Von Yvonne Heinrich

„Wieder kein Besuch“, murmelte sie und huschte leise von ihrem Platz am Fenster davon. Die Frühlingssonne kitzelte ihre Nase, als sie sie eilig streifte. Ein zarter Gruß. Eine Erinnerung an bessere Tage, zusammen mit ihrer Familie. Ihre Hände berührten ihre Schürze. Blumenmuster, so wie sie es am liebsten hatte. Ihre müden Füße schmerzten sie in letzter Zeit, weswegen sie sehr viel in ihrem Wohnzimmer ruhen musste. „Dass sie mich solange nicht sehen wollen?“ Es war ihr unbegreiflich, wie alle auf sie vergessen konnten. Immerhin war sie es doch gewesen, die immer aufgepasst und gekocht hatte. Die Lieder gesungen und Abenteuer angeführt hatte. Als sie auf dem Weg in die Küche an ihrem Spiegel im Vorraum vorbeikam, der nach all den Jahren immer noch stolz den Sprung trug, den ihre Enkelin im zarten Alter von fünf Jahren mit einer Kette verursacht hatte, sah sie sich selbst an. Sie schaute sich in die Augen, grün wie die Wiese. Doch war es nicht ihr Gesicht, das sie sah. Sie wusste nicht, wie sie sich diese alte Frau erklären sollte, deren Haare zu Berge standen. Die Schürze war bekleckert, das Blumenmuster kaum noch zu sehen. Die Schuhe passten nicht zusammen. Die Haut spannte über hervortretende Knochen. Und immer war da diese gelbe, flauschige Decke, die ihr jemand über die Schultern legte, als ob sie selbst nicht genau wüsste, wann ihr zu kalt oder zu warm war. Da sie keine Worte für die fremde Frau im Spiegel hatte, wandte sie ihren Blick ab. „Ich habe noch nicht nachgeschaut, ob sie heute kommen!“, ermahnte sie sich und eilte zu ihrem Platz am Fenster zurück.
„Wieder kein Besuch“, murmelte sie nach einer Weile. Die Sonne strich ihr über das ergraute Haar, als wollte sie die alte Frau trösten. Immerhin wusste sie, dass sie an diesem schönen Frühlingstag, einem Dienstag, noch mehrere Male zu ihrem Platz am Fenster, der die ganze Straße überblickte, zurückkehren und auf Besuch hoffen würde. „Dass sie mich so lange nicht sehen wollen? Fehle ich ihnen denn gar nicht?“ Sie verstand es nicht, wie nicht einmal ihre Freundinnen, mit welchen sie so unzählige Momente lachend geteilt hatte, sie besuchen kamen. Es musste bereits über drei Monate her sein, dass sie mit ihnen Eis essend im Schwimmbad auf der Wiese gesessen hatte. Dass dieses Treffen bereits vor fünf Jahren war, wusste sie nicht mehr. Sie drehte der Straße den Rücken zu und erklomm die letzten zwei Stufen. Dann stand sie wieder im Vorraum, der kalte Fliesenboden ließ ihr eine Gänsehaut über die Arme laufen. Die gelbe Decke spürte sie nicht. Wieder fiel ihr Blick auf die alte Frau im Spiegel und wieder wusste sie nicht, wer ihr daraus entgegenblickte. Sie wollte gerade ihren vertrauten Platz am Fenster einnehmen, um zu schauen, ob heute endlich Besuch käme, als eine sanfte Hand sie berührte. Bestimmt griff sie zu und ließ der alten Frau nichts anderes übrig, als in eine bestimmte Richtung zu gehen. In eine Richtung gelotst zu werden. In die Küche. „Setz dich doch hin, Oma“, sprach eine leise Stimme. Es war eine weibliche Stimme, ein hübscher Klang. „Oma?“, dachte die alte Frau, „wieso nennt mich dieses Mädchen so? Meine Enkel sind zuhause, schauen ganz anders aus.“ Die alte Frau wüsste, wenn ihre Enkel hier wären. Jeden Tag wartete sie darauf, dass sie sie endlich besuchen kämen. Es musste bereits über drei Monate her sein, dass sie sie das letzte Mal gesehen hatte. Zu müde waren ihre Füße, um den kurzen Weg zu ihnen nach Hause zurückzulegen. Dass ihre Enkelinnen sie beinahe jeden Tag besuchten, wusste sie nicht. Viel zu groß waren sie in den letzten fünf Jahren geworden, viel zu klein waren sie in der Erinnerung ihrer Großmutter. Dass die Haustüre verschlossen blieb, da sie den Weg nicht mehr fand, wusste sie nicht. Dass sie zuvor oft stundenlang einsam durch die Straßen geirrt war, wusste sie nicht. Dass die alte, zerbrochene Frau im Spiegel sie selbst war, wusste sie nicht. Gewiss war ihr nur, dass sie darauf wartete, endlich besucht zu werden. Sie vermisste ihre Familie. Dass ihre Familie vor ihr stand und sie ebenso sehr vermisste, wusste sie nicht. „Wer sind Sie?“, fragte die alte Frau unterdessen. Ihre Frage klang barsch, distanziert. Sie verstand nicht, weshalb sich Tränen in den Augen der fremden Frau sammelten. Immerhin kannte sie sie nicht. „Wie kommen Sie in mein Haus?“ Die Stimme wurde schrill. „Aber ich komme doch immer“, entgegnete das Mädchen mit den blonden Haaren. Hübsche Augen hatte sie und Sommersprossen. „Wie von der Sonne geküsst“, dachte die alte Frau. „Niemand kommt. Niemand den ich sehen möchte. Ich warte schon so lange.“ Stille. Sie füllte den Raum, füllte ihn vollständig aus. Klebte wie alter Kaugummi, zäh und losgelöst von sämtlichem Geschmack. Heftete sich an die Kleidung und drang durch bis zu den Knochen.  Die alte Frau wand sich nach einer Weile aus dem Griff und taumelte zurück, hinaus aus der Küche, weg von ihrer Enkelin, zum Fenster. Zu ihrem vertrauten Platz. „Ich habe noch nicht nachgeschaut, ob sie heute kommen!“, ermahnte sie sich. Und wenig später flüsterte sie: „Wieder kein Besuch.“