Anne Moog

Für Martin Wolf ging ein erfolgreicher Arbeitstag zu Ende. Seine Immobiliengeschäfte liefen hervorragend. Martin freute sich auf ein gutes Abendessen und auf ein Glas Rotwein. Außer Kaffee hatte er heute fast noch nichts zu sich genommen. Während er auf einen der Aufzüge wartete, checkte er die Nachrichten seines Smartphones. Lesend betrat er den Aufzug und schreckte zurück, als er die Putzfrau mit ihrem Wagen darin entdeckte. Für einen Moment überlegte er, den nächsten Aufzug zu nehmen. Er hatte keine Lust auf Menschen, erst recht nicht auf eine Putzfrau. Aber er wollte einfach nur nach Hause. Martin nickte der Putzfrau kurz zu. Sie grüßte freundlich zurück. Während der Fahrt nach unten wurde der Aufzug plötzlich immer langsamer und kam dann irgendwo zum Stehen. Die Notrufzentrale versicherte ihnen, dass sie in der nächsten halben Stunden befreit würden. Während die Putzfrau dies mit „Mir egal, ist alles Arbeitszeit“, kommentierte und sich scheinbar gelassen ihrem Sudokuheft widmete, verspürte Martin direkt eine aufkommende Panik. Wie kann MIR nur so was passieren? Wäre ich doch nochmal auf das Klo gegangen. Hätte ich doch nicht so viel Kaffee getrunken. Ich muss Ruhe bewahren. Tief durchatmen. Für kurze Zeit gelang ihm dies, dann nahm der Druck seiner Blase wieder gewaltig zu. Ihm wurde heiß. Er hatte Schweißperlen auf der Stirn von der Anstrengung, die es ihn kostete, sämtliche Muskeln seines Unterleibs anzuspannen. 

Die Putzfrau schaute ihn fragend an. „Ist Ihnen schlecht?“

„Nein, alles okay“, antwortete er barsch. Die soll mich in Ruhe lassen. Es fiel ihm schwer zu denken, zu reden. Er war nervös und komplett auf seine prallvolle Blase konzentriert. Er blickte  wieder auf die Uhr. Wenn der Techniker Wort hält, müsste er in zehn Minuten hier sein. Aber das heißt ja nicht, dass ich auch in zehn Minuten hier raus bin. Mittlerweile hatte er heftige, wellen- und krampfartige Schmerzen im Unterleib. Außerdem war ihm übel. Martin Wolf, der millionenschwere Geschäftsmann, der skrupellose Immobilienhai, der souveräne Lebemann stand hier, in Anwesenheit einer Putzfrau, vor dem totalen Kontrollverlust. Ich habe zwei Optionen. Entweder pinkel ich mir jetzt in die Hose oder ich frage nach einem Eimer. 

„Können Sie mir bitte einen Eimer geben?“, stieß er schweratmend hervor. 

„Ah, ist Ihnen doch schlecht?“

„Nein, schlimmer, ich muss urinieren!“ 

„Sie müssen was?“

„Pinkeln. Bitte … schnell!“, rief er panisch.

Was für eine Erleichterung. Mit dem Nachlassen des Drucks in der Blase wurde ihm schlagartig die Situation bewusst. Bislang hatte sein Gehirn dafür keine Kapazität gehabt. Als er sich umdrehte, reichte ihm die Putzfrau einen Lappen, um den Eimer abzudecken. Ihr souveränes Verhalten imponierte ihm. Martin schaute sie verlegen an. In seinem Blick lag eine Mischung aus Scham und Dankbarkeit. Gefühle, die er lange Zeit nicht mehr empfunden und noch länger nicht mehr gezeigt hatte. Nachdenklich verließ er den Aufzug …