Karl Kieser
Horst hat seit Monaten einen sporadisch wiederkehrenden Traum:
Sein Auto rollt rückwärts, allmählich schneller werdend, auf einer abschüssigen Straße. Er muss bremsen, aber irgendwie greifen die Bremsen nicht richtig. Verzweifelt tritt er mit aller Kraft auf das Pedal. Der Wagen wird immer noch schneller. Er versucht jetzt, nach hinten gewandt, das Auto auf der Straße zu halten, von der er immer nur einen kleinen Ausschnitt sieht. Die Angst vor der drohenden Katastrophe macht ihn hilflos. Es wird krachen, unabwendbar!
Bevor es dazu kommt, wird er regelmäßig wach, mit rasendem Herzen und kann nicht mehr einschlafen.
Träume beunruhigen Horst eigentlich nicht. Jedenfalls nicht im Sinne von Vorbedeutung oder so. Für ihn sind es nur Abfallprodukte aus der Wachphase, die das ständig aktive Gehirn mehr oder weniger chaotisch zusammenmixt. Normalerweise „verdunstet“ die Erinnerung daran ja auch mit dem Aufwachen.
Wie ist es nur möglich, dass Eindrücke, die er gerade noch bildhaft vor Augen hatte, Sekunden später unwiederbringlich gelöscht sind? Dieses Phänomen fasziniert ihn immer wieder.
Nur wenige seiner Träume halten sich nicht an diesen Standard. Dieser besondere, alptraumhafte, ist einer davon. Da er immer wieder, manchmal auch in leicht abgewandelter Form auftaucht, macht er sich doch Gedanken darüber.
Kann es sein, dass sein Unterbewusstsein ihn vor irgendetwas warnen will?
Das ist doch Unsinn. Er vermutet viel eher, dass der Traum mit einem Ereignis zu tun hat, das zwar schon Jahrzehnte zurückliegt, ihm aber gewaltig unter die Haut gegangen ist.
Damals sind sie an Wochenenden zum Skilaufen gern in die Rhön gefahren. Natürlich nur bei ausreichender Schneelage. Bei dieser einen unvergesslichen Rückfahrt – es war schon finster, durchgehende, festgefahrene Schneedecke, Gattin Giesela und ihre zwei Söhne abgekämpft im Auto – war er gerade dabei, auf die Autobahn aufzufahren.
Wie jedes Mal, wenn er sich dieses traumatische Erlebnis vor Augen hält, bricht ihm der kalte Schweiß aus. Alles ist wieder da.
Wie in einem Zeitsprung fühlt er sich zurückversetzt in die damalige Situation und durchlebt das erschreckende Geschehen erneut:
An der großzügigen Autobahnauffahrt ist gerade viel Platz. Die nächsten Scheinwerfer des wetterbedingt langsam fließenden Verkehrs auf der Autobahn noch weit entfernt. Die große Lücke mit reichlich Platz ist verführerisch. Nur schnell mal ausprobieren, wieviel dem Wagen bei diesen Verhältnissen wohl zuzumuten ist. Einmal kurz aufs Gas tippen und sehen wie er sich verhält.
Verdammt! Das war zu viel.
Er hatte nur mit einem leichten Schwänzeln gerechnet. Doch der große Wagen dreht sich, begünstigt durch die Fliehkraft in der geschwungenen Auffahrt um 180° und rauscht rückwärts, schräg über alle zwei Fahrbahnen, im spitzen Winkel auf die Mittelleitplanke zu.
Er hat längst automatisch die Kupplung getreten, sich im Fahrersitz herumgeworfen und versucht, die drohende Katastrophe abzumildern. Rückwärts steuernd, durch ganz zarte Lenkbewegungen, hofft er, den Wagen halbwegs in der Spur zu halten und nicht unkontrolliert über die Autobahn zu kreiseln.
Um Gottes willen, nur jetzt nicht bremsen oder höchstens sehr gefühlvoll.
Die näherkommende Leitplanke kann er nur erahnen, denn die Scheinwerfer zeigen in die falsche Richtung. Die nur als etwas hellerer Streifen angedeutete Leitplanke wird von tiefdunklen Schatten abgelöst, auf die der Wagen unaufhaltsam zu driftet. Inzwischen steht er doch mit steif durchgedrückten Knien voll auf der Bremse. Es wird trotzdem nicht reichen.
Und dann das erste Wunder. Der Wagen wird sanft von dem Gebüsch aufgefangen, das wie eine dunkle, massive Barriere ausgesehen hat. Die lackzerkratzenden Geräusche sind zwar nervtötend und scheinen nicht enden zu wollen, aber mehr geschieht nicht. Kein Bums, kein harter Stoß. Dafür kann er nun im Scheinwerferlicht das zum Teil plattgewalzte Gesträuch an der Beifahrerseite erkennen.
Keiner aus seiner Familie tut einen Mucks. Alle scheinen immer noch die Luft anzuhalten. Auch später konnte sich niemand von ihnen erinnern, etwa angstvolle Schreie ausgestoßen zu haben.
Aber was nun?
Der Wagen steht mit laufendem Motor in der verkehrten Richtung am äußersten Rand der Überholspur auf der Autobahn.
