Von Kornelia Wulf

Ich wollte sie im Internet besorgen. Im Online-Shop Letzte-Heimat.de. Uns das peinliche Brimborium ersparen. Diese abgeklärte Mimik durchbrochen von einem Hauch Erleuchtung. Irgendwie nicht von dieser Welt, als sei Herr Bestatter beim Dalai Lama in die Lehre gegangen und habe sieben duldsame Jahre seine Füße gewaschen. Jedes tröstende Nicken kostet schließlich extra, und das nicht zu knapp.

Aber als ich Doris Blick sah – das heißt, ich konnte ihn nur erahnen. Seit Großvaters Dahinscheiden trägt sie einen schwarzen Hut mit Schleier, hinter dem die Konturen zu einer grauen Pfütze zerfließen – schlug ich die Gelben Seiten auf.

 

Wir wählten eine Stahlurne aus. Hand bemalt. Mit lichtblauen Wellen, aus denen ein Delfin in einen orangeglühenden Horizont schnellt. Ich muss zugeben, dass mich das Gepinsel auf dem Aschenkrug zunächst an die bonbonfarbenen Ansichtskarten erinnerte, die mir meine Freundin Ute aus Capri schickt, wenn sie mit einem ihrer Lover durch die Grotte gondelt. Aber als mein Blick noch immer zweifelnd an dem Delfin festklebte, geschah etwas Unglaubliches. Ein Schatten tauchte hinter den Flossen auf. Ich rieb die Augen. Befürchtete einige Schrecksekunden lang von diesem grauen Star attackiert zu werden. Doch dann erkannte ich ein Gesicht, das sich wie ein altertümliches Foto in wässriger Chemie zu einem klaren Abbild entwickelte.

 

Großvaters Gesicht.

 

Mit buschigen Brauen und dem mächtigen Knollengewächs, das über dünnen Lippen sprießt. Geformt wie Herrmanns Blaue, die Opa am liebsten im Labskaus isst. Früher dachte ich manchmal, sein Gesicht sei aus zwei Menschenköpfen zusammengeflickt. Nach der Methode von Herrn Frankenstein oder so. Dieser Eindruck entstand besonders dann, wenn ich wie mit Pattex an seine Brust geklebt auf seinen Knien saß, den Kopf in den Nacken bog und seinen Blick erforschen wollte. Die dicke Nase versperrte die Sicht auf die Augen, warf einen Schatten über seinen Mund. Wenn ich sein Profil betrachtete, also wenn ich aufrecht stand und Großvater saß, schien sein Gesicht wieder nahtlos heil. Alles eine Frage der Perspektive, wie ich heute weiß.

 

„In meinem ersten Leben bin ich als Fisch durch die Meere geschwommen“, sagte Opa immer, wenn er auf den Fluss starrte, der hinter der Wiese seines Hauses strömt. Mit eigenem Steg und Uferplatz. In diesen Bekenntnismomenten kratzte er über seine unbehaarte Kopfhaut, bis feine Schuppen auf die Strickjackenschultern wehten.

In seinem Fluss wollte Opa sein drittes Leben beginnen. Das weiß ich ganz sicher. Doch Seebestattungen sind nur in der Ost- und Nordsee erlaubt, wie mir Herr Kyrian, der Bestatter, in endlosen Diskussionen erklärte. Und auch Doris Mundwinkel zuckten verdächtig, als wir über dieses Thema sprachen. „Wie soll ich ihn später wiederfinden, wenn seine Asche durch die Ozeane strömt?“, rief sie.

 

Und so stehen Doris und ich nun auf dem Friedhof. Mein Blick folgt der lichtblauen Kette, die zwischen weißen Handschuhen gleitet. Glied für Glied hüllt die Schwärze des Grabloches sie ein. Noch einmal scheint der Delfin nach Luft zu schnappen, als Bilder in mir wie Meeresgischt aufschäumen.

