Von Jule Detmers

Martha hatte seit Jahren nicht gebetet, doch jetzt schien es ihr an der Zeit, wieder damit anzufangen. Etwas stimmte nicht, sie konnte es in ihren Adern spüren. Martha tat sich bisher immer schwer damit, an die “besondere Verbindung” zu glauben, die man Zwillingen nachsagte. Doch dann war da dieses Bauchgefühl. Es hatte wieder angefangen, sie hatte wieder angefangen. Charlotte nahm wieder Medikamente. Ihr erschien plötzlich alles ganz klar und sie hatte das starke Gefühl, dass es bald zu spät sein würde, um ihr noch zu helfen.

Das Gebet fühlte sich für Martha komisch und ungewohnt an und sie glaubte eigentlich nicht daran, dass Gott sie erhören würde. Aber sie musste es versuchen, musste etwas versuchen und für alles andere war sie im Augenblick selbst zu verwirrt.

Es dauerte einen viel zu langen Moment, bis Roman die Tür öffnete. Ungeduldig zupfte sie an ihrem Lederarmband. Er begrüßte sie mit seinem üblichen Therapeuten-Lächeln. “Martha, komm doch rein.” Sie erwiderte das Lächeln und trat an ihm vorbei in den Flur. “Entschuldige, so früh haben wir gar nicht mit dir gerechnet.” Obwohl er es nicht wie einen Vorwurf klingen ließ, fühlte sich Martha angegriffen. 

“Soll ich später wiederkommen?” Sie schaute auf ihre Armbanduhr und schämte sich plötzlich ein bisschen. Sie war eine gute halbe Stunde zu früh. 

In ihrem Kopf rollte ein Gedanke heran und sie konnte ihn nicht mehr aufhalten. Vielleicht störte sie.  “Ach Quatsch, wenn du willst, kannst du uns helfen.” Kurzerhand schob er sie in die Küche. Jetzt war es ihr unangenehm, überhaupt darüber nachgedacht zu haben. Sie wusste selbst, dass sie sich schnell in die Dinge hineinsteigern konnte, doch meistens erkannte sie es erst im Nachhinein. 

Die Küche war ein großer heller Raum mit einem bunt gesprenkelten schwarzen PVC-Boden. Martha war sich bis heute nicht sicher, ob die vielen bunten Flecken gewollt waren oder ob man beim Streichen einfach keine Lust gehabt hatte, ihn abzudecken. Charlotte kam gerade mit einer Tischdecke im Arm aus dem Wohnzimmer, als Roman und Martha die Küche betraten.

 “Hey, schön dich zu sehen!” Sie sah ehrlich erfreut aus und der letzte Rest von Marthas anfänglichen Zweifeln war verflogen, als ihre Schwester sie in den Arm nahm. 

“Danke für die Einladung.”, erwiderte sie zufrieden. Erst als sie sich von ihr löste, bemerkte sie die Augenringe. Blass sah sie auch aus. Wie schon bei Marthas letztem Besuch, als sie sie schlafend auf dem Küchentisch vorgefunden hatte, die aufgeschlagene Zeitung noch in den Händen. Martha wandte den Blick ab. 

Es war untertrieben zu sagen, dass sie sich um ihre Schwester sorgte. Sie hatte Angst um sie. Echte, unverfälschte Angst, den einzigen Menschen zu verlieren, der ihr in dieser Welt noch Halt geben konnte. Charlotte war immer stark, wenn Martha es nicht war. Fast glaubte sie zu wissen, dass sie damals mehr unter Lotties Sucht gelitten hatte als Charlotte selbst. Es war ein schrecklicher und eigensinniger Gedanke, doch Martha konnte ihn nicht abschalten. 

