Von Helga Rougui

– Vermisst wird ein Traum – der Traum, den sie schon lang hätte leben können, dachte Mareann, wenn sie an das gelbe Haus mit der großzügigen Fensterfront im ersten Stock dachte, das – an den Abhang geschmiegt, mitleiderregend renovierungsbedürftig, erbärmlich Wasserleitung, Gastank und sonstige Infrastruktur-Eingeweide an seiner Rückseite nach außen gekehrt – aussah wie um 1800 erbaut, was es wohl auch war – und das es nun nicht mehr gab.

 

Jahrelang ein Ort ferner Sehnsucht, regelmäßig besucht, jedesmal ein wenig mehr dem Verfall preisgegeben, war es eines Tages nur noch zur Hälfte vorhanden, das „FOR SALE“ – Schild mit Adresse und Telefonnummer des Maklers lag achtlos am Boden, der Abriß hatte begonnen, die von Dornenranken eines Rosenstrauchs überwucherte Eingangstür war weggefressen von den gierigen Zähnen eines Baggers, war es ein Bagger, sie wußte es nicht, sie sah nur, daß ihr Traum – schon zur Hälfte zermalmt – dabei war, ganz und gar zu verschwinden.

 

Kann man eine Vermißtenanzeige für ein Haus aufgeben?

Für einen Traum?

Für ein Leben, aus Feigheit verlegt?

 

Wohl nicht.

Was einmal ganz und gar zerstört, wird sich nicht wieder finden lassen.

 

***

 

Es hatte nie ernsthaft zur Debatte gestanden, dieses kleine gelbe Haus zu kaufen, das, etwas  abseits der Uferpromenade – aber nicht allzu sehr – fußläufig gelegen zu einem der besten Pubs mit den besten Fish n’Chips der Insel -, aussah, als hätte Jane Austen darin gewohnt.

In ihm fokussierte sich die Liebe, die sie diesem Eiland entgegenbrachte, das ihr Zuflucht, Rückzugsort und Versteck zugleich war, ein Ort, der ihr die Losgelöstheit von ihrem alltäglichen Leben garantierte, die sie nirgendwo sonst gefunden hatte.

Und das Haus – es wäre die Heimat für ihr Gefühl der Heimatlosigkeit gewesen, hätte sie nur mehr Mut besessen.

 

Mareann ging langsam den Waldweg entlang, schob den Rollator vorsichtig über Moos und Wurzeln der Bäume, die rechts und links aufragten. Es roch würzig und ein wenig nach moderndem Laub. Ihre Gehstöcke  balancierten unsicher auf der Sitzbank, aber sie hatte nichts weiter zu tun als sie festzuhalten, also ging sie voran, wenn auch langsam, aber alle Langsamkeit war besser als Stillstand.

 

Diese Idee hatte sie veranlaßt, scheinbar festgefügte Bindungen zu lösen und das Haus in der Stadt zu verkaufen, in dem sie seit zwanzig Jahren gewohnt hatte. Dafür hatte sie eines erworben, das  – wenn schon nicht am Meer, sondern am Waldrand gelegen – ein wenig ihrem verrückten Traum von Neuheit und Einsamkeit entsprach.

 

Sie wußte, daß sie mit der Aufgabe des Erbes etwas zerstörte, das ihre Eltern für sie aufgebaut hatten, aber ihre Eltern waren tot, die Vergangenheit schon lange und sie bald auch.

Bis dahin würde sie ihre eigene Zukunft leben, solange es ging.

 

Vor dem Tod ist alles möglich, danach nichts mehr, hatte sie gedacht und endlich gehandelt.