Von Ulli Lenz

Montag. Missmutig öffne ich meine Augen, greife nach meinem Handy auf dem Nachttisch und checke den Terminkalender. Videokonferenz in nicht einmal einer halben Stunde, das kommt im Morgenmantel nicht so gut. Seufzend schäle ich mich aus dem Bett und werfe noch während des Zähneputzens die Kaffeemaschine an.

 

Den ganzen Arbeitstag über haste ich von einem Termin zum nächsten – rein virtuell, ohne jemals einen Schritt aus dem Haus zu machen. Knapp vor Feierabend fühle ich mich total ausgelaugt und lechze nach etwas Bewegung und vor allem Essen.
Spontan klappe ich den Laptop zu, tausche Hemd und Jeans gegen einen Trainingsanzug und krame den Rucksack mitsamt Geldtasche, Gesichtsmaske und dem unerlässlichen Passierschein in Scheckkartenformat aus dem Vorzimmerschrank.

Als ich die Haustüre aufmache, schwappt mir laue Luft ins Gesicht und betört mich mit ihrem zarten Blütenduft. Noch mit geschlossenen Augen mache ich ein paar Schritte weiter vor das Haus, um die Sonnenstrahlen mit dem gesamten Körper einzufangen. Genießerisch strecke ich Gesicht und Hände ins Licht. Noch in der Bewegung weiß ich, dass der letzte Schritt einer zu viel war. Mit schrillem Piepen macht die Gesichtsmaske mich darauf aufmerksam, dass ich mich ungeschützt in der Öffentlichkeit befinde. Frustriert atme ich ein letztes Mal tief die angenehme Frühlingsluft ein, bevor ich mir die Plexiglaskuppel über mein Gesicht stülpe und den Gurt über den Kopf ziehe.

Der hohe Zaun zwei Straßen weiter markiert das Ende des Wohnviertels. Am Checkpoint führe ich den Passierschein am Drehtor ein. Der Bildschirm zeigt an, dass ich das Wohnviertel diese Woche nur zweimal verlassen darf. Die Bestimmungen wurden also schon wieder verschärft. Die neue Mutation des Virus wird auf Aggressionslevel 4 eingeschätzt, teilt mir der Automat mit. Frustriert schlage ich gegen den Maschendrahtzaun. Damit sinken die Chancen auf ein Realdate mit Nina gewaltig.
Nach dem Checkpoint klappe ich die Kopfhörer der Gesichtsmaske aus, suche meine Laufmusik auf dem Handy und starte die Übertragung.

Eine halbe Stunde später stehe ich vor dem Supermarkt. Schwer atmend, mehr wegen der Maske, als wegen des Sports. Ich habe Glück, kein Andrang. Kurz gebe ich mir Zeit, um zu Atem zu kommen, bevor ich meine Hände desinfiziere und einen der entkeimten Einkaufswagen nehme. Dann halte ich den Passierschein an die Schiebetür. Die erlaubte Maximalzahl an Kunden im Geschäft ist schon erreicht, aber glücklicherweise verlässt bald darauf jemand den Lebensmittelmarkt, sodass ich eingelassen werde.

Gemächlich schiebe ich den Wagen durch die Gänge und entdecke, dass mein Lieblingsmüsli nach langer Zeit wieder erhältlich ist.
„Michael?“
Obwohl die männliche Stimme durch den Gesichtsschutz dumpf klingt, erkenne ich sie sofort. Überrascht drehe ich mich um. Ich habe mich nicht getäuscht.
„Peter! Das ist ja ein schöner Zufall!“
„Du sagst es! Wohnst du hier in der Nähe? Wir sind eben erst hergezogen, wir wohnen gleich um die Ecke.“
„Ja, ich wohne ein paar Straßen runter Richtung Park. Wenn du „wir“ sagst, meinst du damit Steffi und dich? Seid ihr noch zusammen?“

Peter hat sich nicht verändert: Er sieht immer noch gleich aus wie damals, am Studienbeginn. Dieselbe sportliche Figur, die braunen Locken lose im Nacken zusammengebunden, auch wenn sich ein paar silberne Fäden hinzugeschummelt haben.