 

Ich hüpfe an Mamas Hand und singe. „Ein-zwei-fettes Teufelsei!“ Meine Zähne halten die Zungenspitze fest, so doll strenge ich mich an. Ich darf nur auf die Pflastersteinfugen treten, sonst befreie ich die Brut des Teufels. Als mein linkes Bein durch die Luft schnellt, kneift sie in meinen Arm. „Los, beeil dich!“, zischt sie, zerrt mich vorwärts. Ihr Pferdeschwanz wippt im Takt der Stechschritte auf und ab. Ein metallisch klingender Pfiff zerreißt die Luft und beinahe mein Trommelfell. Meine Fußspitze gerät ins Schlingern.  Verfehlt ihr Ziel, landet voll auf dem Trottoir. Die Eierschale knackt.

Dann höre ich eine dunkle Stimme. Ein Muskelpaket mit Vollbart ruft aus karierter Brust vom Hochbaugerüst herunter. „Heute Abend. Auf ein Bier. Okay? Aber ohne deine kleine Schwester.“

 

Wenn Mama für meine Schwester gehalten wurde – und das glaubten viele, die uns nicht kannten – wollte ich an ihrem Haarschweif reißen und in ihre Kniekehlen treten. Denn ich bin ein Frühbalg. Zu früh geboren, als Mama erst siebzehn war.

 

Opa beschloss, dass sie das Tagesinternat besucht. Dort sollte sie das Abitur nachholen, um zu studieren. Und so standen Mama und ich an jedem Schultag vor Opas Tür, klapperten an dem Messingring, der geflochten wie ein Lorbeerkranz zwischen den Reißzähnen eines Löwen gegen altes Holz schlug. Fast spüre ich ihn noch. Den kühlen Stoff, der Mamas Haut verhüllte. Er knautschte in Mund und Nase, wenn ich ihre Schenkel umschlang und mein Gesicht in den Falten des Rockes verbarg. Doch all diese Schutzmaßnahmen konnten nicht verhindern, dass sein fauliger Atem in meine Nase kroch. Beim Überschreiten der Türschwelle hielt ich die Luft an. Versuchte zu schrumpfen zwischen Mamas Beinen. Um nicht zerbissen zu werden, nicht zu wirbeln in seinem Bauch und nicht im Reigen mit zerfetzten Zebrahappen ein trauriges Totenlied anzustimmen. Als meine Arme Mamas Taille erreichten, verlor der Löwe seine Macht über mich.

 

Ab diesem Zeitpunkt konnte ich es kaum erwarten.

 

Noch bevor Mama mich am frühen Morgen um die Straßenecke schleifte, kribbelte es schon in meinem Bauch. Und wenn Opa uns dann endlich in sein Haus einließ, schlängelte ich mich wie ein Aal unter dem gestreckten Arm hindurch. Doris wohnte damals auch schon in Opas Haus. Sie putzte und kochte am Tag und schlief in der Nacht in seinem Bett. Ich schlich über den Flur zur Küche, lugte vorsichtig durch den Türspalt. Sah ihre gekrümmten Finger, die das Gemüsemesser umklammerten. Sie zerhackten Zwiebeln für Opas Matjessalat, während der Hals heftig zwischen den Schultern hin und her ruckelte. Als bohre sich ihr Kopf durch einen zu engen Rollkragen.

Aber die eigentliche Attraktion wackelte weiter unten. Doris Hintern. Er rollte wie ein riesiger Kullerpfirsich unter dem geblümten Baumwollfähnchen hin und her. Kurz wie ein Kinderkleidchen. Dabei plärrte sie meist etwas kratzig im Duett mit der Stimme, die aus dem Radio schallte.

 

Am Tag, an dem das Ei zerbricht, steht das Muskelpaket vor Mamas Mansardentür. Ein Sechser Pack an die karierte Brust gedrückt und ein Veilchenbund in der schönen Hand. Sein Bier schäumt nun in jeder Nacht. Schlaflos wälze ich mich in verkrumpelten Laken, die Fäuste fest auf die Ohren gepresst. Warum japst Mama nur so laut. Und dann schreit sie auch noch. 

Die Sonne verschläft den verregneten Ferientag, an dem mich Mama morgens weckt. Sie rüttelt mich aus dem Dämmerschlaf, bevor die Elster zufrieden krächzt. Vergnügt reibt sie die Federn an dem Holunderbusch in unserem Garten. Ein zartes Spatzenbaby im Schnabel. „Ich fahre mit Drago nach Jugoslawien“, raunt Mama, „mal richtig ausspannen. Hey, schau nicht so traurig“, ihre Finger krabbeln über meine Stirn, „bald komme ich zurück und bringe dir auch ein Licitar mit. Von Dragos Oma gebacken.“

 

Jeden Tag warte ich nun unter dem Löwen vor Opas Tür. Spähe nach dem blauen Yugo, der Stinkwolken in den Himmel spuckt. Nach Dragos Vollbart hinter der Windschutzscheibe.

