Von Andreas Schröter

Gut, ich muss ein paar Dinge voranschicken, die erklären, warum ich so handelte, wie ich es eben tat – damit Sie mich nicht gleich in Bausch und Bogen verdammen und aus dem Kopfschütteln gar nicht mehr rauskommen. Also:

-) Ich war einsam.

-) Ich hatte immer schon einen Sinn für Romantik.

-) Ich hatte 150.000 Euro von meinem leider verstorbenen Vater geerbt.

-) Ich hatte seit fünf Jahren keiner Frau mehr – ääh, beigewohnt. Ach, warum soll ich hier mogeln: Ich hatte noch nie einer Frau beigewohnt.

Ich finde, das sind doch schon vier gute Gründe, warum ich auf jene Anzeige ansprang, die ich eines Tages auf einer obskuren Internetseite fand, die sich mit alten Märchen befasste und die man unter anderen Voraussetzungen sicherlich einfach ignoriert hätte – vielleicht bestenfalls mit einem anzüglichen Grinsen im Gesicht.

Da stand:

 

Möchten Sie der Prinz sein,

der Dornröschen aus dem Schlaf küsst?

Dann melden Sie sich noch heute bei uns!

Unsere Dornröschen schlafen alle seit

mindestens 100 Jahren. Nur noch sechs

auf Lager. Unterschiedliche Haarfarben.

Kosten inklusive persönlicher Betreuung

durch unseren Schlossherrn: 100.000 Euro

Mit Echtheitsgarantie.

 

Ja, ich geb’s zu, ich habe immer schon davon geträumt, einmal etwas Großes im Leben zu leisten. Und das Dornröschen wachzuküssen und sich dabei wie ein echter Prinz zu fühlen, das hätte doch was. Das einzig Nennenswerte, was ich bis dato geschafft hatte, war Platz 3 im Tischeishockey-Turnier unserer Hausgemeinschaft. Vor 20 Jahren. Eine große Salami vom Metzger nebenan gab’s dafür als Preis. Ich würde Dornröschen auf Kissen betten – oder meinetwegen auch auf Rosen, wenn sie das wünschte – und bis an mein Lebensende für sie sorgen. Mir traten fast die Tränen vor Rührung in die Augen, wenn ich mir das vorstellte.

Zu meiner Ehrenrettung kann ich sagen: Ich habe nicht am selben Tag bei der Agentur angerufen, die die Anzeige geschaltet hatte, sondern erst zwei Tage später.

Und weitere fünf Tage danach stand ich mit einem etwa 19-jährigen Schnösel (dem „Schlossherrn“) vor einem vollkommen undurchdringlichen Dornengestrüpp. Und zwar in der Südwalachei in Rumänien. Die Reise- und Hotelkosten waren nicht in den 100.000 Euro enthalten, die ich zu berappen hatte.

„Was soll das hier?“, fragte ich, „wo ist jetzt mein Dornröschen?“

„50 Meter in Haus, auf das du stoßen“, antwortete der Schlossherr in gebrochenem Deutsch. Er deutete seltsamerweise direkt auf das Dornengestrüpp.

Auf meinen fragenden Blick fügte er hinzu: „Dornen 100 Jahre alt.“

Doch ich hatte weitere Fragen: „Sagen Sie, in der Anzeige stand, es gebe sechs Dornröschen zur Auswahl.“

„Anzeige alt. Andere Dornröschen geküsst. Nur noch eins da.“ Wieder deutete er auf das Dornengestrüpp vor uns.

„Und was ist mit der Echtheitsgarantie, die in der Anzeige erwähnt wurde?“

Mein Schlossherr griff in seine Hosentasche rechts hinten, holte ein halb zerfleddertes Stück Papier hervor und reichte es mir. Darauf stand mit krakeliger Handschrift: „Alle Dornröschen echt. Schlafen 100 Jahre!!!!!!!“ Darunter waren irgendwelche Linien zu erkennen, die vielleicht eine Unterschrift darstellen sollten. Wer weiß.

Außerdem holte der Jüngling eine riesige Machete hervor, die ich zuvor gar nicht bemerkt hatte.

Sicher, ich hätte in genau diesem Moment dem Möchtegern-Schlossherrn einen Vogel zeigen, mich in meinen gemieteten Nissan Micra setzen und von dannen rauschen müssen. Stattdessen nahm ich die Machete und tat den ersten Hieb. Nach 20 Metern hatte ich mindestens 15 rote und schmerzende Striemen im Gesicht und auf den Armen, nach 35 Metern blutete ich aus etwa 16 tiefen Wunden, und nach 50 Metern stieß ich tatsächlich auf eine Mauer, die in ihrer Mitte sogar eine Aussparung für eine Holztür enthielt.

Meine Laune besserte sich und mein Herz begann wild zu klopfen. Sollte tatsächlich hinter dieser Tür …? Ich drückte gegen das Holz, und die Pforte schwang mit einem leisen Quietschen auf. Drinnen erwartete mich ein großer Raum, der mit Kerzenlicht erhellt war. In der Mitte befand sich ein gläserner Sarg, wie man ihn eher aus Schneewittchen-Illustrationen kennt. Das einzige Manko: Es lag keine Schönheit darin. Stattdessen hörte ich von einem anderen Teil des Raums, den ich bisher noch nicht in Augenschein genommen hatte, eine Stimme: „Ich bin schon mal aufgestanden, wenn du nichts dagegen hast. Ich hasse es, mit einem Kuss aus dem Schlaf gerissen zu werden. Man riecht ja dann meist auch nicht gut. Außerdem braucht mein Kreislauf mindestens zehn Minuten, um auf Touren zu kommen.“

„Ja, aber …“

Jetzt sah ich, dass sich eine Frau im Bademantel vor einem Spiegel die Zähne putzte. Sie war weder jung, noch alt, noch hätte man sie im landläufigen Sinn als so schön bezeichnen können, wie man sich Dornröschen wohl gemeinhin vorstellt.

