Von Raina Bodyk

„Jetzt sieh dir das an! Da haben sich zwei gefunden!“ Grinsend deutet Dr. Meyn aus dem Fenster auf ein altes Pärchen, das auf einer Bank im Klinikpark Händchen hält.

Sein Freund Ditting, Psychotherapeut wie er, schüttelt skeptisch den Kopf: „Das kann doch nie gutgehen! Die egozentrische, manipulative Klara, die ihre Nachbarin umgebracht hat und Florian mit seinem Verfolgungswahn? Die bringen sich höchstens gegenseitig um.“

„Sag das nicht! Sie kann sich an ihre Tat immer noch nicht erinnern, oder?“

„Nein. Sie ist sich keinerlei Schuld bewusst, hat alles verdrängt: Den tödlichen Stich und wie
sie neben der Leiche kauerte und vor sich hin summend lauter blutige Kreise gemalt hat.“

„Vielleicht braucht sie für ihr weiteres Leben nur einen Menschen, bei dem sie überzeugt sein kann, dass er sie nie verlässt, um nicht mehr gewalttätig zu werden. Florian wiederum träumt von einer sicheren Welt ohne Dämonen. Ich habe ihn medikamentös so gut einstellen können, dass er keine Stimmen mehr hört. Die Halluzinationen haben auch aufgehört. Er hält nicht mehr jeden Menschen für den bösen Feind. Die beiden könnten sich guttun.“

„Ich weiß nicht, Martin. Florian würde nicht zu ihr gehören, sondern eher ihr gehören! Aber Liebe entzieht sich unserem Einfluss! Mag ja sein, du hast recht. Wenn der Blinde den Lahmen trägt … Vielleicht können sich die beiden gegenseitig geben, was sie brauchen.“

 

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Ah, mein Schatz ist aufgewacht!

„Flori, hast du deine warmen Hausschuhe angezogen? Heute Morgen ist es ein bisschen kalt in der Küche.“

Gleich ist unser leckeres Frühstück mit Brötchen und Rührei fertig. Dazu seine geliebte Himbeermarmelade. Da wird er sich freuen.

Vor kurzem hätte ich noch heilige Eide geschworen, dass ich nie mehr einen Mann in mein Leben lassen würde! Bis Florian auftauchte … So ein lieber Mann, so eine sanfte Seele. Wenn er mich ganz treuherzig ansieht, habe ich das Gefühl, ihn vor der ganzen Welt beschützen zu müssen. Manchmal wirkt er wie verloren. Wahrscheinlich wegen seiner Krankheit. Darüber haben wir nie gesprochen. Ich finde es besser, einfach im Hier und Jetzt ein neues, gemeinsames Leben zu beginnen. Die Vergangenheit soll für uns beide vorbei sein.

Diesen Dr. Ditting mag ich gar nicht. Er besitzt doch tatsächlich die Unverschämtheit zu behaupten, ich hätte meine Nachbarin Heike erstochen und sei deswegen in der Psychiatrie! Dabei weiß er genau, dass ich nur einen Nervenzusammenbruch hatte, weil ich die Tote in ihrem Blut entdeckt habe. Da einen Schock zu erleiden, ist doch wohl verständlich! Heike war meine beste Freundin. Ich habe sie geliebt, nie hätte ich ihr was antun können.
Gestern durfte ich in Begleitung meiner Tochter zu Heike auf den Friedhof. Spätestens da hätte ich doch irgendwas spüren müssen, eine Erinnerung oder ein Schuldgefühl, wenn das wahr wäre.
Wegen dieser angeblichen Tat muss ich hier in der Klinik bleiben. Dem Arzt glaubt man mehr als mir. Typisch für diese Götter in Weiß. Aber wenigstens durfte ich mit Florian in dieses gemütliche Apartment ziehen.