“Hilfst du mir mit der Tischdecke?” Martha nickte und nahm das schwere Stück Stoff entgegen. Zusammen breiteten sie sie über dem merkwürdig geformten Küchentisch aus. Das Haus erinnerte Martha stark an das ihrer Eltern. Manchmal vergaß sie kurz, dass sie jetzt erwachsen war und in einer Zweizimmerwohnung lebte. Aber vor allem vergaß sie dann, wie alleine sie jetzt war. Hier fand sie Trost. Vielleicht besuchte sie Charlotte deshalb so oft. Sie war so häufig hier, dass sie das Mobiliar im Gästezimmer selbst hatte aussuchen dürfen und den Tisch decken konnte ohne nachfragen zu müssen, wo sich das Geschirr befand. 

Nachdem der Tisch gedeckt war, fiel Martha wieder die Flasche Rotwein ein, die sie von ihrer Italienreise mitgebracht hatte. Gerade wollte sie ankündigen, sie holen zu gehen, als Lottie mit einem Satz aufsprang und mit einer genuschelten Entschuldigung die Küche verließ. 

“Ihr war schon den ganzen Abend so übel.”, erklärte Roman, klang dabei aber selbst etwas ratlos. Martha nickte nur abwesend. 

Sie war mit ihren Gedanken schon einige Schritte weiter, wollte ihren Verdacht aber lieber erst äußern, wenn sie sich das nächste Mal auf neutralem Boden trafen. Charlotte war in letzter Zeit genau wie damals ziemlich reizbar gewesen und das galt besonders der übermäßigen Sorge ihrer Zwillingsschwester. Vor etwa zwei Wochen hatte sie Martha plötzlich aus dem Haus geworfen, nachdem diese ihre nicht ganz positive Meinung zu den neuen Schlafzimmertapeten geäußert hatte.

 “Ich hole mal den Wein aus dem Auto”, sagte sie schließlich, schnappte sich den Haustürschlüssel und ließ Roman in der Küche allein. Erst beim Auto fiel ihr ein, dass die Flasche nicht dort war, sondern in ihrer Wohnung. 

“So ein Mist.” Schimpfend machte sie die Beifahrertür wieder zu und ging zurück ins Haus. 

Als sie den Flur betrat, hörte sie Stimmen aus der Küche. Martha wollte nicht lauschen. Sie wollte vom Flur aus in die Vorratskammer gehen und dort eine gute Flasche Wein aussuchen. Aber manchmal taten Leute nicht das, was sie wollten und manchmal wollten Leute nicht das tun, was sie unvermeidbar tun mussten. Unvermeidbar wurde es für Martha erst, als sie nah genug kam, um einen herausstechenden Satz zu verstehen: 

“Hast du sie genommen oder nicht?” 

Die Eindringlichkeit, mit der Roman sprach, verunsicherte Martha. Er wusste also auch von Lotties Rückfall. Sie wünschte sich in diesem Augenblick mehr als alles andere, durch die Wand sehen zu können, um die Reaktion ihrer Schwester zu erkennen. Hatte sie genickt? Hatte sie den Kopf geschüttelt? Die Stille war unerträglich und Martha konnte nicht mehr anders; sie schob ihren Kopf durch den Türspalt, nur so weit, dass sie gerade so erkennen konnte, was vor sich ging. Roman und Charlotte lagen sich in den Armen und Martha war sich fast sicher, dass sie beide leise weinten. 

Wie fremdgesteuert trat sie einen Schritt zurück. Jetzt gab es keinerlei Zweifel mehr. Charlotte war wieder abhängig und vielleicht war es dieses Mal noch schlimmer als das letzte Mal. 

Dieser Gedanke kam wie eine Lawine und Martha ließ sich davon begraben. Sie war sich ihres Verdachtes zu diesem Zeitpunkt schon sehr sicher gewesen, doch nun so direkt damit konfrontiert zu werden, jagte ihr eine Riesenangst ein. 