„Gut, gehen wir“, sagte sie, nachdem sie sich hinter einem Paravent angezogen hatte, „ich habe genug von diesem Loch. 100 Jahre können sich hinziehen – sogar, wenn man schläft.“

Ich streckte ihr ganz prinzenhaft meine Hand entgegen, doch Dornröschen ignorierte sie. Auch strebte die Dame nicht dem Durchgang zu, durch den ich gekommen war, sondern wandte sich zur anderen Seite des Raums. Dort gab’s ebenfalls eine Tür, und als meine Eroberung sie öffnete, sah ich, dass sich dahinter eine gepflasterte Straße befand, an deren Ende ich mein Auto stehen sah. Auf meinen verwunderten Blick sagte sie: „Du glaubst nicht im Ernst, dass ich mich durch das Gestrüpp quäle, oder? Das schadet meinem Teint. Oder meinst Du, ich will aussehen wie du.“

Ich war zu baff, und so fiel mir nichts Richtiges ein, was ich auf dem kurzen Marsch zum Auto zu ihr sagen konnte, sodass unser Gang schweigend verlief. Am Auto angekommen, öffnete ich die Türen und deutete auf den Beifahrersitz. Doch meine neue Freundin blieb wie angewurzelt stehen und sagte: „Was zum Teufel ist das?“

Ich wusste nicht, was sie meinte und antwortete deshalb zugegeben etwas schlicht: „Ein Auto?“ Ich weiß auch nicht, warum ich das in eine Frage kleidete.

Doch Dornröschen stieg die Zornesröte ins Gesicht: „Du willst ein Prinz sein, der mich aus meinem Verlies befreit und hast noch nicht mal ein Pferd mit einem goldenen Wagen?“ Wir diskutierten diese Frage etwa eine Viertelstunde lang, in deren Verlauf meine neue Begleiterin immer roter wurde und auch immer lauter sprach. Das Ende vom Lied war, dass ich zum Schlossherrn laufen musste, um ihn zu fragen, wo man ein Pferd und einen goldenen Wagen mieten konnte. Zufällig hatte er das Gewünschte in einem Stall, und zufällig waren vier Pferde bereits angespannt. Für 5000 Euro wolle er mir gern aus der Patsche helfen.

Ich kürze die folgenden zwei Monate mal geringfügig ab:

-) Dornröschen weigerte sich, von Bukarest nach Düsseldorf zu fliegen. Flugzeuge seien Teufelszeug. Die habe es zu ihrer Zeit so gut wie noch gar nicht gegeben. Wir mussten die Kutsche nehmen, was mich weitere 20.000 Euro – inklusive Rückführungsgebühren – und drei Wochen Zeit kostete.

-) In meiner Wohnung durfte ich kein Licht machen. Strom sei Teufelszeug. Das habe es zu ihrer Zeit so gut wie noch gar nicht gegeben. Erst recht nicht in dem kleinen Dorf, in dem sie aufgewachsen war. Nur Kerzen wurden akzeptiert. Komisch war allerdings, dass sie für die Netflix-Serie „Orange ist the new black“ eine Ausnahme machte.

-) Madame wollte nicht arbeiten gehen. Vor 100 Jahren kümmerte sich der Mann ums Einkommen, sagte sie, und so müsse es bleiben. Außerdem wolle ich doch ein Prinz sein, der seine Liebste auf Rosen betten möchte und so weiter.

Ich könnte weitere Situationen aufzählen, die zu Streit führten – angefangen vom Pizzaservice, den sie nicht kannte und wollte, über Geldautomaten, die natürlich tabu waren, bis hin zu Donald Trump, den sie als starken Mann verehrte. „Das ist ein wahrer König!“, sagte sie. Na ja, irgendwie kamen wir jedenfalls nicht ganz so gut klar, wie ich mir das erhofft hatte.

Und ein paar Wochen später wusste ich mir keinen anderen Rat, als abermals Pferd und Wagen zu mieten, um mit ihr zurück in die Südwalachei zu fahren. Sie erhob keine Einwände.

„Wir kommen nicht klar“, sagte ich, nachdem mir der junge Schlossherr die Tür geöffnet hatte, „ich möchte dieses Modell wieder umtauschen.“

„Oh“, meinte der und zog den Vertrag hervor, den ich unterschrieben hatte und der offenbar griffbereit neben der Tür gelegen hatte. Er deutete auf einen Passus, und dort stand: „Unsere Dornröschen sind vom Umtausch ausgeschlossen, bei Nichtgefallen ist eine Rückgabe des gezahlten Betrages nicht möglich.“

Als ich den Ort meiner Schande verließ, glaubte ich ein zweistimmiges Kichern hinter der Tür des Schlossherrn zu hören. Und war das Geschmatze etwa ein Kuss gewesen? Auf dem Weg in Richtung Bukarest überholte mich einmal ein dicker Range Rover und drängte mich dabei fast in den Straßengraben. Ich bin mir nicht sicher, aber es könnte sein, dass vorne der Schlossherr und mein Dornröschen saßen.

Zu Hause angekommen, versuchte ich in Erfahrung zu bringen, wann wohl das nächste Tischeishockey-Turnier stattfand.