Von Andrea Fröhlking

Elsbeth stemmte sich mühsam in die Höhe. Sie nestelte an ihrer Bluse und strich den Rock glatt, bevor sie aufbrach. Die Handtasche hielt sie fest umklammert. Die 80-Jährige lief langsam. Sie hielt den Blick auf den Boden gerichtet. Zur Kirche wollte sie, das wusste sie noch. Hier saßen so viele Menschen herum, die sie gar nicht kannte. Wo war sie überhaupt?

Die Seniorin hielt kurz an und blickte sich um. Wo ging es noch zur Kirche? Verstört blieb sie einen Moment stehen. Dann sah sie eine junge Frau, die an ihr vorbeieilte. Elsbeth lief ihr nach, so schnell sie konnte. Niemand achtete auf sie. Auch, als sie die Frau aus den Augen verloren hatte, hielt sie die Richtung bei.  Sie lief durch lange Flure, an vielen Türen vorbei. Die Kirche war ihr Ziel. Die Kirche kannte sie.

Als sie in eine große Halle kam, stockte sie. Erneut achtete niemand auf sie, die alte Frau, adrett gekleidet mit toupierten Haaren. Es gab Männer hier und Frauen, die sich unterhielten, aber keiner sprach sie an. Einem Impuls folgend, ging Elsbeth nach draußen. Die Eingangstür öffnete sich wie von Zauberhand mit einem satten Plopp. Hier war es kälter, aber sie ließ sich nicht beirren. Ihr Kopf wackelte leicht hin- und her, als sie voranschritt, den Blick immer noch fest gegen den Boden gerichtet.

Nach einiger Zeit fand sie sich in einer großen Straße wieder. Immer mehr Menschen liefen an ihr vorbei. Rechts und links nahm sie aus den Augenwinkeln bunte Lichter wahr. Wo war noch die Kirche? Elsbeth hielt inne. Sie wusste nicht, wohin. Also lief sie einfach weiter geradeaus. Das Gehen auf dem Kopfsteinpflaster fiel ihr schwer. Einmal stolperte sie und stürzte fast, doch sie fing sich wieder. Als sie zu einer Ampel kam, machte sie es den anderen gleich. Sie hielt an. Inzwischen atmete sie lauter. Ihr verwachsener, großer Zeh drückte gegen den Schuh. Elsbeth hatte Schmerzen. Sie hielt Ausschau nach einer Bank, auf die sie sich setzen konnte. Wenig später entdeckte sie eine, besetzt durch ein junges Pärchen. Das Mädchen saß auf dem Schoß des Jungen. Bereitwillig rückten die beiden auf, als sie mit schlurfendem Gang näherkam. Jetzt konnte sie sich ausruhen. Ein schwarzer Hund beäugte sie neugierig.

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Auf Station eins wurde das Abendessen verteilt. Pfleger in blauen Kitteln öffneten Tür um Tür und stellten Tablette mit Tellern auf die Tische in den Zimmern der Bewohner. Es gab Graubrot mit einer Scheibe Käse und Schinkenwurst, ein Schälchen Quark mit Marmelade und hier und da einen Apfel oder ein paar Gürkchen.

„Geht es Ihnen gut, Frau Richter?“
„Sie sind ja immer noch nicht fertig, Frau Schmieder.“
„Herr Klausmeyer, sie sollen doch auf ihrem Zimmer nicht rauchen!“
„Frau Lehmann, Abendessen!“ Mit einem Klopfen an die Badezimmertür unterstrich der Pfleger seine Aufforderung, bevor er das Zimmer verließ.

Innerhalb weniger Minuten war alles verteilt. Die Pfleger setzten sich ins Büro. Durchatmen. Zeit für einen kleinen Plausch.

„Wer hilft Frau Kornbach und Herrn Wilde?“ Die Stationsleitung Angela blickte in die Runde.
„Das macht Lea.“, gab Ben gelangweilt zur Antwort, bevor er sich eine Zigarette anzündete und den Raum verließ, bevor die anderen meckern konnten.