 

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Wusste ich es doch, Klara hat schon das Frühstück fertig! Es riecht so lecker nach Kaffee und Ei. Sie ist eine tolle Frau. Seit wir zusammen sind, höre ich keine Stimmen mehr, die mir befehlen, mich umzubringen. Ich werde auch nicht mehr verfolgt. Der Arzt hat gesagt, das sei alles nur in meinem Kopf gewesen, es sei nicht real. Erst habe ich ihm nicht geglaubt, aber jetzt mit Klara … Sie hält die Dämonen in Schach, passt auf, dass niemand hinter mir herspioniert. Sie ist so stark!
Okay, sie bestimmt gern und kommandiert mich ein bisschen herum. Aber immer auf nette Art. Sie meint es gut. Es stört mich nicht sonderlich. Denn bei ihr bin ich sicher. Ich bin endlich angekommen.

„Guten Morgen, Liebes! Du siehst wunderschön aus. Und wie hübsch du den Tisch gedeckt hast!“

Die Depressionen sind weg, keine Schweißausbrüche mehr und ich kann endlich schlafen, ohne schreiend aus Albträumen zu erwachen.

Dafür werde ich Klara ewig dankbar sein. Wir achten aufeinander und führen ein ruhiges, harmonisches Leben. Manchmal bekommt mein Schatz sogar die Erlaubnis, allein mit mir ins Café oder ins Kino zu gehen. Wir nennen das scherzhaft unseren ‚Urlaub‘.

 

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Heute in der Früh habe ich zufällig Klaras vielbeschäftigte Tochter, mit der ich mich bestens verstehe, auf dem Markt getroffen. Bei einer Tasse Kaffee haben wir uns darüber unterhalten, wie schnell das Jahr mit ihrer Mutter vergangen ist. Wie sehr sie mich verwöhnt.

Aber dann kam es knüppeldick! So ganz nebenbei, als wäre es eine ganz alltägliche Sache, bedankte sich Karin dafür, dass ich keine Vorurteile wegen Klaras Vergangenheit habe. Ich muss völlig entgeistert geguckt haben, denn Karin stotterte herum, sie hätte keine Ahnung gehabt, dass ihre Mutter ihr Geheimnis für sich behalten hat, und ich solle ihre Worte einfach vergessen. Wie sollte das nach so einer Andeutung gehen?! Die Ungewissheit hätte mich fertig gemacht, ich bohrte nach. So erfuhr ich von Heike.

Zu sagen, dass ich geschockt war, ist die Untertreibung des Jahres! Ich war regelrecht versteinert und bin es noch. Meine liebe, sanfte Frau eine Mörderin? Nein! Nein! Ausgeschlossen! Habe ich gewisse Anzeichen übersehen? Undenkbar! Sie ist immer die Güte in Person gewesen, erledigt Kleinigkeiten für andere Patienten und ist bei allen beliebt.   Diese Frau soll eine Mörderin sein? Niemals!

 

Zum ersten Mal nach langer Zeit höre ich wieder die Stimmen in meinem Kopf wispern. Sie sind zurück! Klara schützt mich nicht mehr. Sie gehört zu ihnen, meinen Dämonen, das ist mir jetzt klar. In meinem Schädel hämmern dumpfe Schmerzen. Karin schaut mich ganz entsetzt an, kann sich nicht erklären, warum ich plötzlich stöhnend meine Hände auf die Stirn presse. Endlich verabschiedet sie sich, nachdem ich ihr versichert habe, dass bei mir alles in Ordnung sei.

Von wegen in Ordnung! Wem kann ich jetzt noch vertrauen? Wer hilft mir gegen die wiedererwachten Stimmen?

 

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„Ah, Flori, da bist du ja wieder. Karin hat mich angerufen, dass es dir nicht gut geht. Ich habe mir schon Sorgen gemacht.“

Sorgen! Klar, du hast dir Sorgen gemacht! Wohl, wie du mich am besten umbringen kannst, wie deine Freundin. Aber nicht mit mir. Karin behauptet, dass du bei dem Mord nicht ganz bei Sinnen warst, eine Amnesie hast. Wer soll das denn glauben?!

‚Pass auf dich auf! Sie will dich töten. Sie ist böse.‘
‚Sie ist ein Dämon. Bring sie um, ehe sie dich tötet.‘

Die Stimmen hören nicht mehr auf zu flüstern. Sie reden und reden und reden. Kopfhörer, laute Musik, Ohren zuhalten, nichts lässt sie aufhören. Ich halte das nicht aus!