Verstört stolperte sie ins Gästebad und schloss sich ein, als ihr ein weiterer Gedanke durch den Kopf schoss. Damals war es das kleine fensterlose Badezimmer in Charlottes Studentenwohnung, in der Martha die Pillen gefunden hatte. Was, wenn sie die Medikamente dieses Mal am gleichen Ort versteckte? Sie wusste, dass diese Idee sie nicht mehr loslassen würde, bis sie nicht das ganze Bad durchsucht hatte. Sie durchwühlte zuerst den Badezimmerschrank, in dem die Handtücher waren, dann das Spiegelschränkchen über dem Waschbecken. Sie durchleuchtete mit der Taschenlampe ihres Handys jeden noch so kleinen Spalt. Marthas Verzweiflung wuchs mit jedem Zentimeter, den sie untersuchte, ohne das zu finden, wonach sie Ausschau hielt. Sie musste sie finden, musste sie in der Hand halten als einen endgültigen Beweis dafür, dass ihre Sorge um Charlotte berechtigt war.

Nach einigen Minuten gab es nur noch einen Ort, den Martha nicht durchsucht hatte. Sie ekelte sich schon davor, nur darüber nachzudenken, doch sie wusste, dass sie sich überwinden musste, um ihrer Schwester helfen zu können. Sie atmete tief ein und aus, sammelte sich und ließ ihren rechten Arm fast bis zum Ellenbogen in der Toilette verschwinden. 

Während sie das kalte Rohr von innen abtastete, musste sie die Augen schließen, so sehr ekelte sie sich. Außer der glatten Keramik konnte sie nichts ertasten und als sie ihren Arm wieder aus der Toilette zog, musste sie erkennen, dass sie keine Ahnung mehr hatte, wo sich die Pillen befinden könnten. 

Dieser Gedanke verstörte Martha so sehr, dass sie schluchzend an der Wand herabsank und in Tränen ausbrach. 

Dort saß sie nun und weinte und wusste sich nicht anders zu helfen als zu weinen. Die kalten Fliesen konnten sie nicht beruhigen und ihr fiel nur noch eine Sache ein, die sie tun konnte. 

“Bitte Gott,”, sagte sie, obwohl sie es immer für seltsam empfunden hatte, laut zu beten. “bitte mach, dass sie es noch einmal übersteht.” Martha konnte sich nicht daran erinnern, je in ihrem Leben so verzweifelt gewesen zu sein. “Mach, dass ich ihr dieses Mal helfen kann.” 

Der letzte Satz war nur noch ein Wispern, Martha fühlte sich erschlagen von den Schuldgefühlen vergangener Jahre. Sie konnte ihrer Schwester damals nicht helfen und die Angst, dass Lottie es dieses Mal vielleicht nicht ohne sie schaffen würde, nagte an Marthas Seele wie eine Horde Ratten an einem toten Körper.

Trotz ihrer Zweifel schien ihr Gebet erhört worden zu sein, denn plötzlich fiel ihr die Spitze einer weiß-blauen Schachtel auf, die aus dem Mülleimer herausragte. “Der Mülleimer!”, rief sie aus purer Verwunderung heraus. Wie konnte sie vergessen haben, den Mülleimer zu überprüfen? Sie sprang so schnell auf, dass ihr kurz schwindelig wurde, doch das hatte jetzt keinen Platz in ihrem Kopf. Viel wichtiger war die Schachtel, die sie behutsam aus dem Treteimer zog. Im gleichen Moment klopfte es an der Badezimmertür, doch auch das verschwand schnell im Nebel ihrer Entschlossenheit. 

Es klopfte erneut, dieses Mal mit mehr Nachdruck. “Martha? Ist alles in Ordnung?” Charlotte klang besorgt. Abwesend drehte Martha den Schlüssel in der Tür, noch immer auf die Schachtel starrend, ohne zu lesen, was sie beinhaltete. 

Lottie sah die Verpackung in ihrer Hand und murmelte dann: “Ich wollte es dir heute Abend sagen.”

Das brachte Martha aus der Fassung. Es machte keinen Sinn. Für eine Sekunde war sie zu irritiert, um etwas zu tun oder zu sagen, doch dann las sie endlich die Aufschrift der Schachtel 

Frühe Erkennung. Ergebnisse innerhalb von zwei Minuten, stand in großen schwarzen Lettern darauf. Etwas hinderte Martha daran, den Gedanken zuzulassen. 

Erst als sie das Wort “Schwangerschaftstest” las, begriff sie ihren Fehler. 

“Ihr bekommt ein Baby?”

 

V3