In dieser ausweglosen Situation bahnt sich das zweite Wunder an. Die Scheinwerfer des nachfolgenden Verkehrs sind immer noch weit entfernt. Es sieht sogar so aus, als ob sie auch kaum näherkommen. Augenblicke später kann er sehen, dass dort überall die Warnblinker aufleuchteten. Die anderen Autofahrer müssen die brisante Situation richtig erkannt haben. Dann folgen Blinksignale mit den Scheinwerfern. Das kann nur die Aufforderung an ihn sein, endlich wieder für normale Verhältnisse zu sorgen.
Immer noch stemmt er sich, mit zitternden Knien, sowohl aufs Kupplungs- als auch aufs Bremspedal.
Schnell jetzt. Für wehleidiges Nachbeben bleibt keine Zeit. Jedes weitere Zögern wird die Situation nur verschlimmern.
Blinker raus, einmal kurz Lichthupe für „Verstanden!“, erster Gang, Kupplung langsam kommen lassen.
Zögernd löst sich das Heck aus der Umklammerung des rettenden Gesträuchs. Die protestierenden Kratzgeräusche sind jetzt unwichtig und nur die Bestätigung, dass es vorangeht. Der Wagen kommt langsam herum, zeigt wieder in die Sollrichtung. Allgemeines befreites Aufatmen bei der gesamten Familie.
Seine tiefe Dankbarkeit für die umsichtige Reaktion der nachfolgenden Autofahrer hat er nie persönlich ausdrücken können. Auch noch Jahre später hat Horst es immer vermieden, sich mögliche Folgen seines unbedachten Bodenhaftungs-Tests ernsthaft auszumalen. Vermutlich hat er dieses Trauma nie wirklich verarbeitet und deshalb erinnert ihn sein Unterbewusstsein immer wieder daran. Die Ähnlichkeit zu dem Ablauf in seinem Traum, aber vor allem seine jämmerliche Angst beim Rückwärtssteuern ohne Kontrolle, sind doch wohl eindeutig genug?!
Aber warum diese Erinnerung erst jetzt, Jahrzehnte später?
Seiner Giesela erzählt er davon natürlich nichts. Weder von dem wiederkehrenden Traum noch von seiner möglichen Erklärung dafür. Ist ja nur ein alberner Traum. Doch eines Tages ragt der Alptraum bis in seine Wirklichkeit hinein.
Auf dem Lande muss Horst eigentlich nie klassisch einparken. Das hat er auch seit Jahren nicht mehr gemacht. Meist achtet er sogar darauf, dass er nicht einmal rückwärts aus einer Parkbox ausfahren muss.
Horst ist inzwischen 82 und seine Beweglichkeit schon stark eingeschränkt. Der Schulterblick gelingt ihm nur noch ansatzweise und rückwärts geht es nur im blinden Vertrauen auf die Hecksensoren.
Der aktuelle Mercedes ist daher mit allen erdenklichen Hilfsmitteln ausgestattet und hat auf Gieselas Wunsch ein Automatikgetriebe. Im Alter wollen sie es sich endlich leichter machen.
Wenn Horst zu seiner wöchentlichen Massage fährt, gibt es dort auf dem benachbarten Parkstreifen immer große Lücken. So ist es auch diesmal. Der freie Platz reicht für mindestens drei PKW.
Horst schert problemlos in die Lücke ein. Da er sich für die spätere Abfahrt nach vorne gerne Platz lässt, will er anschließend – rückwärtsfahrend – die Lücke zu den zwei hinter ihm parkenden Autos schließen.
Es kommt der Zeitpunkt, an dem er, laut Rückspiegel, sanft die Bremse betätigen muss. Der Wagen wird aber nicht langsamer, sondern schneller.
Fetzen seines Alptraumes schießen durch sein Hirn, gemischt mit Bruchstücken aus dem weit zurückliegenden Trauma. Einige ermüdete Synapsen verursachen einen Kurzschluss und …
Bremsen, bremsen! Sofort!
Panikartig tritt er das Pedal bis zum Bodenblech durch. Der starke Motor brüllt auf. Der Wagen macht einen Satz, springt seinem Hintermann beinahe auf die Motorhaube und schiebt die beiden geparkten Autos mit brachialer Wucht zusammen.
Krachen und Kreischen von zerknitterndem Blech und das wimmernde Jaulen radierender Reifen zerreißen die ländliche Ruhe. Abgefetzte Plastikteile wirbeln über die Straße, während Horst seinen Fuß verzweifelt mit aller Kraft auf das Pedal stemmt.
Endlich steht der Wagen, mit abgewürgtem Motor.
In der plötzlichen Stille scheint alles geschäftige Treiben die Luft anzuhalten. Nur eine abgesprengte Radkappe kreiselt noch scheppernd über den Asphalt.
Blauer Qualm zieht am Seitenfenster vorbei. Es riecht penetrant nach verbranntem Gummi.
Horst ist verwirrt und fassungslos. Eine so extreme Fehlfunktion seines Autos ist doch undenkbar! Wie kann es bei seinem werkstattgepflegten Mercedes zu einem so katastrophalen Defekt kommen? Der Wagen hat doch noch nie irgendwelche technischen Probleme gezeigt. Ist das ein grausamer Alptraum?
Sein Blick wandert in den Fußraum. Immer noch presst er den rechten Fuß mit zitternden Muskeln auf das Pedal.
Mit plötzlicher Klarheit erkennt er die bestürzende Wahrheit.
Er ahnt schon, was jetzt auf ihn zukommt.
V2