 

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Ich bin immer weniger zuhause. Ich habe Angst! Wie ein Automat laufe ich durch die Straßen. Alle paar Minuten drehe ich mich vorsichtig um, vergewissere mich, dass ich nicht beschattet werde.

So viele Gesichter! Und alle drehen sich zu mir um, fixieren mich feindselig. Was wollen sie von mir? Ihre Augen und Münder tun mir weh, sind wie kleine, elektrische Schläge. Sie reden über mich! Da, die jungen Leute, ob sie zu meinen Verfolgern gehören?

 

Klara ist gefährlich. Ich weiß genau, dass sie mir regelmäßig etwas in den abendlichen Kaffee mischt.

Die Dämonen in meinem Kopf zischen warnend: ‚Sie will dich töten. Sie ist böse.‘

Ich werde nicht wie Heike enden! Ich vertausche unsere Tassen.

 

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Was ist nur mit meinem Flori los? Unser erstes gemeinsames Jahr war so wunderschön. Wir mögen die gleichen Dinge, lieben dieselben Filme und Lieder. Aber jetzt …? Er ist so seltsam distanziert. Er kommt nur noch zum Essen heim. Keine Ahnung, wo er sich herumtreibt. Er redet kaum noch mit mir und wenn, dann wird er schnell aggressiv. Sein ungeduldiges Verhalten enttäuscht und ärgert mich. Hat er eine andere? Was verbirgt er vor mir?

So hat es damals mit Heike auch angefangen. Erst die große Freundschaft vortäuschen und mich dann einfach auf die Seite schieben. Ich kann mir so viel Mühe geben, wie ich will, immer werde ich verlassen. Ich will Florian nicht verlieren. Warum straft der Himmel immer nur mich, ich habe doch noch nie jemandem ein Leid zugefügt.

 

Seine früheren Albträume sind anscheinend zurück. Wie oft schreckt er schreiend aus dem Schlaf auf, wispert was von Verfolgern.

Diese ganze Situation regt mich sehr auf. Letzte Nacht habe ich selbst einen grässlichen Traum gehabt. Es war richtig gruselig: ich saß auf einem weißen Kachelboden und habe mit Blut auf dem Boden herumgeschmiert.

Ein paar Mal habe ich jetzt etwas Seltsames beobachtet: Florian vertauscht, wenn wir abends noch einen Kaffee trinken, unsere Tassen. So, als hätte er Angst, dass ich ihn vergiften will.

 

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Es macht mir Angst, Klara mit ihren Messern in der Küche hantieren zu sehen. Gestern bin ich ihr durch den Park nachgegangen. Angeblich wollte sie in der Cafeteria etwas besorgen. Plötzlich war sie aus meinem Blick verschwunden. Was, wenn sie sich mit meinen Verfolgern trifft und sie gemeinsame Pläne schmieden?

‚Töte sie! Töte sie, bevor sie dich tötet! Die Dämonin wird dich umbringen.‘

Seid still! Seid doch endlich still!

 

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Langsam werde ich richtig sauer! Florian behandelt mich, als wäre ich seine Feindin. Meint er, ich merke nicht, wie er argwöhnisch im Essen rumstochert und kaum etwas isst? Das ist so beleidigend! Das habe ich nicht verdient!

Na, wo ist denn das böse Gift, mein Schatz? Im Kaffee? Im Essen? Oder werde ich ein Messer nehmen und zustechen, während du schläfst?

Er hätte es verdient! Wenn er so von mir denkt …

 

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Nach dem Abendessen stellt Klara den frischgebrühten Kaffee auf den Tisch.

„Liebes, holst du bitte noch den Zucker? Du weißt doch, ich mag es süß.“

„Oh, habe ich ihn vergessen?“ Sich ein Grinsen verkneifend, geht sie in die Küche.

Jetzt wird er die Gelegenheit nutzen!

 

Florian nippt vorsichtig an seinem Getränk.

Plötzlich lässt er mit einem spitzen Aufschrei die Tasse fallen und starrt entsetzt und ungläubig auf seine Lebensgefährtin.

Sie windet sich in Magenkrämpfen. Die Hände aufs Herz gepresst, mit schmerzverzehrtem Gesicht und Schaum vor dem Mund sinkt sie auf die Tischplatte.