„Genau. Steffi und ich haben geheiratet. In drei Monaten bekommen wir unser erstes Kind, daher auch der Umzug zurück hierher in eine größere Wohnung.“ Peters Strahlen ist sogar durch das Plexiglas hindurch deutlich zu sehen.
„Wow, gratuliere! Du bist zu beneiden!“ Das meine ich ehrlich.
„Und du? Bist du noch mit Bettina zusammen?“, fragt Peter.
„Nein. Sie ist… Sie hat mich leider verlassen.“ Ich schlucke schwerfällig. „Seit damals bin ich mehr oder weniger allein. Ist nicht mehr so einfach, jemanden kennenzulernen heutzutage.“ Ich packe mein Müsli sorgfältiger als notwendig in den Einkaufswagen, um mir nicht anmerken zu lassen, wie sehr mich dieses Thema belastet.
„Oh Mann, das tut mir leid. Von meinem Bruder weiß ich, was für ein bürokratischer Marathon es ist, bis man ein Realdate genehmigt bekommt.“ Mitfühlend legt Peter seine Hand auf meinen Arm.

„Wenn Sie bitte Abstand halten und ihren Einkauf beschleunigen – ich muss Sie sonst bitten zu gehen!“, ertönt die scharfe Stimme eines Sicherheitsbeamten hinter uns.
Als ob er uns beim Klauen ertappt hätte, fahren wir beide auseinander, und Peter gibt vor, sich bei den Marmeladen umzusehen.

„Schon verrückt, wie wir nun leben“, sagt er dann leise. „Damals hätten wir nicht geglaubt, dass wir einmal in dieser Dystopie landen.“
In meinem Lachen klingt kein Humor mit. Auch ich wende mich wieder zum Regal und studiere die unterschiedlichen Flocken.
„Du hast recht. Wir hätten damit geprahlt, dass wir nicht dabei zusehen würden, wie ein Staat in die Anarchie rutscht und Stück für Stück die Rechte des Volkes beschneidet. Wir hätten von Demos, Aufstand und wer-weiß-was geredet und wären uns sicher gewesen, dass wir gar nicht anders als idealistisch sein könnten.“ Die Vorstellung an die unbeschwerte Zeit von damals und unseren jugendlichen Größenwahn bringt mich zum Lächeln.
Peter schmunzelt ebenfalls und greift nach einer Erdbeerkonfitüre. „Stimmt. Damals waren wir Helden!“
Grinsend sehen wir uns an.
„Aber als es dann ernst wurde, schrumpfte die Ideologie plötzlich auf die Größe eines Staubkorns und ließ sich vom erstbesten Gegenwind davontreiben“, sage ich dann etwas zu bitter.

Peter unterbricht den Augenkontakt, räuspert sich kurz und fragt: „Hast du noch deine alte Mailadresse? Ich melde mich bei dir. Es wäre schön, einen Freund hier zu haben!“
Gedanklich noch in der Vergangenheit, nicke ich. „Klar! Ich würde mich wirklich freuen, von dir zu hören!“

Ja, Peter war ein Freund. Früher. Als die Menschheit noch sich selbst bekriegt hat und nicht erfolglos gegen Viren kämpfen musste. Wehmut kriecht durch meine Brust und hinterlässt ein sehnsüchtiges Ziehen. Richtige Freundschaften habe ich schon lange keine mehr. Mit der Isolation der Bevölkerung beschränken sich echte soziale Kontakte auf die Menschen, mit denen man zusammenlebt. In meinem Fall also auf null. Klar gibt es Videochats. Aber das ist nicht so mein Ding.
Ich fühle mich als Insel. Als einsame Insel im Ozean der isolierten Eilande.