Angela rief ihm hinterher: „Ihr sammelt aber ein, Ben und Carla. Der Rest fängt an mit seiner Runde. Seht bitte zu, dass ihr euch beeilt. Ich muss heute Abend früher gehen.“ Angela schaute auf ihre Uhr. „Vielleicht können wir die Übergabe dieses Mal zügiger durchziehen.“

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Elsbeth fror. Wo war sie? Irgendetwas stimmte nicht. Es wurde langsam dunkler. In der Ferne hörte sie Glocken läuten, doch nichts regte sich in ihr. Sie hatte vergessen, warum sie auf der Bank saß. Sie hatte auch vergessen, wohin sie wollte. Mit kalten Fingern öffnete sie ihre Handtasche und sah sie durch. Ein spitzenbesetztes Taschentuch fiel ihr auf. Sie strich mit ihren faltigen Händen sorgsam darüber. Es kam ihr bekannt vor. Mit leerem Blick schaute sie wieder auf.
Weil es kälter wurde und dunkler, stand sie auf. Jetzt folgte sie einer Mutter mit ihrem Kind, war aber wenig später wieder allein. Sie zitterte. Verloren schaute sie durch Fenster, hinter denen Familien zu Abend aßen. Die Straßenlaternen gingen an und sie sah viele Autos, die an ihr vorbeifuhren. Schwerfällig lief sie weiter geradeaus. Bald konnte sie nicht mehr und war froh, wenig später wieder auf eine Bank zu treffen. Es war ruhiger hier. Die Bank stand unter einer großen Eiche. Diese erinnerte sie an etwas, aber die Seniorin wusste nicht woran. Inzwischen zitterte sie am ganzen Körper. Ihre Lippen färbten sich blau. Sie wusste nicht, wo sie war.

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Im Pflegeheim wurde es ebenfalls ruhiger. Die Bewohner wurden für die Nacht vorbereitet. Als die Arbeit getan war, traf man sich im Büro zur Übergabe. Pflegerin Angela hatte es eilig. Mit einem Blick zur eingetroffenen Nachtschwester fragte sie in die Runde: „Alles in Ordnung? Gab es Probleme? Wenn nicht, würde ich jetzt gerne gehen. Kannst du, Ben, mit Barbara kurz alles durchgehen?“ Als dieser nickte, stand sie auf und verabschiedete sich.

Auch Ben fasste sich kurz. Er erklärte Barbara, was auf sie wartete. Herr Meyer hatte leichtes Fieber, auf ihn sollte sie ein Auge werfen, sonst würde es ruhig bleiben. „Ach ja. Frau Lehmann war noch im Bad. Sie macht sich selbst fertig, aber schau nochmal nach ihr.“

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Elsbeth saß auf ihrer Bank, inzwischen steif vor Kälte. Sie machte noch einen halbherzigen Versuch, aufzustehen, als sie spürte, zur Toilette zu müssen. Aber sie fiel sofort wieder zurück auf die vermoosten Holzlatten und ließ es einfach laufen. Das warme Rinnsal belebte sie und ihre erkalteten Oberschenkel. Für einen kurzen Moment war sie beunruhigt. Warum saß sie hier allein in der Dunkelheit? Sie hatte Hunger und ihr war so kalt, dass sie sich kaum noch spürte. Mit letzter Kraft hauchte sie einen Hilferuf hinaus. Und noch einen, doch ihre brüchige Stimme erstarb sehr schnell. Müde sackte sie zur Seite und schloss ihre Augen.

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Es war 23 Uhr, als Schwester Barbara bemerkte, dass Frau Lehmann nicht in ihrem Bett lag. Sie seufzte, musste sie doch jetzt nach ihr suchen. Die Lämpchen von Herrn Schmidt und Frau Ruhmöller leuchteten rot. Sie würde sich zuerst darum kümmern. Danach würde sie suchen. Wer weiß, wo Frau Lehmann heute wieder steckte? Es wurde Mitternacht, als die Nachtschwester endlich anfing die Flure abzulaufen und in jedes Zimmer zu schauen. Doch Frau Lehmann blieb verschwunden.

Sie war auch nicht auf den anderen Stationen zu finden. Barbara hatte alle Nachtschwestern des Hauses informiert. Es war kurz vor 2 Uhr, als sie endlich die Leitung des Altenheimes informierte. Eine Stunde später rollte die Suchaktion nach der Vermissten an. Es dauerte aber noch weitere 5 Stunden, bevor eine aufgelöste Mutter bei der Polizei folgende Meldung durchgab: „Auf dem Weg zur Schule hat unser Sohn eine tote Frau auf einer Bank im Stadtpark entdeckt.“

5 Minuten später kündigten Sirenen die Ankunft von Rettungskräften an. 2 Sanitäter und ein Polizist erreichten die Frau auf der Bank. Ein schwarzer Hund hatte sich an ihrer Seite eingerollt. Er bellte laut, als man sich ihm näherte.

Seine Körperwärme hatte die alte, unterkühlte Frau gerettet.

 

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