlen die Freunde weiter in der Kiste herum, bis auch das letzte Stofftier aus den Fängen der Dunkelheit befreit ist. Drei weitere Stofftiere finden ihren Platz auf Lillys Nachtkästchen und dürfen fortan von dort aus über ihren Schlaf wachen.
Lilly beschließt, es ihrer Freundin Mia gleichzutun, und will die Stofftiere – meine Leidensgenossen – am Flohmarkt verkaufen. Alle, die keinen neuen Besitzer finden, will sie dann aber wie Alex spenden.
Und ich? Ich komme mit zu Alex. Nicht in eine Kiste. Nicht aufs Nachtkästchen. In ein echtes, warmes, kuscheligweiches Bett.
~*~ Version 2 (keine inhaltliche Veränderung) ~*~