 

Bald zog der Sommer sein Abschiedstuch. Die Blätter knisterten unter den Sohlen. Mit Mamas Tusche malte ich ein Herz auf meine Brust. Zerkratzte es Stück für Stück. Denn sie kehrte nie mehr zurück.

 

Ich wohnte dann ganz in Opas Haus. Teilte mit Doris ihr Zimmer. Und wenn er sie nachts in sein Schlafgemach holte, wickelte ich Tesa um Mias Schlüpfer. „Halt immer schön die Beine zusammen“, flüsterte ich meiner Puppe zu. Versteckte sie unter dem Laken.

 

*

 

Ein Stoß von rechts zerreißt meine Gedanken. Rasselnde Seufzer treiben wie Disteln in der von Weihrauch geschwängerten Luft. Es riecht ein bisschen wie Zahnarzt. Doris klammert sich an meinem Unterarm fest bei dem Versuch, den Boden unter den Füssen nicht zu verlieren. Ich führe sie zu der Holzbank, nur ein paar Schritte vom Grab entfernt. Und während ich über ihren Arm streiche, richte ich meinen Blick auf den Pfarrer. Er wölbt die Hände über dem Grab, faltet die Finger ineinander. Als baue er eine Räuberleiter, um Opa den Aufstieg in die himmlischen Gefilde zu erleichtern. Dabei bewegt er die Lippen, schwafelt mit traniger Stimme etwas von Erinnerungen, die Fenster gleichen sollen. „Okay“, denke ich, „du bist der Profi“, und wische mit kräftigem Zwinkern den Schwaden von den Scheiben.

 

Ich stapfe über seinen heiligen Steg. Lecke am Erdbeereis, das über die Waffel rinnt. Pink tropft es auf die Bretter. Drei Kugeln hat Opa mir heute spendiert. Rot pellt seine Nase im Sonnenlicht, als er ächzend auf den Steg plumpst, „Herrje, meine Knie“, stöhnt. Die Wange in speckige Baumwolle gedrückt, kriecht Terpentindunst in meine Nase. Erst letzte Woche hat er die Holzplanken lackiert. Opa streckt die Glieder, zerrt an dem Blaumann, der um die Hüften schlottert.

„Lola, lass uns Flipper spielen.“, sagt er.

Mein Herz probt einen Toeloopsprung. „Flipper, der kluge Delfin“, singe ich sein Lied. „Pass auf. Ich bin Flipper und trage dich übers Meer. Aber du musst dich an meiner Flosse festhalten. Sonst schießt aus der Tiefe ein hungriger Hai. Der reißt dich entzwei.“ Und während ich an seinen Lippen festhänge, wächst – ich schwöre es bei meinem Teddybär – eine Flosse aus seinem Bauch. Ragt empor wie ein Mast, umhüllt von blauen Segeln. „Jetzt. Greif zu!“, seine Stimme hört sich plötzlich so komisch an, „Fester!“ Und als meine Hand die zuckende Flosse umklammert, fühlt sie sich klebrig an. Ein röhrendes Brüllen bricht aus Opas Kehle. Und bevor die Welt in ein Puzzle zerfällt, sprießen Löwenzottel aus dem kahlen Schädel.

 

Der Boden bebt unter meinen Füßen. Ich stemme sie in den Kies vor Opas Grab.  Plötzlich. Ein albernes Keckern tönt dumpf aus der Tiefe … Silbenfragmente, die sich verbinden … Erinnerungshürden überwinden

 

Und der Hai-fisch, der hat Zäh-ne …

 

Warum habe ich nur diese Urne besorgt?

Scharf wühlt ein Schmerz in den Kloaken der Seele.

Eine Harpune. Genau! Die hätte ich kaufen sollen.

 

 

Anmerkung:

 

Ein Licitar ist ein Lebkuchenherz aus Kroatien

 

Als Yugo wird ein ehemals jugoslawischer Kleinstwagen bezeichnet

 

 

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