Jutta Wein

Nun ja, das hätte alles nicht passieren müssen, keinesfalls, wirklich nicht. Doch nun ist es zu spät und auch schon lange her, was nichts zur Sache tut. Es gibt kein Zurück mehr. Es gibt nur noch ein nach vorn! Nein, das stimmt nicht. Es gibt ein rundherum. Wie in dem Innern einer Kugel. Ja, das passt besser. 

Wichtige Entscheidungen haben große Auswirkungen! Das klingt zu pathetisch? Nein, ich bin keine Politikerin, übrigens auch keine Schauspielerin. Ich habe einen ganz soliden Beruf, womöglich. Wenn man so will. Mehr dazu später. 

Jetzt, wo ich das Zeitliche gesegnet habe, weiß ich, dass das Leben nie endet. Ich habe mir das immer schon gewünscht, manchmal sogar daran geglaubt. Unendlichkeit, ewiges Leben. Das ist wirklich so. Nichts hört auf zu existieren. Alles bleibt erhalten. Auch meine Wenigkeit. Ich war schon sehr erleichtert, als mir das klar wurde.

Nachdem es mich erwischt hatte, damals, bin ich einfach (so einfach, war es auch nicht), in ein Paralleluniversum gezogen. Dort gab es mich kurioserweise schon. Haha. Das stimmt wirklich. Es war kein Problem, mich da einzuklinken und mein Leben (fast) wie gewohnt fortzusetzen. Wir sind doch alle Gewohnheitsmenschen. Aber das ist eine andere Geschichte.

Zurück zu DAMALS. DAMALS, das klingt schon komisch aus der Sicht der Unendlichkeit. Ehrlich gesagt: Ich mag die heutige Zeit der Zeitlosigkeit. Mein Hier und Jetzt umfasst einfach alles. Schwer zu erklären. 

 

Doch immer, wenn ich hier Station mache, ja dann überfällt mich eine Schwere, ähnlich wie die Erdanziehungskraft. Ich verweile dann länger, als es mir guttut. 

Ich hätte nicht gehen müssen. Wirklich nicht. Ich war letztlich frei, zu entscheiden. Eigenverantwortlich zu handeln. Mein kostbares irdisches Leben zu retten. 

 

Klar, musste ich meine Aufgaben laut Arbeitsvertrag erfüllen. Selbstverständlich. Aber: Ich war schon zwei Wochen raus, wegen Urlaub und Krankschreibung (ein harmloser Schnupfen). Sicher wäre es ein Leichtes gewesen, der Arbeit und dem Klinikalltag weiter fern zu bleiben. 

Nein, ich arbeitete nicht als Alten- oder Krankenpflegerin (noch ein Beruf, den ich nicht habe). Ich kümmerte mich um das seelische Befinden der Patienten, als Psychotherapeutin. Ich behandelte keine körperlich Schwerstkranken und schon gar nicht mit dem Virus Infizierte. Das muss ich klarstellen. 

Meine Patienten leben für eine gewisse Zeit in einer Reha-Klinik und meine Aufgabe besteht darin, sie zu begleiten auf einem Weg der seelischen Heilung von den vielen Wunden, die einem das Leben so zufügen kann. Es sind Menschen, deren Selbstheilungskräfte erschöpft sind, zumindest für eine gewisse Zeit. Ich glaube schon, dass sie mich brauchten. 

Dennoch: Ich hätte zu Hause bleiben können. Irgendwie jedenfalls. 

Auch mein hilfesuchender Anruf in der Klinik an einem Freitag legte das Nahe. „Nein, bleib ruhig zu Hause, wenn dir aus irgendwelchen Gründen danach ist…Kein Problem… Hier läuft es normal weiter… Ja, wir versuchen Abstand zu halten, so gut es geht.  Es läuft gut derzeit… Jeder muss im Moment auf sich gucken. Gesund bleiben, das ist wichtig… Melde Dich am Wochenende oder Montag“. Ein netter Kollege, finde ich. Er meinte das ernst und er war ehrlich. 

Ein ausgerollter roter Teppich. Ein bequemer und komfortabler (Aus-)Weg. Nur betreten musste ich ihn. Einen kleinen ersten Schritt tun. Einfach zu Hause bleiben.

Ich weiß bis heute nicht, was mich geritten hat. Ich wollte doch zu Hause bleiben. Ich hatte Angst, genau wie alle anderen auch. Eine große Angst vor einer unbekannten Krankheit, deren gnadenlose Verbreitung gerade alles auf den Kopf stellte, Bürgerrechte außer Kraft setzte, Normales verbot und die Menschen voneinander trennte und einsperrte. 