 

Noch während ich den Einkauf zu Hause verstaue, erhalte ich einen Videoanruf.
„Hi Nina, du bist ja heute früh dran! Wie geht es dir?“ Erfreut sie zu sehen, lehne ich mein Handy an die Kaffeemaschine.
„Hast du‘s schon gelesen?“, sprudelt sie ohne Begrüßung hervor. Ihre Wangen sind gerötet, im Hintergrund erkenne ich ihr Arbeitszimmer.
„Meinst du die Erhöhung der Bestimmungen auf Level 4?“, frage ich etwas verwirrt.
„Nein, die Mail! Wir haben die Genehmigung! Wenn unser Blut morgen clean ist, dürfen wir uns noch diese Woche zu einem Realdate treffen!“ Ninas Stimme überschlägt sich fast vor Aufregung.
„Im Ernst?“ Vor Überraschung lasse ich den Käse fallen. „Wahnsinn, das ist ja schnell gegangen! Ich fasse es nicht!“
„Ja, ich kann es auch kaum glauben! Hat nur schlappe drei Monate gedauert!“ Sie kichert übermütig. „Du, ich freu‘ mich so auf dich!“ Atemlos streicht sie ihren blonden Pony aus der Stirn.
In meinem Bauch kribbelt es vor Aufregung. Wie es wohl sein wird, sie endlich in den Armen zu halten?

 

Ein letztes Mal werfe ich einen Blick in den Spiegel, richte meine Haare, die so kurz sind, dass es eigentlich nichts zu richten gibt, überprüfe den Sitz des Hemdes. Im Spiegel fällt mein Blick auf Bettinas Lieblingsbild von uns beiden. Hastig greife ich danach, streiche mit dem Daumen über ihr Gesicht und packe es in eine Schublade. Dann eile ich zurück in die Küche und decke den Tisch.

Endlich steht sie vor mir. Auch wenn wir uns online oft genug gesehen haben, bin ich doch überrascht, dass sie so groß ist. Sie sieht so nervös aus, wie ich mich fühle, lacht verlegen und drückt mir eine Flasche Wein in die Hand.
Eine blumige Wolke hüllt mich ein, als sie mich unbeholfen umarmt. Ich schließe die Augen und halte sie für eine Weile fest. Ganz schön merkwürdig, jemand so gut zu kennen, und noch nie umarmt, ja noch nicht einmal berührt zu haben. Sie fühlt sich warm und knochig an, erinnert mich seltsamerweise an meine längst verstorbene Tante.

Drei Stunden später liegen wir Arm in Arm in meinem Bett, völlig verschwitzt. Der Sex war befriedigend, aber wenn man zwei sexuell ausgehungerte Menschen aufeinander loslässt, ist das vermutlich keine große Überraschung.
Davon geträumt habe ich schon lange, mehr noch habe ich mich jedoch nach menschlicher Nähe gesehnt. Eigentlich sollte ich glücklich sein, statt dessen stört mich der Duft des süßlichen Parfums. Ihr stechender Schweißgeruch stößt mich sogar ab. Verzweifelt klammere ich mich an sie. Doch auch damit kann ich keine Anziehung heraufbeschwören. Im Gegenteil.
Tränen steigen mir in die Augen.

Zum Abschied umarmen wir uns noch einmal, und sie drückt mir vorsichtig einen freundschaftlichen Kuss auf die Lippen. Die Enttäuschung lastet schwer auf uns beiden, aber immerhin sind wir uns einig: Wir gehören nicht zusammen.

 

Wieder ein halbes Jahr vergeudet.
Lange noch liege ich wach und wälze Wiesos und Warums und Vielleichts.
Denke daran, wie einfach es war, Bettina kennenzulernen. Damals, in der Disco. Zwei Menschen unter vielen.

Wenn bloß niemals jemand auf die Idee gekommen wäre, einen Virus als Waffe zu kreieren.

Wenn zumindest irgendjemand in Erwägung gezogen hätte, dass der dazu entwickelte Impfstoff als Sicherheit nicht ausreichen könnte, weil das Rennen Virusmutation versus Schutzimpfung immer vom Virus gewonnen wird.

Wenn es doch beim ersten großen Ausbruch wenigstens nicht Bettina getroffen hätte, sondern mich. Dann könnte sie jetzt noch leben, und ihr wundervolles Lachen würde die Welt erhellen.

Aber dann wäre womöglich sie diese einsame Insel, hier inmitten des trostlosen Ozeans aus Überlebenden. Und das würde ich ihr nicht wünschen.

 

Version 3