Meine Kinder sorgten sich. Alle Welt blieb doch zu Hause, machte home-office oder (Zwangs-)Urlaub. Sohn und Tochter meinten, ich sei in Gefahr, wegen meines Alters. Dabei war ich noch weit vor der Rente und obendrein gesund. Nur eine Erkältung hatte mich angegriffen. Wir telefonierten ab und an, denn ich lebte schon einige Zeit allein, auf dem Land, mit großem Garten. 

 

Ich begann dann alles zu tun, um wieder zu meiner Arbeit zu gehen. Im Chat mit Freundinnen wurde gefragt, ob eine Atemschutzmasken nähen kann. Ich sah mich schreiben, dass ich diese für die Arbeit brauche. Ich las, dass ich um Hilfe und Schutz vor der drohenden Ansteckung bat. Na super. Was machte ich da bloß? BLEIB ZU HAUSE!

Diese Masken waren damals zum einen sehr umstritten, zum anderen vergriffen. Selbst die Krankenhäuser hatten kaum welche, ein echter Skandal. Die Dinger wurden sogar gestohlen oder zu horrenden Preisen angeboten. Danke liebe Freundin fürs Nähen. 

Ich klammerte mich an die Hoffnung, dass diese mich schützen könnten, dass sie mich retten würden. Alles sehr fraglich aus heutiger Sicht. 

Am Freitag machte ich mehrere Stunden Gartenarbeit, um zu testen, wie fit ich wieder war, nach der Erkältung. Alles gut, musste ich zugeben. Wie ich da so in der warmen Sonne rumwerkelte, dachte ich an Kolleginnen, Patienten, Berge von Berichten, die wohl auf mich warten würden.  Ein ganz normaler Alltag mit Aufgaben und menschlichem Kontakt. 

Mich ergriff die Vorstellung, mit Kolleginnen ein Schwätzchen zu halten, mich mit ihnen auszutauschen, einander zu sehen, gemeinsam zu lachen. Raus aus dieser Isolation zu kommen. „Bleib zu Hause!“, tauchte in mir auf. Schon Freitag hätte ich ahnen können, dass ich dem Sog erliegen würde. 

 

Ich bin dann am Montag wieder zur Arbeit gegangen. Es gab viel tun, wie immer. Alle freuten sich und es war schön und interessant allemal. 

Dann ging alles recht schnell. Die Erkältung kam nach einer Woche zurück. Zumindest dachte ich das. Hatte ich mich nicht richtig auskuriert? Ein trockener Husten kam dazu und Fieber. Ich hatte nie Fieber! Testen auf den Virus? Keine Kapazitäten frei. Damals. Es gab auch keinen wirklichen Anlass. So sagte man mir.

Alles kein Problem, befand ich. Alles wird gut. Ich kurier mich aus. Bis mir immer mehr die Luft weg blieb. Kurzatmigkeit und Schwindel von einem Moment auf den anderen. Ein Horror. 

Nachbarn riefen den Notarzt. Der Krankenwagen kam zur rechten Zeit. Alles im Nebel, was dann geschah. Ich erhielt im Krankenhaus Sauerstoff, dann einen Beatmungsplatz. Glück gehabt. Danke Deutschland. 

Nur verschwommen erinnere ich mich daran. Es war laut, hell und hektisch. Ich war sehr müde. 

Dann war Ruhe, eine tiefe Ruhe in mir. Alles wird gut. 

Doch Nein. Was war da schiefgelaufen? Es wurde viel gesprochen. Unruhe entstand. Das Beatmungsgerät haben sie dann abgestellt. Ein Rätsel? Das wieder auch nicht. 

Ob ich die Zeit zurückdrehen möchte? Nun ja, das funktioniert halt nicht. Ich komme nur so weit, wie gerade jetzt. Nur so weit. 

Ob ich mir Vorwürfe mache? Ach nein, damals wusste man ja nicht mehr, was richtig und was falsch ist. Niemand wusste Genaues. Und das Leben musste doch weiter gehen. Oder nicht? 

Was war zu verantworten und was war verantwortungslos? Da gab es viel Meinungen. 

Nur eines war zumindest vielen Leuten im April 2020 bewusst: Es könnte noch schlimmer kommen und zwar für die gesamte Menschheit. 

Wie es mir jetzt geht? Wie soll es mir schon gehen. Ich bin mir selbst in der Unendlichkeit begegnet. Das ist wahrlich mehr, als ich je zu hoffen gewagt habe. 

Doch die gute alte Erde, mein altes Leben, meine Kinder, meine Freundinnen und Freunde, die kann ich nicht vergessen. Sie fehlen mir sehr. 

Genug geschwätzt. Nun denn, ich muss mal los. Die Arbeit wartet. 

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